dann erschien sein Weckruf “Wenn Flüchtlingspolitik soziale Gerechtigkeit außer Kraft setzt”, am 27. September in der Tageszeitung neues deutschland (nd). Das nd, in der DDR als ND noch offizielles Mitteilungsblatt der SED, ist von der Mutterpartei, die heute als PDL firmiert, offiziell getrennt.
2007 löste sich die GmbH der Zeitung aus der Parteiverbindung, doch gilt die Zeitung weiterhin als inoffizielles Parteiblatt, in dem sich der „gemäßigte“, die Partei dominierende und Rot-Rot-Grün anvisierende Flügel austauscht.
Im Gegensatz zur – kleineren, aber bissigeren – Konkurrenz der jungen Welt hat man allerdings nicht nur Leser verloren (die nd-Auflage liegt noch bei ca. 30.000 Exemplaren), sondern auch eine klare Linie. Die Anpassung an den linksliberalen Mainstream unter dem profillosen Chefredakteur Tom Strohschneider hat dazu geführt, daß das nd im 70. Jahr seines Erscheinens vor allem eines ist: langweilig.
Dies könnte sich zumindest temporär geändert haben. Denn Lafontaine eckt an, er stellt sich gegen die Mehrheit der Partei, im Vertrauen darauf, eine Mehrheit der Sympathisanten ansprechen zu können. Man muß bei der Linkspartei in diesem Kontext bedenken, daß weite Teile der Partei eine Politik anstreben (oder bereits praktizieren), die weite Teile der (potentiellen) Wählerschaft, besonders im Osten des Landes, nicht goutieren würden, wären ihr die partiell transatlantischen, partiell antideutschen und stets multikulturellen Ausrichtungen in extenso bekannt.
Immer wieder kommt es daher zu Mißtönen und Konflikten, Abwendungen und Friktionen. Nun kommt, stark vereinfacht gesagt, die Rolle Lafontaines und seiner Frau Sahra Wagenknecht zur Geltung: Das Paar ist bemüht volksnah, bisweilen “linkspopulistisch”, und hat wenig mit dem zu tun, was Plattformen wie das “Forum Demokratischer Sozialismus” mit der PDL im kleinen und der Bundesrepublik im großen so vor haben.
Innerhalb der Partei ist unumstritten, daß Lafontaine/Wagenknecht zu den unbeliebtesten Politikern zählen. Der Jugendverband der PDL hält es beispielsweise für angemessen, bei Reden von Wagenknecht, geschehen etwa auf dem letzten Bundesparteitag, aus Protest gegenüber der “Querfrontlerin”, welche die “Grenze-auf-für-alle-Rhetorik” der Partei negierte, nahezu geschlossen den Saal zu verlassen.
Auch zahlreiche Landtags- und Bundestagsabgeordnete akzeptieren die Rolle Wagenknechts und ihres Partners nur mit Zähneknirschen. Das liegt natürlich daran, daß Wagenknecht “im Volk” (und in den Talkshows) das populärste Gesicht der Linken ist und in dieser Funktion auch im Osten dabei ist, dem alternden Gregor Gysi seinem Rang abzulaufen. Man braucht Wagenknecht in gewissem Sinne als Stimmenfängerin, arbeitet aber gleichzeitig konstant daran, daß weder sie als Person die Partei zu sehr dominiert, noch daß ihre Inhalte innerhalb der PDL hegemonial werden könnten.
Dasselbe läßt sich im Hinblick auf Lafontaine sagen, der immerhin Pate bei der Fusion aus WASG und alter Linkspartei zur “Die Linke” stand und dessen Überzeugungen weitgehend kongruent mit Wagenknechts Standpunkten sind. Er stellt auch heute noch im Westen des Landes einen der prominenteren Linkspolitiker dar. Auch er ist, spätestens seit seiner zuwanderungskritischen “Chemnitzer Rede”, auf der Blacklist der Parteimehrheit, zugleich aber beliebt bei linken Protestwählern.
