Wenn der vermutlich anti-revolutionärste Verlag des deutschen Sprachraumes ein Buch anläßlich des hundertsten Jahrestages der Oktoberrevolution von einem undogmatischen linken Gelehrten herausgeben läßt, verdient das Buch besondere Aufmerksamkeit. Der 1968 verstorbene Harvard-Professor Brinton seziert in seinem Klassiker die Gemeinsamkeiten und (überraschend marginalen) Unterschiede zwischen der englischen Revolution von 1640, der Amerikanischen (1776) und der Französischen Revolution (1789) sowie der russischen Revolution(en) von 1917. Humorvoll und kenntnisreich arbeitet er die bemerkenswerten Parallelen heraus, die angesichts des ideologischen Abstands zwischen dem religiös hochgespannten Eifer der englischen Revolution und dem atheistischen Bolschewismus mehr als 250 Jahre später doch ziemlich erstaunlich sind.
Das Buch korrigiert manche verbreitete Fehlvorstellung, viel interessanter sind aber die Verläufe, die der Autor darstellt, dabei stets von einer Revolution zur anderen springend. Es beginnt mit dem Entstehen der revolutionären Stimmung, wenn die Privilegien älterer Schichten einem Statusgewinn einer aufsteigenden Schicht im Wege stehen. In der plötzlich eintretenden Krise fällt die entscheidende Rolle den Idealisten zu (und nicht etwa den ausgebeuteten Armen, den gewalttätigen Psychopathen oder den listigen Verschwörern) – die Eigensucht ist das revolutionäre Movens der großen Masse, aber sie könnte nicht siegen ohne die geschulten, entschlossenen Idealisten.
Sodann scheitern zwangsläufig die Gemäßigten, die sich nach dem Sieg der Revolution zunächst durchsetzten, und werden von Extremisten verdrängt. Es folgen Angriffe auf die Familie und andere überkommene Ordnungen, bis die Zumutungen den Bürgern zuviel werden und sich das Regime zu einer Liberalisierung gezwungen sieht; die Phase der Konsolidierung (»Thermidor«) beginnt. »Politische Propaganda, die die Züge der Besessenheit trägt, scheint einen Sättigungspunkt zu besitzen, nach dessen Überschreitung sie sich gegen ihre Urheber auswirkt«.
Die ganze Darstellung wird getragen von einem skeptischen, spöttischen Konservatismus, wenn auch die Konservativen von Brintons Spott nicht ausgenommen werden. Er wollte ausdrücklich keine allgemeingültige Soziologie der Revolution schreiben und nimmt allerlei Revolutionen (die autoritären/faschistischen, die befreiungsnationalistischen, die rassisch-kolonialen, sogar retrospektiv die gescheiterten) aus seiner Betrachtung heraus. Sein Thema sind nur die vier genannten historischen Ereignisse. Dennoch lassen sich nicht wenige der von ihm beschriebenen Elemente auch auf andere Erhebungen anwenden, gerade auch auf die Revolution von 1933.
Was Brinton aus seinen vier Revolutionen destilliert, steht in Teilen so eindeutig parallel zu heutigen Entwicklungen in den »westlichen« Nationen, daß der Leser versucht sein kann, das Bevorstehen einer revolutionären Situation, hervorgerufen durch die aufstiegshungrigen »Neubürger«, zu unterstellen, von der uns nur eine spürbare Verschlechterung der wirtschaftlichen Gesamtlage trennt. Dem steht Brintons Feststellung im Fazit gegenüber, Revolutionen ereigneten sich nicht in schwachen, dekadenten Gesellschaften.
Und sein Herausgeber ergänzt im Nachwort, es gebe keine Intellektuellen mehr, die sich für die Volksmenge zu opfern bereit wären, und damit auch keine Revolutionen mehr. Revolutionsverhinderung durch allgemeine politische Schwäche und einen Mangel an durchsetzungsfähigen Idealisten: man kann diesen Befund z.B. angesichts einer sich teils bürgerkriegsartig zuspitzenden Situation in den USA bezweifeln. Und selbst wenn man Brinton und Lauermann hier folgt, ist die Aussicht auch für den, der Revolutionen ablehnt, nicht gerade beruhigend.
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Crane Brintons Anatomie der Revolution kann man hier bestellen.