in der verschiedene Wertvorstellungen und Wertentwürfe nebeneinander bestehen. Man verständigt sich im Ernstfall auf irgendwelche freiheitlich-christlich-abendländischen Werte, ohne diese näher bestimmen zu können. Dabei hat spätestens mit der Aufklärung die Selbstverständlichkeit der Christlichkeit des Abendlandes ihr Ende erreicht. „Die Aufklärung lebt von den Überresten eines voraufklärerischen ethischen Konsenses, zu dessen Erhaltung sie nichts beitragen kann”, schreibt Manfred Kleine-Hartlage in seiner Analyse Die liberale Gesellschaft und ihr Ende.
Seit Gott für tot gilt und ausschließlich der Mensch für die Gestaltung der diesseitigen Welt zuständig ist, ist die christliche Glaubenssubstanz vor allem in Westeuropa rasant am Schwinden, und ein Tiefpunkt scheint noch nicht erreicht.
Der in das Glaubensvakuum eindringende Islam bringt keine Rückkehr zur christlichen Religiosität. Er ist allenfalls ein Weckruf. Von einer tieferen Sehnsucht nach Gott ist beim westeuropäischen Wohlstandsbürger derzeit nichts zu spüren. So haftet dem Ruf nach der Verteidigung unserer christlichen Werte immer auch etwas Hilfloses und Halbherziges an. Denn wenn wir ehrlich sind, haben wir uns an die Seichtigkeit unseres gottlosen Daseins recht gut gewöhnt und wollen darin nicht gestört sein. Manfred Kleine-Hartlage hat den Wertezerfall der liberalen Gesellschaft sehr anschaulich beschrieben:
Wer hätte sich etwa vor fünfzig Jahren vorstellen können, daß man irgendwann – und zwar mit Aussicht auf öffentliche Zustimmung! – Abtreibungen als etwas moralisch Unbedenkliches würde propagieren können, und daß die Gesellschaft sich an Abtreibungsziffern im sechsstelligen Bereich gewöhnen würde? Der Konsens, daß dies Kindstötung ist, wurde zunächst unter Berufung auf emanzipatorische Normen angefochten („Mein Bauch gehört mir“), dann die Neuregelung politisch durchgesetzt. Heute ist es so weit gekommen, daß der, der die Legitimität von Abtreibungen verneint, sich damit als „Fundamentalist“ praktisch aus der seriösen Gesellschaft ausgrenzt, obwohl seine Position noch vor gar nicht allzu langer Zeit selbstverständlicher Konsens der gesamten Gesellschaft war.
Man kann ergänzen: Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, daß Schwule mal heiraten dürfen, daß das deutsche Volk in eine multikulturelle Gesellschaft überführt werden und der Islam zu Deutschland gehören soll? Der kontinuierliche Zerfall des gesamtgesellschaftlichen Konsenses (vulgo: Leitkultur) hat nicht dazu geführt, daß man diesen Konsens wieder herbeiführen will, sondern dazu, den Zerfall des Konsenses selbst zum Konsens zu machen. Unter dem Titel: „Leitkultur? Nein danke!“ schreibt der Politikwissenschaftler Heinz Theisen im Tagesspiegel:
Die etwas hämische Frage, in welche deutsche Leitkultur sich der Einwanderer denn integrieren solle – in die der sich entblößenden Besucher einer Loveparade oder in die der frommen Teilnehmer einer Fronleichnamsprozession -, lässt sich leicht beantworten: in die Strukturen, die ihm die Wahl zwischen diesen unterschiedlichen Aktivitäten lassen, an einer oder beiden oder keiner von beiden teilzunehmen. Es ist nahezu unmöglich, eine kollektive Identität in eine andere kollektive Identität zu integrieren, etwa als Muslim sich zum Christentum zu bekehren. Dies wäre keine Integration, sondern Auflösung der alten Identität. Umso wichtiger ist es, Individuen in die Funktionssysteme zu integrieren, in denen kollektive Identitäten keine Rolle spielen.
