Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre

Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Roman, München: Hanser 2018. 287 S. 22 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Die­se Geschich­te des viel­fach preis­ge­krön­ten Roman­ciers Nor­bert Gst­rein (*1961 in Tirol, wohn­haft in Ham­burg, stu­dier­ter Mathe­ma­ti­ker – damit so ziem­lich der Kon­stel­la­ti­on des Prot­ago­nis­ten Richard ent­spre­chend) liest sich in einem Rutsch, es ist bei­na­he leich­te Lek­tü­re. Aber sie hat es in sich.

Alles, was hier geschieht, pas­siert auf der Flä­che eines Spie­gels, und zwar in viel­fa­cher Hin­sicht: vom roman­ti­schen Dop­pel­gän­ger­mo­tiv bis zur seman­ti­schen und sym­bo­li­schen Ebene.

Richard ist Exper­te für Tro­pen­glet­scher. Er ist kein Intel­lek­tu­el­ler, er liebt die Käl­te, das Aben­teu­er, aber auch die Ver­nunft. Sei­ne schö­ne Frau Nata­scha reüs­siert als Schrift­stel­le­rin und Publi­zis­tin. Jüngst hat das in Ham­burg ansäs­si­ge Paar (sie haben eine zehn­jäh­ri­ge Toch­ter; die Ehe steht auf töner­nen Füßen) eini­ge media­le Auf­merk­sam­keit auf sich gezo­gen, weil sie in ihrem Wochen­end­haus in Nord­west­meck­len­burg eine (ver­mut­lich) syri­sche Flücht­lings­fa­mi­lie unter­ge­bracht haben. Richard hat sich dem Spek­ta­kel gefügt, die Initia­ti­ve ging von Nata­scha aus, die dem Medi­en­hun­ger ordent­lich Fut­ter gab und nun mit Herrn Fah­ri, die­sem undurch­sich­ti­gen Typ mit dem Raub­vo­gel­blick, der viel­leicht doch ein Paläs­ti­nen­ser ist oder ein deser­tier­ter Offi­zier der Assad-Armee, ein eige­nes Buch plant über des­sen Fluchterfahrungen.

Nata­scha nennt Herrn Fah­ri längst ver­trau­lich »Bassam«, und es ist nicht recht klar, ob sei­ne Geschich­ten von ertrin­ken­den Mit­flüch­ten­den aus ers­ter, zwei­ter oder drit­ter Hand stam­men. Sei­ne bei­den puber­tie­ren­den Söh­ne jeden­falls weiß er mit har­ter Hand zu züch­ti­gen, und die alten, jun­gen, im Zwei­fel alle­mal sinis­tren Weg­ge­nos­sen aus dem Flücht­lings­heim (die stark, näm­lich nach ech­tem Schweiß, rie­chen, sich anschei­nend als Stri­cher ver­din­gen und über­haupt für Geld leicht zu haben sind) hat er unter sei­ner Knute.

Nata­scha jeden­falls schwelgt in der Lei­dens­ge­schich­te der Fah­ris. Tag­täg­lich bemut­tert sie die Fami­lie mit Ein­käu­fen, Haus­auf­ga­ben­nach­hil­fe und Obsor­ge­ge­sprä­chen. Das Tra­gen der Grill­schür­ze, die Nata­scha Richard geschenkt hat­te, hat­te der Gat­te ver­wei­gert. Nun grillt Herr Fah­ri beschürzt Fleisch nach Haus­her­ren­art. Ein­mal wird es Richard zu bunt. Auf einem der von Nata­scha erzwun­ge­nen bina­tio­na­len Fami­li­en­tref­fen bie­tet er Herrn Fah­ri zynisch an, er möge gern den »deut­schen Teil« sei­nes Lebens über­neh­men: sei­ne, Richards, Steu­er­erklä­rung abge­ben, sei­ne Vor­le­sun­gen hal­ten, die dum­men Gesprä­che mit den Nach­barn füh­ren, eine blö­de Ren­ten­ver­si­che­rung abschließen.

Sei­ne aus­län­di­schen Kol­le­gen lachen längst über das urko­misch-pein­li­che Deutsch­land: Wie er es noch aus­hal­te in die­sem Land? Nun teilt der Ver­lach­te aus! Als Nata­scha erfährt, daß ihre Mus­ter­flücht­lin­ge »heim­lich« zum Chris­ten­tum kon­ver­tie­ren, ist dies nur eine kur­ze Bruch­se­quenz. Nata­scha haßt nicht das Reli­giö­se an sich (bezüg­lich des Islams ist sie wohl­in­for­miert und durch­aus geneigt), sie ver­ab­scheut die­se Prä­gung ihres Man­nes. Der war streng katho­lisch sozia­li­siert, für sie ist er des­halb in dop­pel­ter Hin­sicht der »Eis­mann«, der Gefühlsamputierte.

