ließ sie keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer altbekannten Positionen. Sie legte Frankreich direkt und ohne Umschweife nahe, in der Einwanderungspolitik dieselben Prinzipien anzuwenden, die sie bereits seit zwei Jahren in Deutschland erfolgreich in die Tat umsetze. Wörtlich sagte sie:
Auf die Frage: ‚was ist das Volk?‘ antworte ich: das Bündel vergänglicher Wesen mit Köpfen, zwei Händen und zwei Füßen, welches in diesem einen, gegenwärtigen, armseligen Augenblick auf der Erdfläche, die man Frankreich nennt, mit allen äußeren Symptomen des Lebens nebeneinander steht, sitzt, liegt.
Etwas später fügte sie noch in enger Anlehnung an eine andere ihrer bekannten Formulierungen hinzu, für sie persönlich sei
das Glück der Menschheit nichts anderes als die Summe der kleinen Privat-Glückseligkeiten der gerade eben neben einander Wohnenden.
Pardon, liebe Leserinnen und Leser, jetzt habe ich mich durch die Initialen verwirren lassen und einiges durcheinandergebracht. Diese Zitate sind natürlich nicht von Frau Merkel, sondern bereits über 200 Jahre alt und stammen aus dem Buch „Elemente der Staatskunst“ von Adam Müller (1779–1829).
Aber Hand aufs Herz: Könnten diese Aussprüche, einmal abgesehen von der etwas altertümlichen und ziemlich treffsicheren Ausdrucksweise – ich habe nur das Wort „ephemer“ durch das verständlichere „vergänglich“ ersetzen müssen – nicht eins zu eins von unserer Kanzlerin kommen? Wie ist es möglich, daß der Nationalökonom und Philosoph Adam Müller bereits kurz nach dem Zusammenbruch des ersten Kaiserreichs die Einstellung unserer gegenwärtigen Kanzlerin bis in die Formulierungen hinein karikieren konnte?
Denn, das sei gleich dazugesagt, um eine Karikatur handelt es sich allerdings. Adam Müller meinte das keineswegs ernst, sondern wollte mit den oben zitierten Sätzen die Weltanschauung seiner Gegner pointiert wiedergeben. Er wandte sich in seinem Buch gegen den politischen und wirtschaftlichen Individualismus, und dabei insbesondere gegen den Liberalismus, also gegen diejenigen Positionen, die laut Müller als letzten Wert nur das Individuum kennen, und die alle Gebilde, die das Individuum einbinden, also Gemeinschaft, Volk, Familie usw., mehr oder weniger für konstruierte Hirngespinste halten.
Demgegenüber forderte Müller als Reaktionär reinsten Wassers die Rückkehr ins Mittelalter, wo aus seiner Sicht Staat und Gesellschaft noch nicht getrennt waren, sondern der (noch nicht zentralisierte) Staat vielmehr die Verkörperung der Gemeinschaft war.
Da ich selber mit den Libertären (d.h. mit dem radikalen oder reinen Liberalismus) sympathisiere, muß ich mich fragen: Worauf zielt die Kritik Müllers ab? Nun, daß die Feld‑, Wald- und Wiesenliberalen den Pervertierungen der offenen Gesellschaft eigentlich nichts entgegenzusetzen haben, dürfte nur wenig umstritten sein. Ist es doch wunderbar liberal, wenn der einzelne sich selber definieren darf, wenn er sein Geschlecht auswählen und sich wünschen darf, mit welchen Pronomen er künftig bezeichnet werden möchte. Was ist außerdem das Problem an einem stetig wachsenden Anteil der moslemischen Bevölkerung in Deutschland? Schließlich herrscht doch in einer liberalen Gesellschaft Religionsfreiheit.
Wie gehe ich aber als Libertärer mit diesen Entwicklungen um? Daß ich da auf ein Problem stoße, sieht man schon bei einem kurzen Blick in die Zeitschrift eigentümlich frei. In Heft 177 haben sich mit Hans-Hermann Hoppe und Jeffrey Tucker zwei weltbekannte Libertäre darüber gestritten, wie mit der Alt-Right umzugehen sei. Auf Deutschland gemünzt bedeutet das: Wie hast Du’s mit der AfD? Hoppe legt eine Kooperation nahe, Tucker hält eine solche für Verrat an den eigenen Prinzipien.
Mit anderen Worten ist man sich nicht einig, ob sich Libertäre bei der Bekämpfung der Fehlentwicklungen der Moderne den Konservativen und Reaktionären anschließen oder sich nicht lieber doch auf das Kerngeschäft beschränken sollen, nämlich an der Minimierung oder gar Abschaffung des Staates zu arbeiten – auf daß die dann entstehende Privatrechtsgesellschaft die Probleme nach ihren eigenen Grundsätzen lösen könne, wenn es denn einmal so weit ist.
Ich muß zugeben, daß mir der letztgenannte Weg immer mehr als eine reine Utopie erscheint. Wir leben in einer Welt, in der es von Verboten und Vorgaben, von Steuern und Abgaben, von Sozialleistungen und Umverteilungen nur so wimmelt. Daran wird sich auf absehbare Zeit auch nichts ändern. Macht man auch in einer solchen Welt die libertäre Vorstellung einer unregulierten Gesellschaft zum alleinigen Handlungsmaßstab, dann mag der Vorwurf Adam Müllers nicht unberechtigt sein, die Individualisten stimmten
in dem Wahne überein, der Einzelne könne wirklich heraustreten aus der gesellschaftlichen Verbindung, und von außen umwerfen und zerstören, was ihm nicht ansteh; der Einzelne könne gegen das Werk der Jahrtausende protestieren; er brauche von allen Instituten, die er vorfinde, nichts anzuerkennen…
Aus der Gesellschaft heraustreten können wir aber eben gerade nicht. Wir leben im Hier und Jetzt und müssen mit dem arbeiten, was sich uns darbietet. Und dabei ist nicht auszuschließen, daß liberale Maßnahmen katastrophale Folgen zeitigen können. In unserer Welt führen offene Grenzen zu Masseneinwanderung in die Sozialsysteme, führt Freihandel zu einem globalen Einfluß der amerikanischen Geldpolitik, führte eventuell auch die Abschaffung der Schulpflicht zur endgültigen Verwahrlosung mancher bereits heute entzivilisierten Gegenden und Gesellschaftsschichten.
Da gilt es zunächst einmal, einfach nur zu retten, was noch zu retten ist an Institutionen und Stabilitätsankern. Da gilt es vielleicht auch, erst einmal für das Schließen der Staatsgrenzen zu plädieren, auch wenn das nicht dem libertären Programm entspricht. Andernfalls ist man bestenfalls wirkungslos, schlimmstenfalls mitverantwortlich für die Folgen einer Politik, deren Quintessenz Adam Müller in den Eingangszitaten beschrieben hat.
Maiordomus
@Udau. Sind diese Zitate oben, die wirklich den Eindruck von Satire machen, was doch noch nie Merkels Art war, auch nicht die symbolische Ausdrucksweise, wirklich Originalton der deutschen Bundeskanzlerin? Ich kann das beinahe nicht glauben, es müsste, falls es eine echte Aussage ist und nicht eine von Satirikern, zum Weiterzitieren noch genauer belegt, ev. mit zusätzlichem Kontext versehen werden.
kommentar kubitschek:
im text steht doch deutlich, daß A.M. in diesem fall Adam Müller sei, der diese zeilen vor zweihundert jahren wiederum karikierend gegen die liberalen münzte.