Dieser kleine Exkurs in Linkspartei-Relationen war nötig, um zu verstehen, welch potentielle Sprengkraft ein Lafontaine sein eigen nennen kann. Der Lagerkompromiß der Linkspartei bestand ja gerade im Bundestagswahlkampf 2017 darin, den Spagat aus (teils zuwanderungskritischer) Wählerschaft im Osten und (fast ausnahmslos zuwanderungsfanatischer) Funktionärskaste im Osten und Westen auszuhalten, indem man das Thema hintanstellte oder mit Floskeln das eigene Wollen verschleierte. Jetzt kommt ausgerechnet Lafontaine und schießt im nd gegen die Parteispitze und ihren Refugees-Welcome-Kurs.
Lafontaines Analyse ist überwiegend zutreffend, daran besteht kein Zweifel. Zunächst zeigt er den Lesern auf, welche Stellung die PDL bei ihrer “klassischen” Klientel gegenwärtig hat: Nur noch 11 Prozent der Arbeitslosen wählten links (AfD 22) und nur 10 Prozent der Arbeiter (AfD 21). Er deutet die Hinwendung zur rechten Konkurrenz als Signal dafür, daß die Linke das Thema der sozialen Gerechtigkeit aus den Augen verlor, konkreter: das Thema der sozialen Gerechtigkeit für die Einheimischen. Empirisch korrekt setzt Lafontaine seinen Beitrag fort:
Die Erfahrung in Europa lehrt: Wenn diese Menschen sich nicht mehr durch linke bzw. sozialdemokratische Parteien vertreten fühlen, wählen sie in zunehmendem Maße rechte Parteien.
Das ist in der Tat zutreffend, und nicht zuletzt unser südlicher Nachbar Österreich stellt dies unter Beweis, wo bereits etwa 70 Prozent der Arbeiter nicht mehr SPÖ (oder gar KPÖ) favorisieren, sondern die Freiheitlichen der FPÖ. Und auch in Frankreich, dem klassischen politischen Laboratorium (West-)Europas sieht man dahingehende Tendenzen, daß sich eine sozial aufgestellte parteipolitische Rechte erfolgreich um Mehrheiten unter Arbeitern und Arbeitssuchenden bemühen kann, während sich die Linke um urban-kosmopolitische Minderheitenthemen kümmert.
Lafontaine holt derweil aus und wirft einen Blick auf die “Neubürger”. Lediglich eine bestimmte Schicht schaffe es, “mehrere Tausend Euro aufzubringen, mit denen man Schlepper bezahlen kann, um nach Europa und vorwiegend nach Deutschland zu kommen”, während die wirklich Notleidenden in ihrer Heimat bleiben müßten:
Millionen Kriegsflüchtlinge vegetieren in den Lagern, weitere Millionen Menschen haben gar keine Chance, ihre Heimat wegen Hunger und Krankheit zu verlassen. Man hilft unstrittig viel mehr Menschen, wenn man die Milliarden, die ein Staat ausgibt, um das Schicksal der Ärmsten dieser Welt zu verbessern, dazu verwendet, das Leben in den Lagern zu erleichtern und Hunger und Krankheit in den Armutsgebieten zu bekämpfen. Und wenn man die Milliarden, die für Interventionskriege und Rüstung ausgegeben werden, ebenfalls dazu nutzt, den Ärmsten in der Welt zu helfen, dann könnte viel Gutes bewirkt werden.
Auch hier ist Lafontaine beizupflichten. Hilfe vor Ort wäre nachhaltiger und allemal menschenfreundlicher als das, was hierzulande praktiziert wird. Auch die Kritik, daß Interventionskriege und Rüstungsdeals gerade nicht den Menschen in Not helfen, sondern anderen Akteuren (Kapitalgruppen, Staaten usw.), ist unumstritten, wobei Lafontaine zu beantworten hätte, wo er in den letzten fünf, sechs Jahren nachdrücklich ein Ende der Sanktionen gegen Syrien oder ein sofortiges Ende der Kooperation mit Saudi-Arabien gefordert habe.
Jetzt jedenfalls, nicht einmal eine Woche nach der Wahl, scheint der Lagerkompromiß innerhalb der PDL aufgekündigt zu werden, denn zum einen leistet Lafontaine nun genau diese Kritik, und zum anderen bleibt er hier nicht stehen, im Gegenteil:
Die »Flüchtlingspolitik« der zu Recht abgestraften »Flüchtlings-Kanzlerin« Merkel war völlig unglaubwürdig, weil ihr angebliches Mitgefühl für die Kriegsflüchtlinge sie nicht davon abhielt, Waffen über die Golf-Emirate an die Dschihadisten zu liefern und sich an der Bombardierung Syriens, die die Menschen in die Flucht trieb, zu beteiligen.