Welche Funktionssysteme meint Professor Theisen? Er schreibt:
Eine Voraussetzung für individuelle Integration jenseits von kulturellen Identitäten ist jedoch die universelle Gültigkeit des Rechts in einem Gemeinwesen. Der freiheitliche Staat kann von Zuwanderern keine Wertebekenntnis verlangen, sondern lediglich die Befolgung seiner Gesetze. Die in der Verfassung normierten Strukturen und nicht die ihnen zugrunde liegenden Werte müssen anerkannt, es muss nur den Gesetzen gehorcht, nicht aber ihre Inhalte gut geheißen werden.
Die Problematik einer solchen Argumentation zeigt sich aktuell in einigen Richtersprüchen, die irritieren. Ein muslimischer Asylbewerber, der seine Frau brutal umgebracht hat, wird nicht etwa wegen Mordes verurteilt, sondern wegen Totschlags. Mit der Begründung, daß er die hiesigen Wertvorstellungen nicht erkannt hätte, bekommt er sozusagen einen Kulturbonus.
Individuen in Funktionssysteme integrieren? Das klingt rigide, starr, diktatorisch. Warum sollte man Gesetzen gehorchen, deren Inhalte man nicht gutheißen kann? Und warum sollte man nur die neutrale Wahl zwischen der Teilnahme an der Loveparade oder an einer Fronleichnamsprozession haben, nicht aber die Wertewahl zwischen beiden. Ein gläubiger Katholik wird die Fronleichnamsprozession als höheres Gut wählen, ein gläubiger Moslem wird weder die Loveparade noch die Fronleichnamsprozession wählen und wird, wo immer er kann, die der Verfassung zugrunde liegenden Werte, die nicht seine sind, zu ändern suchen. Bis zur Verfassungsänderung. Es ist ja auch nicht so, daß von Anbeginn der BRD Loveparade und Fronleichnamsprozession gleichberechtigt nebeneinander bestanden hätten. Vielmehr hat die Loveparade die Fronleichnamsprozession „ersetzt“, so wie das „Love together“ nach den Anschlägen in Stockholm und Manchester das Requiem abgelöst hat. Auch ohne das Einströmen islamischer Parallelkulturen hat ein Wertewandel stattgefunden.
Die türkischen Migrantenverbände haben den argumentativen Schwachpunkt von einer „individuellen Integration in Funktionssysteme“ sofort erkannt. So wertet der vertrauenserweckend ausschauende Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinschaft in Deutschland (TGD), Gökay Sofuoglu, die Debatte über eine deutsche Leitkultur als Angriff auf alle Einwanderer. Und fordert statt einer Leitkultur ein „Einwanderungs- und Partizipationsgesetz“.
Vielfalt soll gelebt und Deutschland gemeinsam gestaltet werden. Damit treten verschiedene kollektive Identitäten in einen Wertewettstreit. Es geht gerade nicht um eine individuelle Wahl zwischen Loveparade, Fronleichnamsprozession oder Ramadan als Kulturwerte, die gleich-gültig nebeneinander bestehen. Kollektive, Verbände, Interessengruppen streiten um ihre Werte und deren Rangfolge. Natürlich wird der Islam seine Werte über die anderen stellen. In Rückwendung auf Manfred Kleine-Hartlage kann man in 20 Jahren sagen: Wer hätte gedacht, daß der Islam die stärkste Religion in Berlin ist. Und daß es kaum noch Christen in Berlin gibt, die ihren Glauben verteidigen. Die Frage, ob Loveparade oder Fronleichnamsprozession, hat sich damit erledigt.
Woher rührt das Selbstbewußtsein islamischer Funktionäre, Verbände und Einzelpersonen, ihre Kultur und Werte aktiv einzubringen und gegen die (noch) bestehende liberale Mehrheitskultur durchzusetzen? Die Stärke des Islam beruht, folgt man Kleine-Hartlage, auf der Ebene der Metarationalität. Als metarational bezeichnet Kleine-Hartlage
Ideen, deren Bejahung – unabhängig von ihrer eigenen inneren Rationalität – eine rational nachvollziehbare soziale Funktion haben. Sie können, sogar wenn sich selbst im Einzelfall unzutreffend sind, eine rationale, aufgeklärte Gesellschaft, ja die Aufklärung selbst widerlegen, nicht indem sie mit im aufgeklärten Sinne besseren Argumenten aufwarten, sondern indem sie die Gesellschaft, die das Konzept der Metarationaliät nicht akzeptiert, einfach verdrängen.
