Als islamische Guerilleros 2014 ein »Kalifat« im Irak ausriefen, erweckten sie einen zentralen Begriff der mohammedanischen politischen Theologie wieder zum Leben und schufen sich damit ein Mobilisierungs- und Propagandamittel erster Güte. Denn der Traum vom ungeteilten, politische und religiöse Macht vereinenden Glaubensstaat ist so alt wie die islamische Religion selbst, die sich fast sofort nach dem Tod ihres Gründers über Nachfolgefragen zerstritt und in verfeindete Konfessionen spaltete. Nur im Eroberungsdrang nach außen hielten die Moslems zusammen und eroberten in kaum mehr als hundert Jahren nach dem Tod ihres (angeblichen) Propheten eines der größten Reiche der Weltgeschichte.
Dieser erstaunlichen Erfolgsgeschichte geht die 1909 erstmals erschienene Studie Das Califat des habsburgischen Diplomaten und Politikers Prinz Aloys von und zu Liechtenstein nach. Ausgehend von seiner konservativen, den Fortschritt als universelle Idee für Unsinn erklärenden Weltsicht schildert er zunächst die orientalisch-semitische Mentalität, die wechselseitigen Unverträglichkeiten zwischen Juden und Moslems, und gibt einiges Material zur Geschichte des spätantiken arabischen Raumes in seiner Kontinuität zum Alten Orient bis hinab in die mesopotamischen Blütezeiten.
Diese weitschweifigen Präludien lesen sich inhaltlich teils antiquiert, stilistisch aber frisch und elegant, sind jedenfalls echtes historisches Denken und dürften damit für Ewigheutige schwer erträglich sein. Sodann analysiert Prinz Aloys den schnellen Aufstieg, kurzen Höhepunkt und schnellen Verfall des Kalifatssystems zwischen 632 (angeblicher Tod Mohammeds) und 745 n.Chr., als nach und nach Teile des Reiches begannen, vom Kalifen abzufallen und statt des Islamischen Staates islamische Staaten entstanden.
Schlank und ohne Fußnotenapparat macht dieser von wissenschaftlicher Neugierde getriebene, dennoch nicht ohne Polemik auskommende ‑Essay deutlich, wie geschickt das maßlos ehrgeizige Projekt, mit einem beutegierigen Verband bettelarmer Wüstennomaden die halbe Welt zu erobern, anfangs seine Ziele erreichte – und woran es letztlich scheiterte. Vom Vorrang der Sippe vor der Nation über eine merkwürdig kaufmännische Interpretation von Minderheitenrechten (insbesondere der Glaubensfreiheit) bis hin zu einer formalistischen, egoistisch interpretierbaren religiösen Dogmatik wird der Leser hier manches Element finden, das in der Auseinandersetzung mit der arabischen Kultur und mit dem Islam noch heute, bald 1400 Jahre nach des letzteren Entstehen, eine Rolle spielt.
Insofern ist das Buch auch ein kleiner Beitrag zum Verständnis der heutigen Strategie von Expansion durch Einwanderung. Der irakisch-syrische »Islamische Staat«, der im 21. Jahrhundert etwa drei Jahre lang Bestand hatte, verschwand sehr schnell, nachdem seine Gegner ihre inneren Kontroversen zur Seite geschoben hatten, und offenbarte dadurch seine relative Schwäche. »Kalifat« und »Islamischer Staat« – es sind fast Synonyme; Begriffe für eine Priesterherrschaft, die nur so lange ihre Macht erhalten kann, wie es ihr gelingt, die Fliehkräfte unter den eigenen Leuten gegen zerstrittene Gegner zu lenken.
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Aloys Prinz Liechtensteins Das Kalifat kann man hier bestellen.