Diese im Kern vollkommen richtigen Aussagen bergen für die PDL gewaltige Sprengkraft. Weniger, weil der sich sukzessiv durchsetzende Transatlantismus samt unvermeidlichem Bellizismus implizit gegeißelt wird. Sondern insbesondere, weil Lafontaine sowohl die Flüchtlingspolitik der Regierung als auch Kanzlerin Merkel selbst direkt angreift, die insbesondere in den hippen, großstädtischen linken Kreisen zumindest einige Sympathie dafür erhielt, die Grenzen offen zu halten.
Lafontaine abschließend:
Eine linke Partei darf bei der Hilfe für Menschen in Not das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit nicht außer Kraft setzen. Wer bei Arbeitern und Arbeitslosen so wenig Unterstützung findet (und das war 2009 noch anders!), muss endlich darüber nachdenken, woran das liegt. Da hilft auch kein Verweis auf die urbanen Schichten – zu denen meines Wissens auch Arbeiter und Arbeitslose gehören -, der merkwürdigerweise immer von denjenigen als Alibi bemüht wird, die bei ihren Wahlkampfveranstaltungen in den urbanen Zentren allenfalls bei einer Handvoll Parteimitglieder auf Resonanz stoßen.
Dieses Fazit könnte richtiger nicht sein, und doch darf man rechts entspannt bleiben. Ein Umschwenken der PDL und ihres Umfelds in diesem Sinne ist nicht zu erwarten. Lafontaine hat wenig schlagkräftige Netzwerke in der Partei; sein Kurs, der mehr Solidarität mit Einheimischen und weniger Fanatismus für den Refugee als neues revolutionäres Subjekt, als linke Heilsgestalt, impliziert, wird dementsprechend krachend scheitern.
Zum einen wird dieser Kurs scheitern, weil die Parteibasis einen flüchtlings- oder zuwanderungskritischen Kurswechsel nicht einen Schritt weit mitgehen würde. Zum anderen, weil auch die Parteispitze, die ohnehin froh ist, möglichst wenig von dem aufmüpfigen Saarländer zu hören, genau das Gegenteil im Sinne hat, was Lafontaine (und Wagenknecht) einfordern.
Es ist daher keineswegs Zufall, daß nur einen Tag nach Lafontaines Weckruf kein geringerer als Gregor Gysi mit einer Replik im nd vertreten war. Mehr als die Hälfte des Textes ist, ohne Umschweife, nichts anderes als eitles Gehabe. Lafontaine wird aufgezeigt, wie großzügig Gysi stets gewesen sei, und wie viel Geduld er bewiesen habe. Erst im letzten Drittel geht Gysi auf Lafontaines Inhalte ein:
Ist unsere Flüchtlingspolitik wirklich sozial ungerecht?
[…]
Ausdruck der extrem unterschiedlichen sozialen Entwicklungen auf den Kontinenten ist auch der zunehmende Strom an Flüchtlingen. Die Ursachen sind verschieden. Krieg erzeugt ebenso Flüchtlinge wie Hunger, Not, Leid und Umweltkatastrophen. Gerade diejenigen, die einen kleinen Besitz haben, fürchten, diesen zu verlieren und nutzen ihn, um zu fliehen. Es sind zweifellos nicht die Ärmsten, aber arm sind sie schon. Welchen Weg sollen wir beschreiten? Den der CSU? Sollten wir wirklich Obergrenzen fordern, nationalen Egoismus predigen? Wäre das linke Politik? […]
Wir müssen an der Seite der Schwachen und der Mitte in der Gesellschaft, übrigens auch in der Wirtschaft stehen. Das ist unsere Aufgabe. Die Flüchtlinge sind schwach, bei uns sogar die Schwächsten, sich gegen sie zu stellen, verriete meines Erachtens unseren sozialen und humanistischen Ansatz.
Der entscheidende Absatz ist der letzte. Er zeigt in nuce auf, wie konzept- und planlos die Grenzen-auf-für-alle-Linke angesichts der doppelten Herausforderung von Massenzuwanderung und dem Entstehen der deutschen Abstiegsgesellschaft ist. Sie verliert sich in Floskeln, die der gefühlslinken Pädagogikbachelorstudentin aus Berlin-Friedrichshain oder Leipzig-Connewitz genügen mag.
