Es gibt zahlreiche Biographien über Wladimir Iljitsch Uljanow (1870–1924), genannt Lenin. Hervorzuheben sind dabei die Forschungsarbeiten von Wolfgang Ruge und Robert Service, für Teilaspekte sind Isaac Deutscher, Wladislaw Hedeler und Orlando Figes heranzuziehen.
Was zunächst wie »leninologisches« Name dropping wirken mag, zeigt: Die Notwendigkeit einer weiteren Arbeit ist objektiv nicht gegeben – es sei denn, ein Autor kann auf bis dato unbekanntes Material zurückgreifen oder originelle Neudeutungen bieten. Leider trifft nichts davon auf Victor Sebestyens weitläufig rezensierte Lenin-Biographie zu. Gewiß: Der Schreibstil des anglo-ungarischen Publizisten ist angenehm, seine Kenntnis der Epoche unbestreitbar, der Umfang angemessen, das Bildmaterial ansehnlich.
Und doch kann Sebestyen keine unerschlossenen Quellen bieten, und eine originelle Neudeutung ist seine Sache nicht. Störend ist zudem ein weiterer Aspekt: Bisweilen schlägt ein antirussischer Affekt durch, wenn Sebestyen Vergleiche zu »einer neuen Spezies von Autokraten«, die heute Rußland regierten, zieht, oder davor warnt, daß weltweit »populistische Wortführer des linken wie rechten Spektrums« Lenins Fragestellungen, die akut blieben, aufgreifen könnten.
Ganz anders ein Werk des Philosophen Hugo Fischer (1897–1975), der Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre im Umfeld des Widerstandskreises um Ernst Niekisch und Ernst Jünger aktiv war. Fischers Schrift Lenin. Der Machiavell des Ostens konnte 1933 nicht erscheinen; einen bereits gesetzten Buchblock des Manuskripts sandte er im Frühjahr desselben Jahres an Carl Schmitt. Dieser gab es fünfzehn Jahre später an Armin Mohler, bevor es aus dessen Nachlaß an Günter Maschke überging. Von Maschke erhielten es die jetzigen Herausgeber Manfred Lauermann und Steffen Dietzsch.
Fischer interessierte sich für Lenins Politik im Sinne einer Philosophie der Praxis: Der Schöpfer der Sowjetunion habe einen neuen politischen Realismus – Sebastian Haffner nannte dies einen »harten machiavellistischen Realismus« – entlang der drei Bausteine Revolution, Reich und Räte kreiert, wobei spürbar wird, daß Fischer, wie sein Umfeld um Niekisch und Jünger, in Lenins Umsturz ein genuin russisches Aufbäumen sah (»eine letzte Möglichkeit« für Rußland), das aber planetarische Züge hinsichtlich eines neuen Arbeiter-Typus annahm: »Aus dem in Branchen, Klassen, Stände, Schichten gespaltenen Volk wird ein einziges Arbeitsvolk […]. Das ist der moderne Mythos des Sozialismus.«
Verwirklicht worden sei dieser Mythos durch Lenin, den Fischer als »Stern erster Größe am Himmel der Politik« preist. Kritischer bewertet er hingegen Mussolini – er habe in Italien die Maschinerie umgebaut, schuf aber nichts fundamental Neues. Auch Lenins Nachfolger Stalin erscheint subaltern. Schuf der doch (und hier weiß sich Fischer postum mit Hannah Arendt einig) eine andere Sowjetunion, in der ein »Glaube« an das Regime zwangsverordnet wurde, was der Leninschen Flexibilität – seinem Machiavellismus – wesensgemäß zuwiderlief.
Fischers Werk macht nicht nur dies deutlich; es ist vielschichtig, eigentümlich, ausgesprochen originell. Daß es nun erstmals in seiner integralen Fassung vorliegt, ist ein großer Wurf der Herausgeber, die überdies ein exzellentes Nachwort beisteuerten. Auch 2018 ist vorliegende Schrift spannend zu lesen – sie kann es 85 Jahre nach ihrer Niederschrift mit jeder Arbeit über Lenin aufnehmen.
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Victor Sebestyens Lenin kann man hier bestellen, Hugo Fischers Lenin gibt es hier.
Der Gehenkte
Auf den Hugo Fischer kann man nur gespannt sein!
Zu Sebestyen: prinzipiell Zustimmung. Allerdings kann man doch etwas mehr herausholen, scheint mir, zur "inneren Logik der Macht" und auch zur charakterlichen Disposition, die bei Lenin geschichtsmächtig war. U.a. das wird hier entwickelt:
https://seidwalkwordpresscom.wordpress.com/2017/11/08/lenin-again/