Warum war ein solches Befördern des Verfalls überhaupt möglich?
Vor allem im Westen fielen elterliche und staatliche Autorität seit den 1960er Jahren im epidemischen Ausmaß zunächst der Mißachtung, alsbald dann der Verachtung und der Lächerlichkeit anheim. Der Staat verlor seine umfassende Weisungsbefugnis, wurde zum Dienstleister.
Das lag nicht allein daran, daß staatliche Autorität sich im großen Stil schuldiggemacht hatte und weiterhin schuldig machte (auf Auschwitz, Hiroshima und Vietnam folgten später dann die globale Umweltzerstörung und das Elend in der Dritten Welt).
Das allein hätte wahrscheinlich ebensowenig zu dieser Erschütterung in den Grundfesten gereicht, wie die von der Frankfurter Schule seit den 1930er Jahren entwickelten Analysen des autoritären Charakters jemals über enge Intellektuellenzirkel hinaus eine Wirkung hätten entfalten können. Nimmt man jedoch beides zusammen, ergibt sich eine Gemengelage von hoher Dynamik und Sprengkraft: die moralische Schuld von Staaten einerseits und der diese Schuld speisende autoritäre Charakter des Individuums andererseits ergeben einen durchsetzungsstarken Argumentationsautomatismus.
Wenn Konformität, Destruktivität, extremer Gehorsam und Ablehnung alles Fremden im Individuum die schuldhaften Vergehen der staatlichen Autorität erst möglich machen, folgt hieraus mit (weniger logischer als vor allem moralischer) Notwendigkeit die Forderung nach einer Zerstörung der staatlichen Autorität und zugleich nach einer radikalen Befreiung des Individuums.
Diese doppelte Befreiung von der herrschenden Moral, die einem lustbetonten Erleben und Entdecken breitesten Raum bot, wurde im Westen und vor allem in der westlichen Jugend mit hemmungs- wie zeitweise besinnungsloser Begeisterung aufgenommen.
Die Konsumindustrie griff den absatzfördernden Trend zur individuellen Befreiung schnell und konsequent auf und verhalf ihm mittels der Lifestyle-Vorgaben der Werbung zur Durchsetzung auch in der eigentlich unpolitischen, aber für Sex und Genuß aufgeschlossenen Masse der Normalverbraucher.
Das Antiautoritäre wurde zum Lebensgefühl einer ganzen Generation. Zuletzt, seit den 1990ern, erfaßte es sogar jene ursprünglich bürgerlich-konservativen Kreise, denen der antiautoritäre Kampf eigentlich gegolten hatte. Sie konnten und mochten dem antiautoritären Sog nicht länger widerstehen, sondern warfen sich geradezu lustvoll in den Strom der Zerstörung.
Zu ihrer späten, nachträglich an den Bug gezimmerten Galionsfigur wurde Merkel, die zwar stets nach Anerkennung ihrer Autorität strebte, aber durch den ihr eigenen Mangel an Substanz und Haltung in einer seltsam konturlosen Formlosigkeit zu verharren verurteilt war. Ihre Macht ist bis heute eine rein funktionsgebundene geblieben und gründet nicht auf Persönlichkeit.
Die konservative Unfähigkeit oder auch der Unwillen zum Widerstand lag an der metaphysischen Komponente des Geschehens, die sich in Nietzsches Wort „Gott ist tot“ zusammenfassen läßt – der Glaube an eine übergeordnete Instanz wird nicht mehr als verbindlich erlebt, der Mensch ist also mit sich allein und niemandem Rechenschaft schuldig.
Ernst Jünger konstatierte im Vorwort zu den Strahlungen nüchtern: „Der konservative Anspruch, sei es in der Kunst, der Politik, der Religion, stellt Wechsel auf nicht mehr vorhandene Guthaben aus.“ Der konservative Anspruch geriet vor allem zum mehr oder minder frommen Selbstbetrug. Irgendwann wurde es auch den letzten Autoritätsgläubigen leicht, sich von den Resten des autoritären Konformitätsdrucks zu befreien.
