Heinrich A. Winkler ist längst in den Rang eines Haus- und Hofhistoriographen der Bundesrepublik aufgestiegen. Verdient hat er sich seinen Ruf als Verfasser etlicher materialreicher Studien über den Westen, die mehr dessen normativen Anspruch hervorheben als die faktische Einlösung der entsprechenden Ideale. Neben der vierteiligen »Geschichte des Westens« ist die zweibändige Beschreibung der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als der »lange Weg nach Westen« zu nennen. Bei genauerer Betrachtung dieser Narration stellt sich heraus, daß sie kaum mehr als eine Neuauflage der alten These vom »deutschen Sonderweg« darstellt, deren Unterkomplexität kaum erwähnt werden muß.
Nach derart ausgiebiger Beschäftigung mit der Historie hat Winkler es wohl für naheliegend empfunden, sich der unmittelbaren Gegenwart zuzuwenden. Die aktuellen Krisen in Europa und den USA erscheinen als lohnenswertes Thema. Wer die bisherigen Publikationen des Berliner Emeritus kennt, ist nicht darüber verwundert, daß sich seine Urteile im üblichen Diskursrayon der linksliberalen Meinungsmacher bewegen. Folglich werden die Zäsuren »Brexit« und »Trump« so einseitig und kontextlos wie möglich dargestellt. Es handelt sich weniger um eine wissenschaftliche Untersuchung als um die Darstellung und Kommentierung von Ereignissen, die der informierte Zeitgenosse aufgrund intensiver Zeitungs- und Internettextlektüre bereits kennt.
Für einen seriösen Historiker wäre es Aufgabe, die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe der Entwicklung der USA, West‑, Süd- und Mitteleuropas und der relativ jungen EU-Staaten im Osten, die untereinander keineswegs homogen sind, herauszuarbeiten. Winkler geht ein solches Unternehmen selbstredend nicht an. Ganz überraschend ist vor einem solchen Hintergrund ein gewisses Auseinanderdriften der Teile des Konstrukts »Westen« nicht.
Winklers Schrift kann eine alarmistische Grundausrichtung nicht verbergen. Einerseits stellt er die perhorreszierte Gefahr, das Zerbrechen des Westens, in den Raum; andererseits muß er immer wieder zurückrudern: Die Katastrophe bleibt wahrscheinlich doch aus. Von Alexis de Tocquevilles berühmten Analysen im frühen 19. Jahrhundert bis zu George W. Bushs Irakabenteuer 2003 zeigt sich der Westen gespalten. Der Neuigkeitswert dieser Botschaft bleibt auch dann gering, wenn man viele Worte da-rüber verliert.
– – –
Heinrich A. Winklers Zerbricht der Westen? kann man hier bestellen.