Der Arbeiter oder der Arbeitslose hingegen, der in seiner konkreten materiellen Situation nicht durch abstrakt-humanistische Theoreme, so menschelnd sie auch verkleidet werden, angezogen wird, sondern wissen will, wie ganz konkret eine Verbesserung der individuellen Lage wie jener der Gesamtgesellschaft aussehen kann – diese Person wird sich nicht damit zufrieden geben, daß er halt nicht mehr so wichtig sei für eine linke Partei, weil es jetzt angeblich noch Schwächere geben möge (die aufgrund der Grenzen-auf-Politik von Merkel, die von vielen Linken nur als Auftakt für weitere Zuwanderung gesehen wird, überhaupt erst in dieser geballten Menge auftreten konnten).
Die sozialen Anliegen der Prekarisierten, der Leih- und Zeitarbeiter, der Arbeitslosen, der Wegrationalisierten, der Überflüssigen, der latent oder offen von Abstieg und Unsicherheit bedrohten (und die Aufgezählten umfassen einen starken bis sehr starken Anteil der deutschen Gesellschaft) – sie alle können seitens des kämpferischen Konservatismus mit der AfD als Wahlpartei in seiner Mitte schadlos und ohne wirkmächtige Konkurrenz adaptiert werden, da die hiesige „verweltbürgerlichte Linke“ (Wolfgang Streeck) mit der PDL als Wahlpartei in ihrer Mitte die Stunde der sozialen Gerechtigkeit, der klaren Kante, der volksnahen Ansprache, kurz: die Stunde des Populismus, aus ideologischen wie moralischen Motiven heraus unbeachtet verstreichen läßt.
Diese Stunde ist aber schon alleine deshalb gegeben, weil sich soziale, gesellschaftliche und nationale Krisenelemente in naher Zukunft zuspitzen werden; weder die Krise des Finanzmarktkapitalismus ist überwunden, noch diejenige des Euro als Gemeinschaftswährung, noch eben die der Migration, und alleine letztere birgt für die Linkspartei schon die Gefahr einer ernsten internen Krise bishin zu Austritten und Abspaltungen.
Die Chance jeder volksnahen Politik, unterstützt durch konservative Publizistik und Denkfabriken, wächst im selben Moment, in dem die wichtigsten Akteure des medialen, politischen und wirtschaftlichen Establishments des Landes (inkl. “Volksparteien”) zur permanenten Krisenleugnung übergehen, während die Linke in der Krise erst kompliziert auszudiskutieren haben dürfte, für wen und mit wem man eigentlich soziale Politik betreiben möchte.
Doch diese Diskussion, das zeigt bereits ihr Beginn mit Lafontainte versus Gysi, wird mehr zur Spaltung der Linkspartei beitragen als zu ihrem Erstarken. Und parallel wird die weitere Forcierung der sozialen Ausrichtung der politischen Rechten dazu beitragen, daß die Linke insbesondere im Osten als vermeintlich solidarische Kraft gänzlich überflüssig wird.
Lafontaine ist von gestern, sein Bemühen um die PDL kommt zu spät.
Gerrit
Ich glaube, so viel Optimismus sei erlaubt, dass tatsächlich Teile der Linken die Falle erkannt haben, in die sie der "links-liberale" Weg geführt hat. Brandt hat die SPD zum Erfolg geführt, als er die "Arbeiter-SPD" um die "Studienräte-SPD" erweitert hat. Das Problem ist nur, dass die "Urban-Kosmopolitischen" die Arbeiter völlig verdrängt haben. Insbesondere bei den Jusos ist der Anteil bei 0, dort regiert der "No Nations/Transgender-Queer/ThirdWaveFeminism"-Wahnsinn ungehemmt. Bei den Linken dürfte es ähnlich sein. Die Geister, die ich rief. Selbst wenn schlauere Denker der Linken und vor allem der SPD die unglaublichen strategischen Möglichkeiten erkennen, die eine desaströse Jamaika-Koalition bietet, sie werden es gegen ihre radikale Jugend nicht durchsetzen können.