Sie äußerte dies in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Trifft diese Einschätzung zu, und, wenn ja, bildet es einen Kritikpunkt?
Vergleicht man Paglias Werk mit dem gotischen Filigran marxistischer Theoriebildung, das jedem Scholastiker Heimatgefühle vermittelt hätte, mit den Begriffstempeln der Psychoanalyse oder mit der Postmoderne, die an die Windungen einer dysfunktionalen Kanalisation denken läßt, so erinnert es eher an die Memnonskolosse, die einsam in der Wüste thronen.
Diese mächtigen Figuren (die beide den Pharao Amenophis den III. darstellen) waren für Hegel Verkörperung der symbolischen Form der Kunst, jener Form, in der die Materie den Geist überwiegt und für die in seiner Ästhetik exemplarisch das alte Ägypten steht. Auch in „Die Masken der Sexualität“ überwiegt die schiere Gewalt des Materials die Bedeutung der theoretischen Konstruktion, die Männer und Frauen als thronende Kolosse einander gegenüberstellt.
Das Werk führt den uralten Film vom apollinischen Heros und der chthonischen Mutter in tausend Gestalten und in epischer Breite vor. Der Zuschauer/Leser ist fasziniert, aber nicht überrascht. Paglia beschreibt allerdings nicht nur eine archetypische Vorstellung der Geschlechter (apollinisch-strebender Mann, chthonisch-naturgebundene Frau), sie reproduziert diese auch, übernimmt also die Beschreibungskategorien ihres Materials anstatt eigene zu entwickeln.
Dieses Muster ist in der Tat von geringer Komplexität. Aber – was heißt das überhaupt? Der Kern der disziplinär unterschiedlichen Definitionen ist immer Vielfalt, allerdings nicht im moralisierenden Sinn bunter Diversity, sondern ganz nüchtern mit Blick auf die Vielfalt der Elemente in einem System und vor allem die Vielfalt der Relationen, die diese verbinden.
Ein Ergebnis von Komplexität ist daher Unübersichtlichkeit, weshalb der Begriff, z.B. in der Wirtschaftswissenschaft, keineswegs uneingeschränkt positiv konnotiert ist. Komplexe Situationen erschweren Entscheidungen, hyperkomplexe Theoriebildungen verstellen die Realität eher, statt zu ihrer sinnvollen Interpretation beizutragen.
Was uns auf die eingangs gestellte Frage zurückbringt, wann höhere Komplexität, wann Komplexität eine Tugend und geringe Komplexität einen Mangel darstellt. In den Kulturwissenschaften ist eine Tendenz eingerissen, den Begriff als eine Art Gütesiegel für wissenschaftliche Arbeiten und Erklärungen zu verwenden.
Das war nicht immer so. Klassischerweise galt die Anwendung von Ockham’s Razor: der Regel, wonach Erklärungen je besser je einfacher sind, d.h. je weniger Zusatzannahmen sie benötigen. Daß Ockhams Rasiermesser in den Geisteswissenschaften kaum zum Einsatz kommt, hat einen simplen Grund: Diese Disziplinen müssen weitgehend ohne empirische und jedenfalls ohne experimentelle Überprüfbarkeit auskommen. Ihre Theoriebildungen können daher nicht falsifiziert werden und tendieren zwangsläufig zu immer weiteren Binnendifferenzierungen und „Wucherungen“, die ganz pragmatisch ermöglichen, sich im Betrieb von den Kollegen zu unterscheiden.
Die Feststellung, eine Theorie oder ein Werk sei komplex dient daher häufig als Ersatz für Überprüfbarkeit von Außen und bezeichnet oft genug nur die radikale Selbstbezüglichkeit disziplinärer Theoriebildungen. Die Windungen postmodernen Denkens sind komplex, die esoterischen Lehren einer Helena Blavatsky beispielsweise sind es auch – so what? Blavatsky hat da noch den Vorzug für sich, für manche Zeitgenossen lebensweltlich Anwendbares zu bieten.
Komplexität geistiger Gebäude ist also kein Kriterium für Wissenschaftlichkeit (da diese Eigenschaft mit nicht-wissenschaftlichen Konstruktionen geteilt wird), sie ist kein Kriterium für Realitätsentsprechung und sie ist schon gar kein Kriterium für lebensweltliche Brauchbarkeit.
Und hier sind wir beim entscheidenden Punkt: Paglias Werk gerät in genau diesem Moment in der Geschichte des Westens in den Blick, weil es einem Bedürfnis entspricht, sich in Geschlechterfragen neu zu orientieren und die falsche Komplexität urwaldartig-ausgewucherter Gender-Theorien hinter sich zu lassen.
Die mutwillige Multiplizierung der Geschlechter, die mit fanatischer Zähigkeit betriebene Unterminierung geschlechtsspezifischer Verhaltensstandards sowie übergriffige Verwaltungsmaßnahmen à la Gender-Mainstreaming haben den Boden bereitet für die Wiederauferstehung der Polarität Mann-Frau. (Wäre man auf der anderen Seite ein wenig klüger gewesen, hätte man das kommen sehen.).
Eben diese Polarität steht im Mittelpunkt von Paglias Arbeit und wird dort, wie eh und je, mythisiert. Wer einwenden möchte, das sei keine Wissenschaft (nach welchen Standards aber?), der muß sich sagen lassen, daß dann sämtliche Theorien und Träume des akademischen Feminismus diesen Namen ebenfalls nicht beanspruchen können. Was könnte mythischer sein als die Lehre vom kleinen Unterschied?
Wirkmächtig wird Paglias Werk offensichtlich genau durch einen für jedes erfolgreiche Verständnis grundlegenden Vorgang, nämlich durch Komplexitätsreduktion. Sie setzt gegenüber den Verstiegenheiten gängiger Gender-Lehren einen Neuanfang, indem sie auf die ältesten und historisch nahezu durchgängig präsenten Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zurückgreift.
Paglias Werk fungiert als eine Art Bulldozer, der den Schutt feministischer Dogmen abräumt. Der Grund, auf dem umfassendere Modelle von Geschlecht auf der Basis historischer und biologischer Realitäten (statt gegen diese) aufgebaut werden können, ist damit freigelegt. Diese Neuentwürfe werden auch kommen, denn weder die fleischfressenden Pflanzen aus dem Gender-Glashaus noch Paglias Schattenspiele großer Archetypen bieten eine entfernt adäquate Rekonstruktion dieser Kategorie, die für unser Selbstverständnis und für unser Überleben zentral bleiben wird.
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Anmerkung des Verlags Antaios: Camille Paglia hat mittlerweile den Vertrag mit uns gelöst, über 1500 Exemplare der deutschen Übersetzung ihres Werkes “Free Women, free Men” müssen eingestampft werden. Das Buch ist daher bereits nicht mehr erhältlich.
Solution
Warum wurde der Vertrag gelöst?
Kositza: Ist hier https://sezession.de/58422/camille-paglia-die-sorgfalt-der-arbeit-von-antaios dargelegt.