Weiter heißt es: „Das soziale System „Islam“ versetzt, indem es einige einfache Regeln und „Wahrheiten“ mit der Autorität Allahs sozial verbindlich macht, moslemische Gesellschaften in die Lage, nichtmoslemische zu verdrängen und schließlich auszulöschen.“ Das bedeutet, daß ein Islam, der nicht durch die Aufklärung gegangen ist, im Wettstreit mit einer liberalen, aufgeklärten Gesellschaft immer im Vorteil sein wird. Ein Islam, der durch die Aufklärung (im europäischen Sinne) geht, wird vermutlich kein Islam mehr sein. Es sieht derzeit nicht so aus, als ob es einen Euro-Islam geben könnte (Bassam Tibi). Die liberale Gesellschaft wiederum kann das Konzept der Metarationalität nicht akzeptieren, weil es kein Zurück hinter die Aufklärung gibt. Wir befinden uns in einem Dilemma. Was tun?
In dem Maße, wie der Islam in Europa sich einer Aufklärung verweigert, müßte die liberale Gesellschaft sich auf die kollektiven Werte besinnen, die ihr zugrunde liegen. Anders ausgedrückt: Je weniger eine individuelle Integration jenseits von kulturellen Identitäten gelingt (und die massenhafte Einwanderung kulturfremder Menschen führt vermehrt zu Parallelgesellschaften), desto mehr spielen kollektive Identitäten des „Einwanderungslandes“ ein Rolle. Da aber eine deutsche Leitkultur abgelehnt wird, ja gar ein ganzes Kulturvolk dekonstruiert wird, scheint jeglicher kollektive Konsens entschwunden zu sein. Es kommt zu massiven Auflösungserscheinungen. Manfred Kleine-Hartlage beschreibt die Lage so:
Andere Völker, andere Gemeinschaften, die die dekadente Mode der „Dekonstruktion“ nicht mitmachen und die an ihrer eigenen Existenz schon deshalb keinen Zweifel hegen, weil sie zum Beispiel daran glauben, daß sie als Gemeinschaften von Allah selbst gestiftet wurden, werden weiterexistieren und uns mitsamt unserer Aufklärung und unseren Dekonstrukteuren auf den Müllhaufen der Geschichte befördern.
Gerade als Christ kann man sich mit dem Untergang des Abendlandes ja nicht so einfach abfinden. Und man kann die Frage stellen: Wird es Europa, wird es Deutschland je wieder möglich sein, zu einem Wertekonsens zu finden, aus dem eine kraftvolle kulturelle Stärke erwachsen kann? Und wie könnte ein solcher Wertekonsens überhaupt aussehen?
Auf die Frage „Kann nur ein Gott uns retten?“ müßte ganz klar und deutlich die Antwort kommen: Ja, nur ein Gott kann uns retten. Und dies ist der christliche, der dreifaltige Gott. Das kommt einem natürlich nicht so locker über die Lippen wie dem Moslem sein Bekenntnis zu Allah. Behelfen wir uns mit einem Trick: In London gab es im Oktober 2008 die sogenannte Atheist Bus Campaign, die auch von Richard Dawkins unterstützt wurde. Busse fuhren durch London mit der Aufschrift: „There’s probably no god. Now stop worrying and enjoy your life.“
So kann man in Umkehrung und Abwandlung sagen: Es gibt vielleicht einen Gott. Nun hör auf, dir Sorgen zu machen und lebe dein Leben in Verantwortung. Und aus dem Vielleicht kann eine Gewißheit werden. Denn es können Zeiten kommen, in der die (noch) erträgliche Seichtigkeit des Scheins zur tiefen Sehnsucht nach der göttlichen Wahrheit und Wirklichkeit wird.
