Ulrich L. Lehner, Professor für Religionsgeschichte an der Marquette Universität in Milwaukee, erzählt die vergessene Geschichte der reformfreudigen Katholiken und Katholikinnen (!) des 18. Jahrhunderts in Europa, Nord- und Südamerika, China und Indien. Lehner zeigt auf, wie die Reformen des Konzils von Trient (1545–1563) schon lange vor der säkularen Aufklärung eine katholische Reformbewegung in Gang setzten und inspirierten. Diese sogenannte katholische Aufklärung kämpfte wie die säkulare Aufklärung gegen Aberglaube, für die Anerkennung und Adaption der Naturwissenschaften, für Ideale der Demokratie, für religiöse Toleranz, Gleichheit der Geschlechter, gegen Sklaverei und Rassismus, setzte aber dezidiert eigene Akzente. Auch wenn viele es nicht glauben wollen: Nicht nur anti-religiöses Denken war aufgeklärt, das Buch belegt durch zahlreiche Beispiele, daß ein den katholischen Glaubenswahrheiten verpflichtetes Denken oft »menschenfreundlicher« als die säkulare Aufklärung sein konnte. So hat etwa die Ablehnung arrangierter Ehen gegen den Willen der Partner, ebenso wie die Verurteilung häuslicher Gewalt ihren Ursprung in der tridentinischen Reform und deren christlichem Familienbild der gegenseitigen Liebe – wohingegen das patriarchalische Familienbild der westlichen Welt, wie es sich besonders im 19. und 20. Jahrhundert darstellt, aus den »Werten« der säkularen Aufklärung erwuchs.
Auch die Jesuiten, die im China des 16. Jahrhunderts missionierten, waren nicht von der Aufklärung in Europa beeinflußt. Sie gewannen breiten Einfluß im Land, indem sie die einheimische Sprache lernten und die intellektuelle Elite des Landes von ihrer Theologie überzeugten. Darüber kam es zu einem fruchtbaren kulturellen und interreligiösen Austausch, der vom tridentinischen Geist beeinflußt war. 1615 wurde es chinesischen Missionaren sogar erlaubt, die Messe in der Landessprache zu feiern, während Europa darauf noch über 300 Jahre warten mußte. Durch diese Art einer nicht eurozentrisch orientierten Missionsarbeit trugen die Jesuiten in Südamerika zu einem besseren Verständnis der einheimischen Kulturen, aber auch zu deren Schutz bei. Die generelle Ansicht, wonach beispielsweise die Kulturen Südamerikas rückständig und minderwertig seien, kam erst im 18. Jahrhundert mit der säkularen Aufklärung auf. Entsprechende Überlegungen findet man etwa bei Georg W.F. Hegel.
Das Ende der intellektuellen Reformbewegung erfolgte abrupt durch Attacken antiklerikaler und anti-christlicher Aufklärer und besonders durch die Französische Revolution. Der folgende Beginn eines päpstlichen Katholizismus führte zu einer intellektuellen Verengung.
Ulrich Lehners Globalgeschichte der katholischen Aufklärung ist eine Pionierleistung, das Buch eine wahre geisteswissenschaftliche Fundgrube. Bibliographische Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln laden den interessierten Leser zu weitergehenden Forschungen je nach persönlicher Interessenlage ein. Da gibt es noch Schätze zu heben! Interessante Persönlichkeiten, viele von ihnen zu Unrecht bisher nicht zur Kenntnis genommen, werden in einem Register angeführt. So auch Maria Agnesi (1718–1799), eine italienische Mathematikerin und Religionsphilosophin, die als die bekannteste Frauenstimme der katholischen Aufklärung gilt. An dieser bemerkenswerten Person läßt sich exemplarisch studieren, daß der Katholizismus im 18. Jahrhunderrt eine ernstzunehmende intellektuelle Alternative war.
Das läßt hoffen, daß Katholisch-Sein auch im 21. Jahrhundert, in Zeiten des weltweiten Umbruchs, wieder spannend werden kann.
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Ulrich L. Lehners Die katholische Aufklärung kann man hier bestellen.