So wurde rasch Raum geschaffen für den Durchmarsch der Antiautoritären – nichts konnte sich dem entgegenstemmen. Genauer: fast nichts, außer einem gern übersehenen inneren Widerspruch, einer Sollbruchstelle, einer Art geplanter Obsoleszenz. Denn die antiautoritäre Ideologie eignet sich kaum dazu, selbst zur Autorität zu werden.
Doch genau dieser Anspruch soll heute endlich eingelöst werden: Die linksliberale Weltanschauung ist als alle Parteigrenzen sprengender Gefühlstotalitarismus an die Macht gelangt und längst bis ins ehemals konservative Lager vorgestoßen, stellt neben der moralischen auch die staatliche Autorität und möchte diese gegenüber ihren Gegnern endgültig durchsetzen – ein staatlich betreutes Denken von höchst autoritärem und repressivem Charakter tritt an die Stelle des früher vorgetragenen umfassenden Liberalitätsanspruchs. Die attraktive Verführerin von einst gerät zur kreischenden, häßlichen Furie, die jede Lust verteufelt. So wird Freiheit im Machtbereich der ehedem Antiautoritären zur Farce.
Doch dagegen regt sich seit einiger Zeit Widerstand. Nun beginnt die Verachtung sich gegen jene zu richten, die einst zur Verachtung der Autoritäten aufgerufen hatten und jetzt für sich selbst Autorität beanspruchen möchten. Doch warum sollte man Autorität plötzlich wieder ernst nehmen? Dem linksliberalen Belehrer wird keine Glaubwürdigkeit, keine Autorität zugestanden – selbst dann nicht, wenn linksliberale Moral, an die Macht gelangt, plötzlich in harten, repressiven Moralismus umschlägt.
Die linksliberalen Moralapostel sehen es mit fassungslosem Entsetzen. Nicht, daß sie plötzlich die Macht verloren hätten und über Nacht ungefährlich geworden wären. Aber die Macht beginnt doch, ihnen zu entgleiten, unaufhaltsam. Die Deutungshoheit ging längst verloren, Politiker und die ihnen hörigen Journalisten werden immer weniger ernst genommen, ihre Betrugsmanöver werden im Nu enttarnt, Lebenslügen zerschellen an der Wirklichkeit.
Die Achtung vor Politikern der herrschenden Couleur schließlich ist längst unterhalb des Niveaus der Achtung vor Werbefachleuten und Versicherungsvertretern angelangt. Die Revolution schickt sich an, ihre Kinder zu fressen. Doch wie geht es weiter? Verbleiben wir in der autoritätsbefreiten Zone oder gibt es neue Autoritäten? Woher würde sich deren Glaubwürdigkeit speisen können?
Neben der angemaßten Autorität der ehemals Antiautoritären gibt es eine natürliche Autorität. Im Spiel der Kinder etwa ist schnell klar, wer der geborene Anführer ist, wer den Ton angibt. In überschaubaren Strukturen funktioniert das auch in der Welt der Erwachsenen – etwa im Mannschaftssport oder in musikalischen Ensembles.
Doch ist das auch auf übergeordneter politischer Ebene möglich, zumal heute? Das Führerprinzip als Herrschaftsform hat sich zumindest in Deutschland bis auf weiteres erledigt. An einen Militärputsch, sofern er als reine Übergangsoption überhaupt wünschenswert wäre, dürfte nicht einmal ansatzweise zu denken sein.
Eine an den Wünschen der globalisierten Großkonzerne sich ausrichtende alibidemokratische autoritäre Herrschaft, wie sie dem amerikanischen Politologen und Philosophen Jason Brennan vorschwebt, gliche im Zustand der heutigen Welt und unter Berücksichtigung der ursächlichen Beteiligung der Wirtschaft an diesem Zustand dem Versuch, einen Weltenbrand mit Kerosin zu löschen.
Das sehnsüchtige Hoffen auf einen neuen Adel, einen kommenden Monarchen von hoher Integrität, der sich jäh einem Phönix gleich aus den säuischen Niederungen eines dekadenten Jetset-Lotterlebens erheben könnte, ist gegenstandslos.
Die Erwartung gar, daß auf Parteienebene sich eine Handvoll Geeigneter finden möge, die den Karren aus dem Dreck ziehen könnten, wäre angesichts des geistigen wie ethischen Sumpfes, in dem die parlamentarische Demokratie sich zur Gänze befindet, allenfalls infolge übermäßiger Alkoholzufuhr – also im Zustand verminderter Schuldfähigkeit – nachvollziehbar.
Kann man also, wenn keine neue, glaub- und vertrauenswürdige Autorität sich anbietet, im autoritätsbefreiten Niemandsland leben und überleben? Leben: ja, solange die äußeren Umstände nicht bedrohlich und die Existenzgrundlagen halbwegs gesichert sind – ein solches Leben kann sogar überaus angenehme Seiten haben. Überleben: nein, sobald die äußeren Umstände die Existenzgrundlagen bedrohen.
Bleibt also die Hoffnung, daß sich in den Wirbeln des Chaos eine neue Autorität formiert, sich in höchster Not das Rettende findet. Mir kommt, denke ich über diese Dinge nach, der Kapitän MacWhirr aus Joseph Conrads großartige Erzählung „Taifun“ in den Sinn – ein durchschnittlich wirkender Mann, dessen Stärke sich unter höchster Gefahr überhaupt erst zu formen beginnt.
Der mörderische Taifun und eine parallel auftretende, durch sich bekämpfende Passagiere unter Deck ausgelöste Gefahrenlage entfesseln in MacWhirr ungeahnte innere Kräfte und eine unglaubliche Ruhe, läßt beide unter dem Eindruck der existenziellen Bedrohung allererst hervortreten.
Das Wort Autorität leitet sich wie die Autorschaft aus auctoritas ab. Auctoritas bedeutet Würde, Glaubwürdigkeit, Gültigkeit. Als Ableitung aus auctor meint es aber den Urheber.
Der Urheber im eigentlichen Sinne ist derjenige, der etwas aus sich selbst hervorbringt, zu einer schöpferischen Leistung imstande ist. Das ist der volle Sinn von Autorität. Wo keine Urheberschaft im Sinne des schöpferischen Hervorbringens aus sich selbst möglich ist, dort darf man auch keine echte Autorität erwarten. An der Fähigkeit zu einem solchen wesentlichen Hervorbringen sollten künftig sich anbietende Autoritäten gemessen werden.
Der_Jürgen
Eine präzise, sehr sauber formulierte Diagnose. Und wo bleibt das Rezept zur Heilung der Krankheit? Lutz Meyer weiss keines. Niemand von uns weiss eines, das angesichts der heutigen Realitäten eine Chance auf Anwendung besässe. Ja, ein Militärputsch wäre, wenn auch nur als Zwischenlösung, in höchstem Grade wünschenswert, doch wie Meyer nüchtern festhält, wird ein solcher nicht stattfinden. Erstens würden sich zu einem solchen keine Offiziere finden, und zweitens würde er unweigerlich eine ausländische, sprich amerikanische, Intervention auslösen.
Wir alle wissen und spüren, dass die heutige Lage unerträglich ist und eine Fortführung der gegenwärtigen Politik den Volkstod zur Folge haben wird. Die meisten von uns sind sich bewusst, dass Wahlen nichts Entscheidendes ändern. Vielleicht kann man wirklich nur auf eine grosse Katharsis in Form einer Katastrophe hoffen, nach der nichts mehr so sein wird, wie es heute ist.