Das Geschichtsbild über den Ersten Weltkrieg ist einer rasanten Revision unterworfen. Bezeichnend ist, daß sich bei der Wiederentdeckung der Wahrheit fachliche Außenseiter und ausländische Historiker hervortun. Gunter Spraul (Der Franktireurkrieg 1914, Berlin 2016) ist Gymnasiallehrer gewesen. Ulrich Keller arbeitet als Kunsthistoriker an der Universität Santa Barbara/Kalifornien. Er weist der 2001 erschienenden Studie von John Horne und Alan Kramer über die German Atrocities in Belgien 1914 die Fehlurteile nach, belgische Freischärler hätte es nicht gegeben und die deutschen Verluste beim Einmarsch hätten nur auf friendly fire und Massensuggestionen beruht.
Kellers Urteil: Diese Arbeit kennzeichne das Ignorieren des Forschungsstandes, fuße auf Behauptungen ohne Belege und enthalte zuweilen grobe Tatsachenentstellung. Keller stieß im Bundesarchiv auf über 2000 beeidete Aussagen deutscher Soldaten über Franktireurfeuer in 380 belgischen Orten. Diesen systematisch geächteten deutschen Quellen stehen pro-belgische Zeugnisse gegenüber, die ohne nennenswerte Kritik nahezu ausnahmslos als reine Wahrheit anerkannt, deutsche Gegendarstellungen dagegen ebenso regelmäßig und kritiklos als unglaubwürdig erklärt oder völlig verfälschend wiedergegeben worden seien.
In einem Vorwort bekennt der Historiker Gerd Krumeich, daß »deutsche Belgiengreuel« ein Konsens der »seriösen Forschung« sei. Gegenargumente seien nicht von Fach‑, sondern von Hobby-Historikern gekommen und in »recht abseitigen Publikationsorganen« erschienen. Kellers Ergebnisse widersprechen allem, was man sich gewöhnt hatte, für gut und richtig zu halten. Zweifel am Forschungskonsens hat Krumeich selbst nicht zu äußern gewagt, aus Angst, sich in der scientific community zu isolieren.
Kellers Buch ist in neun Abschnitte unterteilt. Er thematisiert die Quellen- und Rechtslage, die Kämpfe in Löwen, Lüttich, Andenne sowie Dinant und arbeitet heraus, daß es sehr wohl zu belgischen Partisanenangriffen gekommen ist. Er untersucht die Organisation des belgischen Zivilwiderstandes. Demnach rekrutierten sich die Franktireurs aus den 140000 Miliz-angehörigen sowie Tausenden in Zivil gesteckten Soldaten. Heimtückische Feuerüberfälle durch Nicht-Kombattanten waren 1914 in Belgien an der Tagesordnung.
Gemäß Haager Landkriegsordnung ist Einwohnerwiderstand in besetzten Gebieten immer illegal, in noch nicht besetzten Gebieten aber an Vorbedingungen geknüpft: offenes Waffentragen, einheitliche Kennzeichnung, gemeinsame Führung und Beachtung des Kriegsvölkerrechts. Kein von den Deutschen je gesichteter, verhafteter oder erschossener belgischer Franktireur hat ein visuelles Abzeichen getragen. Keller hält die Zahl der belgischen Verluste – rund 5000– für weit übertrieben, versteckt seine Kritik aber in einer Anmerkung auf Seite 359.
In der Weimarer Republik war der korrekte Sachverhalt – belgische Partisanenüberfälle und deutsche Reaktionen – Konsens in der Publizistik. Ein 1923 dem Reichstag vorgelegter Untersuchungsbericht kam zu dem Ergebnis, daß das Verhalten der deutschen Truppen unter dem Druck der belgischen Freischärler-Attacken im wesentlichen den geltenden Gebräuchen und Gesetzen des Krieges entsprochen habe. Nach 1945 hätten sich deutsche Historiker der Staatsräson Westbindung gebeugt und »retuschierten« die historische Wahrheit zur politisch gewünschten Sichtweise. Ein »breit angelegtes Umerziehungsprogramm in den Schulen« tat ein übriges.
Keller beurteilt die Aussagen deutscher Soldaten als erheblich glaubwürdiger als die belgischer Zivilisten. In der »politisch korrekten Forschung« haben gezwungene, rein spekulative und heillos widersprüchliche Unterstellungen ohne Zeugenfundament, rein durch unkritische Wiederholung den Stellenwert von Fakten angenommen. Statt zu zeigen, wie es wirklich gewesen ist, sei die Tradierung moralischer Entrüstung über »Gewaltexzesse der wilhelminischen Armee« der »Hauptzweck moderner historischer Forschung“ gewesen.
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Ulrich Kellers Schuldfragen kann man hier bestellen.