Seitdem sich auch in der letzten Talkshow herumgesprochen hat, daß die nun auch nicht mehr so „neuen Kriege“ keine Panzerschlachten in der Norddeutschen Tiefebene sind, braucht es andere Erklärungsmuster.
Also verfällt man auf den Dreißigjährigen Krieg.
- Ein Bürgerkrieg, der durch ausländische Interventionen zum Flächenbrand wird? Klar..
- Ein Kriegsschauplatz, der von Banden statt von regulären Armeen beherrscht wird? Klar.
- Die überwältigende Mehrheit der Opfer sind Zivilisten? Klar.
Fertig ist das Bild vom Dreißigjährigen Krieg, durch dessen Deutungsmuster man dann das orientalische oder afrikanische Chaos unserer Tage betrachtet.
Diese Deutung bietet immerhin einen Halt. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges stand der Westfälische Frieden. Ein Europa neuzeitlicher Staatlichkeit im Zeichen des Völkerrechts. Die Hoffnung, auch diesen Punkt eines Tages abhaken zu können, mag erklären, warum gerade ausgewiesene Kenner der betreffenden Weltgegenden immer wieder auf das Erklärungsmuster Dreißigjähriger Krieg verfallen.
So Michael Lüders ins seinem Buch „Die den Sturm ernten, Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte“: „Syrien durchlebt gegenwärtig, wie weite Teile der arabisch-islamischen Welt insgesamt, einen Dreißigjährigen Krieg. Am Ende, das noch lange nicht in Sicht ist, könnte durchaus ein Westfälischer Friede stehen.
Oder Gérard Prunier, der in „Africa’s World War; Congo, the Rwandan Genocide, and the Making of a Continental Catastrophe“ den (nicht von ihm stammenden) Vergleich mit den Weltkriegen verwirft und stattdessen den Dreißigjährigen Krieg heranzieht. Die Kongokriege seien sogar, bei allem Grauen, der Eintritt Afrikas in die Moderne gewesen.
Es handelt sich bei den Genannten nicht um die Atlantikpresse. Die hat solche Komplikationen gar nicht nötig. „Irgendjemand ist Böse und der macht böse Sachen, über die wir uns dann empören.“ Das reicht in diesem Geschäft.
Nein, bei Lüders und Prunier handelt es sich um Vertreter jenes Genres kritischer Sachbuchliteratur, dessen Großvater Peter Scholl-Latour war. Ihre Leserschaft besteht aus jenem Teil des Bürgertums, daß sich politisch zu einem gewissen Grade von den Systemmedien emanzipiert hat. Hier besteht ein Bedürfnis nach politischer Bildung, die den Leser über die Plattitüden der alltäglichen Propaganda erhebt, ihm das Selbstgefühl eines Realisten verleiht, der sich nicht von Humanitätsduselei irre machen läßt, dabei aber den Schock in Grenzen hält.
Die Deutung der neuen Kriege vor der Folie des Dreißigjährigen Krieges ist hierfür ideal. Die Botschaft: „Das wird noch lange eine sehr häßlich Angelegenheit bleiben, wer auf die Phrasen in den Medien hereinfällt ist ein Idiot (anders als ich). Aber am Ende (wenn die ganzen Irren sich ausgetobt haben) kann doch ein Westfälischer Frieden stehen.“
Ein kurzer Blick auf den echten Dreißigjährigen Krieg zeigt sofort, wie schräg diese Vergleiche und wie unbegründet diese Hoffnungen sind. Worum wurde zwischen 1618 und 1648 gekämpft? Mag die Religion für den innerdeutschen Konflikt noch eine wesentliche Rolle gespielt haben, für die gesamteuropäische Lage war etwas ganz anderes entscheidend.
Im Europa des 17. Jahrhunderts setzte sich die neuzeitliche Staatlichkeit unaufhaltsam gegen die letzten Überreste der feudalen Epoche durch. Das war allen wachen Zeitgenossen klar. Für Deutschland, mit seinen starken Landesherrlichkeiten, gab es damit nur zwei Wege. Entweder das Reich würde „absolut“, der Habsburger Kaiser erhielte eine anderen europäischen Monarchen vergleichbarer Stellung und die Reichsstände wären damit faktisch abgeschafft. Oder aber die Staatsbildung vollzöge sich auf der Ebene der Landesfürstentümer, womit diese vollständig souverän würden und das Reich auf den Rang einer symbolischen Erscheinung verwiesen.