Nun befin­det sich Richard auf­grund einer Ein­la­dung sei­nes Freun­des Tim in den USA, um dort über Glet­scher zu refe­rie­ren. Tim selbst hat es in aka­de­mi­scher Hin­sicht nicht leicht. Er hält »die Mär von der Erd­er­wär­mung für eine Geschich­te für Schwäch­lin­ge«; spä­ter wird sein Ruf voll­ends rui­niert, als er sich mit schar­fem Spott über einen Vor­trag über »femi­nis­ti­sche Gla­zio­lo­gie« geäu­ßert hat­te. Man dür­fe sich den Glet­schern nicht mit männ­li­chen Metho­den und »Bohr-Pene­tra­tio­nen« nähern, hat­te es – in uni­ver­si­tä­ren Gefil­den! – gehei­ßen, son­dern emotional.

Tim hat­te gehöhnt, daß hier wohl statt eines Hirns ein Ute­rus am Werk sei: »Bevor ich mir die Glet­scher gen­dern las­se, spren­ge ich sie lie­ber. Wenn jetzt auch das Eis Gefüh­le haben soll, dann gibt es für mich kei­nen Ort mehr auf der Welt.« Tims Kar­rie­re dürf­te damit been­det sein, in der Pres­se gilt er nun als »alter, wei­ßer Mann«, ein Aus­lauf­mo­dell, das am bes­ten in einem Reser­vat zu ver­wah­ren wäre.

Auch Richard fühlt sich längst hei­mat­los. Flucht­punkt wäre Kana­da, mög­lichst nahe am Polar­kreis. Doch, Moment: Wie­vie­le berühm­te US-Ame­ri­ka­ner hat­ten laut­hals ange­kün­digt, eben­falls aus­zu­wan­dern, meist auch nach Kana­da, für den Fall, das Trump die Wahl gewön­ne? Wer hat es wahr gemacht? Wann flieht wer? Richard ist ein Zau­de­rer, ein Aus­wei­cher par excel­lence. Über Sky­pe kom­mu­ni­ziert er mit der gars­tig-hys­te­ri­sier­ten Nata­scha, die­ser »pathe­ti­schen Figur«, die die Fah­ris »ins­ge­heim belä­chel­ten oder viel­leicht sogar auslachten.«

Am Asyl der Fah­ris, die­ser Hei­li­gen der letz­ten Tage, bahnt sich näm­lich in Richards Abwe­sen­heit Unheil an. Fins­te­re Gestal­ten bedro­hen das pro­min­ent­ge­wor­de­ne Haus. Es sind nicht wirk­lich Neo­na­zis, das könn­te man nur mut­ma­ßen, es sind … »Unto­te« (in Wahr­heit ist es ein Pas­tor) und »Bedroh­li­che« (in Wahr­heit Jugend­li­che aus dem dörf­li­chen Umfeld, die sich einen Hei­den­spaß machen). Am Ende die­ses nur an der Ober­flä­che leicht­fü­ßig daher­kom­men­den Romans wird einer blankziehen.

– – –

Nor­bert Gst­reins Die kom­men­den Jah­re kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (2)

quarz

16. Mai 2018 20:07

Das erinnert mich in manchem ein wenig an Evelyn Waughs "A Handful of Dust".

Leo Lobauer

21. Mai 2018 11:01

Das Buch erinnert in vielem an die Fugenbrüche Joachim Lottmanns in "Alles Lüge". Ein Sommerroman über eine Frau mit Mann und Kind, der sich wegen der Charaktere schnell und flüssig einfach so vor sich hinliest. Auch und vor allem natürlich wegen der spöttischen Selbstreflexe des Autors, der die Banalitäten des seit dem Sommer 2015 anhaltenden Asylfiebertraums aus der Ferne zu hinterfragen beginnt, ob er sich etwa im falschen Wohlstandsleben aufhält, wirklich "unter Deutschen" begraben sein will usw. Gleichwohl: ein unangenehmer Beigeschmack bleibt.
Die Versagerrolle des Richard ist so allgegenwärtig, dass man sich etwas von dem starken Arm des Johannes Lohmer herbeiwünscht, der nicht nur seine Harriet in "Alles Lüge", sondern darin dann auch den Leser doch gelegtenlich mit dem nötigen Schuss von Wiener Schmäh' nett in den selbigen zu nehmen wusste.

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