An schicken, holzverkleideten Apartments mit Terrassen, auf denen sich im Spätsommersonnenschein Verschleierte mit ihren Kindern tummelten. Das gab mir einen kleinen Stich, und ich dachte: „Das ist nicht gerecht“.
Ich sagte nichts zu meinem linken Beifahrer, der Weihnachten 2015 die „Geflüchteten“ in der Erstaufnahme mit Plätzchen freudig bebacken hatte. Ich mußte an die kinderreichen Familien in der Nähe meines Wohnortes denken, die seit Jahrzehnten in sogenannten Schlichtwohnungen leben, ohne Bad, ohne Dusche und ohne Balkon. Bis sich 2015 ein VOX-Fernsehteam ihrer annahm, was einigen Wirbel verursachte.
Den zweiten Linken holten wir in Offenburg am Bahnhof ab. Dort tummelten sich massenhaft junge Männer mit verschiedensten Migrationshintergründen. Die neu Dazukommenden wurden abgeklatscht. Sie fühlten sich stark in der Gruppe. Ich überlegte, wie es wohl sein würde, wenn aus dieser Gruppe plötzlich ein wütender Mob würde.
Stark fühlte sich auch unser zweiter Linker. Er schlenderte ungerührt an dieser Gruppe vorbei. Er hatte gegen den G20-Gipfel in Hamburg demonstriert, gegen die „Kapitalisten und Globalisten“. Auf der Fahrt erzählte ich ihm von dem großen Merkel-Wahlplakat, welches ein Scherzkeks mit einem Knastgitter übermalt und SCHULDIG druntergeschrieben hatte.
Der Junge lachte und sagte: „In Tübingen trägt ein Mitbewohner meiner WG ein T‑Shirt mit Boris Palmer, über diesem ein Stempel, auf dem steht: Kriminell.“ Ich sagte nichts und dachte: „Wieso soll Boris Palmer kriminell sein?“ Weil er sich zu Merkels Flüchtlingspolitik kritisch geäußert hat? Weil er in einem Gastbeitrag für den Focus eingesteht, „daß es eine rein moralische Flüchtlingspolitik nicht geben kann“, denn:
Wir können nicht allen helfen, sondern nur sehr wenigen. Unsere Freiheit und unseren Wohlstand können wir nur erhalten, wenn wir sie einer sehr großen Zahl von Menschen, die danach streben und in unser Land kommen wollen, vorenthalten. Es lohnt sich, dies auf Dauer zu ändern. Es gibt keine Entschuldigung dafür, es als gegeben hinzunehmen. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir diese elementare Ungerechtigkeit nicht schnell aus der Welt schaffen können. Das moralische Dilemma der Flüchtlingspolitik ist nicht auflösbar.
Nicht nur die Linke light kommt bei der Frage nach der sozialen Gerechtigkeit ins Schleudern, auch für die orthodoxe Linke wird die Masseneinwanderung zum Lackmustest. Oskar Lafontaine schreibt auf Facebook: „Die Linke und alle bisher im Bundestag vertretenen Parteien haben bei ihren Antworten auf die weltweite Flüchtlingsproblematik das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt.“
Der Wahlabend verlief ruhig. Kurz haben wir die Ergebnisse der einzelnen Parteien angeschaut. Es kam keine Freude bei uns Rechten auf, keine Entrüstung bei den Linken. Der Crémant d‘alsace blieb im Kühlschrank. Jegliche Diskussion vermeidend, wurde das Kaminfeuer entzündet, obwohl es gar nicht kalt war.
Der Schlagabtausch erfolgte am nächsten Tag. Man kann es nicht vermeiden. Ich meinte vorsichtig: “Na ja, den Ausgang der Wahl kann man ja auch als Chance sehen, eine in vielerlei Hinsicht verfehlte Politik, vor allem Asyl- und Migrationspolitik, zu korrigieren und zu ändern.“ Es kam zu keinem vernünftigen Gespräch. Eher zu einem emotionsgeladenen Hin und Her:
„Man kann nicht die ganze Welt retten!“ – „Aber irgendwo muß man mal anfangen!“ – „Aber warum plötzlich jetzt, warum nicht schon früher, etwa bei den Abgehängten vom Asternweg in Kaiserslautern?” – „Und warum unterschiedslos helfen und nicht speziell Frauen, Kindern oder verfolgten Christen?“ – „Es können nicht alle Menschen auf dem westeuropäischen Wohlstandslevel leben, ohne daß der Laden zusammenbricht.“ – „Dann müssen die reichen Länder eben abgeben.“ – „Und wer bestimmt, wieviel und was abgegeben wird? Und was ist mit denen, die nichts abgeben wollen? Und dienen offene Grenzen nicht zuallererst den Kapitalisten?“ Und so weiter.
Immer wieder wird der Traum der alten und neuen Linken geträumt, der Traum von einer sozial gerechten Welt, die nur der Mensch erschaffen kann und soll. Ein „Reich Gottes auf Erden“, in dem alle Menschen gleiche Chancen haben auf Wohlstand, Bildung, Selbstverwirklichung.
