Was für ein Hurensohn muß man eigentlich sein?

Nachts im Bus. Ich bin von Freunden auf dem Rückweg nach Hause, müde. Ein junger Mann sitzt mir schräg gegenüber.

Er starrt mich inten­siv an. Mein ers­ter Ein­druck: Der sucht Streit. Blick­du­el­le mit Frem­den gehö­ren zu den scheuß­lichs­ten Kon­fron­ta­tio­nen im öffent­li­chen Raum. Die Mit­te zwi­schen Feig­heit und Eska­la­ti­on ist rasiermesserschmal.

Jetzt redet er mit sei­nem Beglei­ter. Den Fet­zen des abge­hakt geführ­ten Gesprächs (wobei fast aus­schließ­lich der jun­ge Mann spricht, in kur­zen, emo­ti­ons­ge­la­de­nen Aus­drü­cken) ent­neh­me ich, daß er mich erkannt hat.

Ich hab ihn ein paar mal im Semes­ter gese­hen und gedacht, denn kenn ich doch.

Ich mein der war da in der ers­ten Rei­he. Man kann sich ja auch in die zwei­te oder drit­te stel­len. Wenn einer in der ers­ten ist, dann will der in der Öffent­lich­keit stehen.“

Bei mir kli­ckert es lang­sam. Der spricht von der Demo, letz­ten Som­mer in Ber­lin. Kei­ne Ahnung, wie er mich von dort her erkannt hat.In der ers­ten Rei­he stand ich auch nur am Schluß, auf dem Rück­weg zum Bahn­hof. Da hat­ten die Poli­zis­ten aber gut hun­dert Meter zwi­schen uns und der Anti­fa geräumt. Ent­we­der gehör­te der Jun­ge zu den Jour­na­lis­ten, oder zu den Kra­wall­brü­dern, die am Bahn­hof noch ein­mal (beschränkt erfolg­reich) „Bul­len zu klat­schen“ versuchten.

Es gibt aber auch kaum Fotos, auf denen ich gut in der ers­ten Rei­he zu sehen bin (hat mei­ne Eitel­keit sehr ver­letzt!). Das wahr­schein­lichs­te ist aber trotz­dem, daß es tat­säch­lich (außer uns selbst) noch Leu­te gibt, die die­se gan­zen Pres­se­auf­nah­men Stück für Stück stu­die­ren. Womit ver­brin­gen eigent­lich man­che Leu­te ihre Zeit?

Doch zurück zu unse­rer Sze­ne im Bus. Ich den­ke gera­de dar­über nach, ob und was ich ihm sagen soll. Wel­che Aus­sa­ge, die man in zwei Sät­ze packen kann, wür­de er über­haupt ver­ste­hen? Der jun­ge Mann stei­gert sich wei­ter in sei­ne Erregung:

Die Iden­ti­tä­ren haben da fünf­zig­tau­send gesammelt. 

Um Flücht­lin­ge zurückzuschicken! 

Ich kann das nicht verstehen! 

Was für ein Huren­sohn muß man eigent­lich sein?

Das Aus­wär­ti­ge Amt sagt, in Liby­en herr­schen KZ-ähn­li­che Zustände. 

Und die wol­len die zurückschicken. 

Was für ein Huren­sohn muß man eigent­lich sein?

Ich ver­steh das nicht. 

Immer wenn ich dar­an den­ke wird mir so arrgh!”

Das ist der Punkt, an dem mir nichts mehr ein­fällt. Jeden­falls nichts, was den Gegen­über noch in irgend­ei­ner Wei­se als Gesprächs­part­ner respek­tie­ren wür­de. Mir wird schlag­ar­tig klar, daß die­sem Kerl alles, was ich in Jah­ren gelernt habe, unter Zuhil­fe­nah­me eines – wie ich mir gern ein­bil­de – nicht ganz uner­heb­li­chen Talen­tes zum Ver­ständ­nis poli­ti­scher Zusam­men­hän­ge, schlicht und ergrei­fend am Arsch vor­bei geht. 

Das ist etwas ande­res als die gut­mü­ti­ge Igno­ranz, die wir alle schließ­lich dort an den Tag legen, wo wir kei­ne Ahnung haben (und das ist doch fast alles). Ich traf ein­mal einen Fri­seur, der mich nach mei­nem Stu­di­en­fach frag­te. Auf die Ant­wort „Poli­tik­wis­sen­schaft“, ent­geg­ne­te er mir, davon ver­stün­de er nichts und er fän­de es sowie­so bes­ser, wenn jeder so in sei­ner „Kas­te“ blei­be. In sei­ner Stim­me war weder Selbst­de­mü­ti­gung, noch Ver­ach­tung gegen­über dem vor ihm ste­hen­den Geschwätz­wis­sen­schaft­ler. Er stell­te kaum mehr als eine Tat­sa­che fest.

Konn­te ich also ant­wor­ten? Etwa:

Spiel dich nicht so auf Milchbubi.Glaubst du ernst­haft, nie­mand von uns wür­de über sol­che Pro­ble­me nachdenken?
Also halt das Maul über Din­ge, von denen du nichts verstehst.Und neben­bei, es waren fast zwei­hun­dert­tau­send Dollar.

Bevor ich mich zu einer Abfuhr durch­ge­run­gen habe, hält der Bus. Der jun­ge Mann und sein Beglei­ter stei­gen aus. 

Ich blei­be, eini­ger­ma­ßen erschüt­tert, zurück. Es wird viel davon gespro­chen, daß wir alle mit­neh­men, das deut­sche Volk von sei­ner eth­no­ma­so­chis­ti­schen Sehn­sucht nach dem Selbst­mord hei­len sol­len. Was die­sen Kerl und wohl Mil­lio­nen ande­re anbe­langt, ist das schon zu hoch gegrif­fen, zu viel inter­pre­tiert. In Liby­en herr­schen KZ-ähn­li­che Zustän­de, sagt das Aus­wär­ti­ge Amt. Was für ein Huren­sohn muß man also eigent­lich sein?

Wahr­schein­lich ist die­ser Jun­ge weder dumm, noch ein schlech­ter Mensch, eher das Gegen­teil. Sei­ne poli­ti­schen Ansich­ten beru­hen auf gefähr­li­chem Halb­wis­sen, aber das ist bei uns allen, ledig­lich in unter­schied­li­chem Aus­maß, der Fall. Was ihm fehlt, ist die auto­ma­ti­sche Bevor­zu­gung der eige­nen Sei­te, des eige­nen Vol­kes. Dazu hat man ihn ver­mut­lich ein­fach nicht erzo­gen. Die­se Lücke füllt er mit dem Ver­such gerecht zu sein.

Was kann es aber bedeu­ten, ihn und Mil­lio­nen sei­ner Sor­te mit­zu­neh­men? Doch nur ihre Empö­rung, ihre selbst­ge­rech­te Igno­ranz in eine ande­re Rich­tung zu len­ken. Die Göt­ter allein wis­sen, was sie dann zer­tram­peln. Nun denn, was bleibt uns übrig?

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