Der Gehenkte
Es ist bezeichnend, daß dieser Beitrag sich mit der Neuerscheinung Sloterdijks kreuzt - nebenbei: Sloterdijk wird Montag 70 Jahre, das Symposion dazu kann man hier https://zkm.de/en/livestream verfolgen; gestern nutzte Norbert Bolz die Laudatio zu einer Fundamentalabrechnung mit Polit- und Mediensphäre ...
Zurück zum Text! Sloterdijks Buch heißt "Nach Gott". Und das ist die Lage, ob man das nun will oder glaubt oder nicht. Es käme darauf an, die Situation zu erfassen, anstatt Rückrufaktionen zu starten, die an den "gesellschaftlichen Bedingungen", mit Verlaub, scheitern müssen.
Der Tod Gottes, der Verlust des Glaubens steht im Zentrum unserer Existenzkrise, keine Frage, aber wir werden sie nur überstehen, wenn wir lernen, uns nicht weiterhin auf Gott zu verlassen. Man kann etwas Entzaubertes nicht wiederverzaubern: Eli, Eli, lama asabtani!
Was natürlich nicht bedeutet, daß der je einzelne diese Folklore für sich nicht pflegen und seinen Psychohaushalt damit stabilisieren kann.
Diese ominöse "Aufklärung" im Islam wird es zudem nicht geben. Es liegt hier ein Mißverständnis vor: Das Christentum ist nicht durch die Aufklärung gegangen, wie durch ein Bad, sondern das Christentum ist Aufklärung; die historische Etappe der Aufklärung ist eine historische Etappe des Christentums. Die Aufklärung beginnt mit dem Gründungsdokument und hat ihre Wurzel in den Paradoxien des Christlichen: Trinität, Gottessohnschaft, Auferstehung, Transsubstantiation, Omnipotenz, Einsetzung Petri etc.
Aus diesen unlösbaren Fragen mußte die Theologie entstehen, diese wiederum ist ein erstes Eingeständnis und die Bearbeitung des Zweifels, der früher oder später, gesetzmäßig nahezu, wenn die materiellen Bedingungen es erfordern, zur "Aufklärung", also zum sich-über-sich-selbst-Bewußtwerden und zum sich-selbst-im-historischen-Kontext-verorten etc., führen muß! Muß!
Sloterdijk: "Von den Theologen ist heute nur wenigen bewußt, was sie anrichteten, als sie den Einen auf Kosten der Vielen überhöhten. Mit ihrer fatalen Unterscheidung von Gott und Götzen lösten sie eine theodizale Epidemie aus, die noch immer nicht ausgeklungen ist."
Weder der Islam, noch der Buddhismus und Hinduismus, noch das Judentum - die Haskala ist ebenso ein afterchristliches Phänomen wie die hinduistische Inklusivismus-Debatte - kennen eine Aufklärung, sie ist genuin christlich. Die islamischen Schismen haben sich anhand von Machtfragen (Nachfolge) entfaltet, die christlichen an theologischen Differenzen.
Mohammeds Genialität liegt in der (möglicherweisen unreflektierten, intuitiven) Einsicht, daß ein langfristig überlebensfähiger Glaube vollkommen exklusiv sein und das Auftreten einer Theologie verhindert werden muß. Daher wurde dort lediglich die Hagiographie (Hadithe) und die Rechtsprechung entwickelt.
Das spirituelle Bedürfnis wurde - auch hier muß man Sloterdijk folgen ("Du mußt dein Leben ändern" u.a.) - in Übungen aufgelöst: Es gibt keine Religionen, „es gibt nur mehr oder weniger ausbreitungsfähige oder mehr oder weniger ausbreitungswürdige Übungssysteme.“
Eine der intensivsten und wirkmächtigsten Übungen dauert vier Wochen und ist unter dem Namen "Ramadan" bekannt: siehe auch: Ramadan als Wehrübung
"Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen."