Zunächst ein paar Fakten zur Einordnung: Katalonien ist eine der 17 autonomen Gemeinschaften Spaniens, und zwar die wirtschaftlich stärkste und die allgemein wohl bekannteste bis beliebteste – die katalanische Metropole Barcelona darf als Sehnsuchtsort der europäischen Jugend gelten, der FC Barcelona scheint nicht nur für zahllose Katalanen “mehr als nur ein Club” zu sein.
Cataluña (katalanisch: Catalunya) ist aber nicht nur Barcelona und seine prosperierende Umgebung, sondern umfaßt im Selbstverständnis einiger Unabhängigkeitsbefürworter auch Gebiete, die nicht zur Autonomen Gemeinschaft (für den Einstieg hier: vergleichbar ungefähr dem Bundesland in der BRD) zählen wie Valencia oder die Balearen (z. B. Mallorca), wo – wie auch in Andorra oder um Perpignan in Südfrankreich – katalanisch gesprochen wird. Katalanisch ist kein Dialekt des Spanischen, sondern eine eigenständige romanische Sprache mit eigenen grammatikalischen Regeln und diversen regionalen Dialekten; der Unterschied zwischen den standardisierten Sprachen català und español (bzw. castellano) ist dabei größer als jener zwischen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch.
Und spätestens hier beginnen die Probleme. Im Ballungsraum Barcelona, dem Motor der Unabhängigkeitsbefürworter, leben mehr als drei Millionen Menschen. Mindestens ein Viertel sind Nicht-Katalanen aus anderen Regionen Spaniens, weitere starke Gruppen kommen aus dem spanischsprachigen Ausland (v. a. Südamerika), bis zu einem Fünftel der drei Millionen gar aus dem nichtspanischen (und nichtkatalanischen) Ausland, insbesondere aus Pakistan und Nordafrika. Bei vielen Katalanen herrscht aber mehr Skepsis angesichts hispanischer Zuwanderung als vor außereuropäischem Zuwachs; die Massendemonstrationen für offene Grenzen sprechen Bände.
Die historisch-politische Entwicklung in Katalonien selbst ist seit über 300 Jahren von extremen Pendelschlägen gezeichnet. Im zurückliegenden Jahrhundert gab es zwei markante Stränge: Zunächst, unter dem reaktionären Franco-Regime, war Katalanisch verboten, wurden die katalanische Kultur und Selbstbehauptung massiv in ihrer Entfaltung behindert. Der im Stile eines autoritären Feudalherrschers auftretende generalísimo verzieh Katalonien nicht, daß es im Bürgerkrieg (1936–39) Kopf und Herz des “roten Spaniens” verkörperte. Resultat war der fortwährende Kampf gegen jedes katalanische Lebenszeichen.
Dann, nach der Diktatur, schlug das Pendel um, und dieser Pendelschlag dauert weiter an: Die Katalanisierung Kataloniens begnügt sich nicht mit den Autonomierechten, nicht damit, daß beide Sprachen gleiche Rechte erhielten und alle Einschränkungen aufgehoben wurden. Die katalanische Politik ging weiter und tilgte das Kastilische als einende Sprache der gesamten spanischen Nation; eine offensive Enthispanisierung setzte ein, die speziell in Barcelona bisweilen bizarre Blüten treibt, etwa in bezug auf Straßenumbenennungen, Diskriminierung nur spanischsprechender Katalanen (und nur spanischsprechender Zuwanderer, ob aus Sevilla oder Tétouan) wie auch der Degradierung des Spanischen/Kastilischen zur “Fremdsprache” neben Englisch oder Französisch in Lehrveranstaltungen von Bildungseinrichtungen.
Neben diesen gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen ist es besonders die wirtschaftliche Potenz Kataloniens, besonders in den industriellen und konsumgüterorientierten Sektoren, die, noch am ehesten vergleichbar der Rolle Bayerns in Deutschland, den Abspaltungsdiskurs antreibt: Die Rede ist nicht selten von der Melkkuh Katalonien, die das ferne, arme, unproduktive Spanien am Leben halten muß (– dabei wäre es interessant zu sehen, um bei der Melkkuh-Metapher zu bleiben, wohin Katalonien seine tatsächlich mannigfaltigen Milchprodukte, die in ganz Spanien in den Supermärkten ausliegen, denn zu exportieren gedenkt, wenn Restspanien die neuen Grenzen direkt schließen würde).
Es sind also, vereinfachend gesagt, zwei Haupttendenzen, die die Unabhängigkeitsbefürworter dazu treiben, das Referendum vom 1. Oktober gegen den ausdrücklichen Willen Madrids durchzuführen: die national-kulturelle und die materielle. Derzeit überlappen sich beide Tendenzen, der Eigenständigkeitsgedanke ist auf dem Höhepunkt. Von der radikalen Linken bis zur bürgerlichen Rechten Kataloniens wird er vertreten, während das Ergebnis des Referendums, so es denn überhaupt in den circa 80 Prozent der Gemeinden, die sich an ihm beteiligen wollen, durchgeführt würde, lagerübergreifend als ergebnisoffen begriffen wird. Man rechnet so oder so mit einer sehr knappen Entscheidung für oder gegen die Loslösung von Spanien; das Lager der Sezessionisten ist lediglich medial sichtbarer (weil von Studenten bzw., allgemeiner, von breiten Teilen der Jugend getragen) und auf der Straße lautstärker vertreten.
Aufgrund der ersten genannten Tendenz nun, namentlich der national-kulturellen, üben sich auch in Deutschland identitäre und konservative Akteure in virtueller Solidarität: Da sei ein Aufflackern identitätsbewußter Politik zu konstatieren, der Wille, als Katalane in einer katalanischen Nation zu leben. Oder, an anderer Stelle: Katalonien zeige Brüssel die Grenzen auf. Nun: Beides ist nur sehr eingeschränkt gültig, und vor allem die Grenzfrage fällt den rechten Freunden Kataloniens schnell auf die Füße. Denn die katalanische Unabhängigkeitsbewegung fordert Grenzen (für ein eigenständiges Katalonien) gewissermaßen nur, um sie dann wieder zu öffnen – für Migranten, die, polemisch gesprochen, am besten aber nicht aus Restspanien stammen, sondern von außerhalb.
Aber auch ersteres – der katalanische Furor als Bollwerk gegen Vereinheitlichungstendenzen aus Madrid oder gar Brüssel – führt zu Mißverständnissen. Denn dieser bisweilen artifizielle katalanische Nationalismus, wie er, in entsprechenden ideologischen Abstufungen, von der linksradikalen Candidatura d’Unitat Popular (CUP) bis zu rechtsliberalen Demokraten vertreten wird, basiert insbesondere auf dem Prinzip des Civic nationalism, wie wir ihn ähnlich auch aus Schottland kennen, d. h. vorherrschend ist ein genuin staatsbürgerliches (und dezidiert nicht-identitäres) Verständnis eines multikulturellen “Nationalismus”, den man hierzulande, unter den spezifischen Bedingungen der deutschen Situation, schlicht Verfassungspatriotismus nennen würde. In Katalonien vermengt sich dieser zeitgeistige Staatsbürgernationalismus – der kein klassischer identitätspolitischer Nationalismus sein möchte, aber bspw. sprachlichen Chauvinismus betreibt – nun mit sozialen Fragen, einer gesellschaftlich durchaus hegemonialen Refugees-Welcome-Mentalität sowie dem reüssierenden antispanischen Ressentiment, das sich aus historisch-antifaschistischen und aktuell-realpolitischen Motiven speist.
Auch die Brüssel-Kritik seitens “der” Katalanen (hier und folgend gemeint: der Befürworter der Loslösung von Spanien) wird allgemein überschätzt. Sie fordern von extrem links bis bürgerlich rechts den Verbleib eines eigenständigen Kataloniens innerhalb der Union und befürworten unisono Massenzuwanderung. Der katalanische Separatismus, wie er sich gegenwärtig artikuliert, ist, überspitzt gesagt, seiner Gesinnung nach überwiegend linksliberal; er will ein Katalonien in der EU – aber ohne den lästigen Mittler aus Madrid. (In neurechte Terminologie übersetzt: die triple appartenance aus Region, Nation und Europa wird aufgehoben; Säule 1, Katalonien, wird verabsolutiert, Säule 2, Spanien, negiert, Säule 3, Europa, als sozial und multikulturell zu gestaltendes EU-Weltbürger-Projekt uminterpretiert und daher zumindest ideell ebenfalls aufgehoben.)
Für die EU ist ein Zentralstaat Spanien, bei dem Katalonien als integraler Teil erhalten bliebe, dabei gewiß von Vorteil. Nur würde die EU nicht polizeistaatliche Maßnahmen ergreifen (lassen), um dieses katalanisches Referendum zu stoppen, weil man dann gewisse Reaktionen und Stimmungen schüren würde, die europaweit aufflackern könnten. Dementsprechend heißt es seitens der EU-Nomenklatura, man sei besorgt, aber doch nicht in Panik; man setze auf demokratische Entscheidungsprozesse. Am Ende wäre es für die EU eminent wichtig, den Standort Katalonien für diverse gesamteuropäische wirtschaftliche Interessensgruppen (Pharma & Chemie, Metall & Maschinenbau etc.) am Leben zu halten. Das geht am besten mit Spanien, aber notfalls auch ohne.
Anders gesagt: Für die EU ist das Referendum, ob es nun am 1. Oktober 2017 durchgeführt würde oder um ein, zwei Jahre verzögert werden kann, ein Präzedenzfall, aber keine Frage auf Leben und Tod: für Madrid schon. Ironischerweise aber auch für Katalonien: Denn wenn das um Katalonien erleichterte (Rest)Spanien keine Gebrauchs- und Verbrauchsgüter mehr aus Katalonien bezöge (als trotzige Reaktion), wäre Katalonien rasch gezwungen, noch stärker (und günstiger) in die Mitgliedstaaten der EU zu exportieren. Damit jedoch wäre der Aspekt des relativen Wohlstands zumindest potentiell unterminiert, mithin ausgerechnet jener Aspekt, der die Überheblichkeit vieler Katalanen gegenüber dem restlichen Spanien materiell begründet.
Ironisch scheint, daß die überwiegend links, sozial und emanzipatorisch ausgerichtete katalanische Unabhängigkeitsbewegung just auf dieses wohlstandschauvinistische Ressentiment bauen könnte, wenn es an die Urnen ginge. Die Solidarität linksorientierter Katalanen unterschiedlicher Couleur mit dem idealtypisch konstruierten Refugee wiegt offenbar stärker als jene mit dem arbeitslosen Spanier aus der Extremadura. Die spanische Nation gerät so in eine existentielle Krise. Das „lebendige Bewußtsein der Solidarität“, das, wie José Ortega y Gasset in einem aufs Neue aktuell zu lesenden Essay ausführte, „unumgänglich ist für die Gesundheit der Nation“, hat weite Teile der gesamtspanischen politischen Landschaft längst verlassen. Nach der Bewegung 15‑M (2011/12) und Podemos (2014 ff.) droht nun zum dritten Mal in sechs Jahren eine breite Protestwelle aufzukommen.
Die Zeichen stehen in diesem Sinne auf Zuspitzung der Verhältnisse, denn die Krise des politischen Systems, bereits seit 2008 in schwankendem Maße virulent, erreicht neue Ausmaße. Das neoliberale Establishment in Madrid um Volkspartei (PP) und Sozialdemokraten (PSOE) kennt als Antwort auf die katalanische Herausforderung nur Repressalien; die spanische Linke um Podemos oszilliert zwischen Protest gegen ebendiese autoritäre Ansätze und einer gesamtspanischen sozialen Ausrichtung; die kämpferische Rechte (jenseits der Mainstream-PP) ist traditionell marginalisiert und, aus externen wie internen Gründen, isoliert, versucht aber seit 2016, den antinationalen Spaltungstendenzen mittels Bündnisarbeit im Zeichen des “Respekt” (#Respeto) entgegenzuwirken (federführend in dieser antiseparatistischen Allianz sind im übrigen die identitäre Plattform für Katalonien, PxC, und der Front National-Gesprächspartner Spanien 2000, E‑2000).
Der warme katalanische Herbst – er beginnt mit vielen Sorgen.
Robert Fürstl
Interessanter Artikel - danke. Eine Korrektur ist aber angebracht: Rest-Spanien könnte die Grenzen für katalanische Produkte nicht schließen, selbst wenn es das sollte. Spanien ist - wie alle halbwegs wirtschaftlich bedeutsamen Territorien dieser Welt - Mitglied in der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation - WTO). Alle Mitgliedsländer sind - etwas vereinfacht - nach den Statuten verpflichtet, gegenüber anderen Mitgliedsländern keine Zölle zu erheben, die nicht bei Beitritt des Landes schon bestanden und auch sonst keine Behinderungen des freien Warenverkehrs (sog. nicht-tarifäre Handelshemmnisse) gegenüber anderen WTO Mitgliedern einzuführen. Bei einem Ausscheiden Kataloniens aus Gesamtspanien würden sich die Rechte und Pflichten von Spanien unter dem WTO Vertrag automatisch auf die beiden neuen Einheiten Rest-Spanien und Katalonien übertragen. Keines der beiden neuen Länder dürfte den Handel mit dem anderen Land also durch Zölle oder nicht-tarifäre Handelshemmnisse erschweren. Unterbinden dürfte es den Handel schon gar nicht. Also: Die Drohung der Spanier, sonst die Grenzen zuzumachen und so das neue Gebilde wirtschaft in die Knie zu zwingen ist ein glatter Bluff, weil evident völker(vertrags-)rechtswidrig. Mit demselben Argument wird übrigens auch in der Diskussion um den Austritt von Großbrittanien aus der EU (dann macht die EU eben die Grenzen zu ...) oder von Schottland aus der Rest-Großbrittanien argumentiert. Auch dort ist das Argument - teils bewußt, teils aus Unkenntnis der Materie - barer Unsinn.