Der Weg dorthin ist mit Millionen Leichen gepflastert. Das wird immer wieder ausgeblendet. Denn irgendwo muß man ja anfangen. Jetzt halt mit den „Geflüchteten“. Und wenn es doch nicht so gewaltfrei voran geht, muß man eben intervenieren.
Natürlich kann man dieser idealistischen Jugend von Kleine-Hartlage Warum ich kein Linker mehr bin oder von Sieferle Das Migrationsproblem zum Lesen geben. Das habe ich auch getan. Meine Erfahrung ist diese: Die jungen Linken weisen diese Bücher eher angewidert zurück. Wie ein neugieriges, aber braves Mädel, dem die Mutter verklemmt ein Aufklärungsbuch zustecken will mit den Worten: „Du bist jetzt alt genug, lies das mal.“
Das Mädel sucht unbewußt ja das Abenteuer und will keine Moralpredigt, schon bevor es die Unschuld verloren hat. Und diese wohlstandsverwöhnte westeuropäische Jugend hat ihre Unschuld noch nicht verloren. Sie will Abenteuer, Herausforderung, keine Langeweile. Nicht umsonst ist eine Lieblingsserie dieser Generation The Walking Dead. Man träumt vom Überlebenskampf, spielt Widerstandskämpfer gegen fiktive Nazis oder kämpft gegen den bösen Staat. Alles ist besser als Langeweile.
Wie seltsam muß den jungen Männern mit Migrations- und teilweise Kriegserfahrung diese weiche, westliche, naive, hilfsbereite Jugend vorkommen. Die ersten Bücher von „Flüchtlingen“ zur linken Naivität gibt es bereits. So schreibt Kacem El Ghazzali, ein 27jähriger Marokkaner, anerkannter Flüchtling, bekennender Atheist, zur „humanitären“ Vereinnahmung durch Linke: “Wenn ein Flüchtling ihre Meinung nicht teilt, verstehen sie die Welt nicht mehr. Aber ich bin nicht so, wie sie mich haben wollen – ein Opfer, das nicht selber denkt, für nichts Verantwortung trägt und ihre Hilfe braucht.“
Nun, nach dem Schlagabtausch kam es dann immerhin noch zu einigen konstruktiven Gesprächen, gar zu Übereinstimmungen in der Analyse. Aber nicht in den Lösungsansätzen. Nation, Kultur, Tradition, das Eigene, Religion sind für die Linke light kein Thema.
Mit Linken leben heißt das neue Buch von Martin Lichtmesz und Caroline Sommerfeld. Ich lese es gerade. Aber eigentlich will ich nicht mit Linken leben. Nur mit meinen eigenen, die ich liebe. Ein paar Tage im Jahr. Und da hilft mir mal wieder die Lektüre von Josef Piepers Über die Liebe:
Liebe ist nicht dasselbe wie die unterschiedslose Billigung all dessen, was der geliebte Mensch empirisch-faktisch denkt und tut. […] Die bloße Gutherzigkeit, die alles duldet, nur nicht, daß der Geliebte leidet, hat mit wirklicher Liebe nichts zu tun. Augustinus hat das in vielerlei Variationen formuliert: “Die Liebe schlägt zu, Übelwollen redet nach dem Munde“; “der Freund gerät in Zorn und liebt, der getarnte Feind schmeichelt und haßt“. – Kein Liebender kann sich damit abfinden, daß der, den er liebt, dem Guten das Bequeme vorzieht. Wer die jungen Leute liebt, ist außerstande, die Freude zu teilen, die sie dabei zu empfinden scheinen, ihr Marschgepäck sozusagen zu erleichtern und die eiserne Ration wegzuwerfen, die sie einmal brauchen werden, wenn es kritisch wird.
Das ist tröstlich. Auch wenn wir nicht allen helfen können und irgendwo anfangen müssen. Vielleicht fängt man ja am besten bei sich selbst an.
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Nachtrag: Nach dem jährlichen Familientreffen schickte mir mein großer Linker einen Lesetipp: „Dachte vllt. interessiert dich das Thema“. Ich lese dort:
Im Rahmen der globalen Produktion ist die Kritik an den traditionellen Religionen, genau wie die Rechts-Links-Dichotomie oder der Antifaschismus in Abwesenheit von Faschismus, ein Ausdruck des Marktmonotheismus und enthüllt noch einmal die vollständige Integration der weltlichen und antifaschistischen Linken in den götzendienerischen Monotheismus des Marktes.
Wow, ich liebe solche Sätze. Dieser Mailänder Philosoph Diego Fusaro scheint mir ein interessanter Denker zu sein.
Stresemann
Es kommt durchaus Bewegung in die Parteienlandschaft nach der Bundestagswahl. Jüngst wird die AfD nicht mehr reflexhaft mit den bekannten Rubrizierungen attribuiert. Hier wird die Alternative für Deutschland schlicht als nationalkonservativ adressiert - was ja weniger pejorative Fremdbezeichnung als ggf. bereits affirmative Selbstbeschreibung der AfD sein dürfte. Die Diskurse - wie ja auch von Frau Leiser im Hinblick auf die implizit/explizit genannten anderen Parteien beschrieben - verlagern sich. Man könnte das auch bereits einen metapolitischen Umbruch nennen...