Um diese Entscheidung wurde der Krieg geführt. Entstünde im Kern Europas eine starke, alle übrigen Nationen überragende Zentralmacht, oder ein Flickenteppich aus Kleinstaaten, der zum Spielball des restlichen Kontinents herabsänke? Gustav II. Adolf und sein Kanzler Oxenstierna wußten ebenso, warum sie in den Teutschen Krieg eingriffen, wie später Kardinal Richelieu: Um ein staatlich geeintes Deutschland zu verhindern, daß ihren eigenen nationalen Ambitionen enge Grenzen gesetzt hätte.
Europas Weg zur neuzeitlichen Staatlichkeit und der damit verbundenen völkerrechtlichen Ordnung war dabei eine vorausgesetzte Gegebenheit, die schon lange vor dem Dreißigjährigen Krieg eingesetzt hatte. Das Ringen ging einzig und allein um die Frage, in welchem Größenrahmen sich diese Entwicklung im Zentrum Europas verwirklichen sollte. Das Ob stand außer Frage, es ging nur noch um das Wie.
Die an Ort und Zeit gebundenen kulturellen, biologischen, gesellschaftlichen und technologischen Verhältnisse überlassen der Politik lediglich deren Ausgestaltung. Politische Ereignisse können Jahrhunderte prägen. Die Entlassung Wallensteins, auf Druck eigensüchtiger Fürsten, barg alle künftigen Katastrophen der deutschen Geschichte in sich. Aber, gemessen an der gesamten Variationsbreite menschlicher Existenz, ist der politisch beeinflußbare Teil doch eher schmal.
Keine Greuel des Dreißigjährigen Krieges hat Europa von seiner weiteren Entwicklung abhalten können. Es sank trotz eines der entsetzlichsten Kriege der Weltgeschichte nicht in vorkulturelle Barbarei zurück, weil das nur durch die Zerstörung der gesamten abendländischen Kultur qua Ausmordung ihrer Völker überhaupt möglich gewesen wäre.
Aus demselben Grund, aus dem auch ein langer und zerstörerischer Krieg in Europa nicht die feudalen Verhältnisse wiederherstellen konnte, können solche Kriege im Orient und Afrika nicht zur neuzeitlichen Staatlichkeit und einem Völkerrechtssystem westfälischen Vorbilds führen: Die Ebene, auf der solcherlei entschieden wird, wird auch durch große und langanhaltende Kriege kaum angekratzt.
Sehen wir uns also an, worum die „neuen Kriegen“ geführt werden. Ihre Ursache ist nicht in der Staatsbildung zu suchen, sondern im Staatszerfall. Trotz äußerlicher Ähnlichkeiten handelt es sich um das genaue Gegenteil des Dreißigjährigen Krieges.
Staaten, die niemals Staaten waren, scheitern vollends. Meist, weil die Ressourcen nicht mehr ausreichen, ein Land, in dem niemand Loyalität gegenüber einer Abstraktheit wie „dem Staat“ empfindet, mit einer alle europäischen Maßstäbe sprengenden Klientelpolitik ruhig zu stellen.
Der Jugendüberschuß der viel zu Vielen, eruptiert in Gewalt. Das Land sinkt ins Chaos und zieht seine regionale Umwelt mit sich. Für die tieferen Ursachen dieser Kriege ist es dabei gleichgültig, ob solch ein Land von alleine implodiert, oder ob ausländische Interessenten, aus welchen Motiven auch immer, nachgeholfen haben. Ohne die innere Schwäche politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen, welche die durch importierte Medizin ermöglichten Bevölkerungszahlen niemals verarbeiten können, liefen alle Destabilisierungsversuche ausländischer Geheimdienste ins Leere.
Gleichgültig, wer am Ende eines solchen Krieges die Macht an sich gerissen hat. Es wird selbst im besten Falle nichts anderes dabei herauskommen, als ein neues Regime der Art Saddams oder Assads. In Schwarzafrika kann man nicht einmal damit rechnen. Wenn das vergangene halbe Jahrhundert seit der Entkolonialisierung etwas gelehrt hat, dann daß Modernisierung in einem großen Teil der Welt nur gerade soweit möglich ist, traditionelle Strukturen zu beschädigen und einen Bevölkerungszuwachs auszulösen, den die dortigen Gesellschaften nicht verkraften.
Auch die grausigen Kriege, in denen sich die dadurch erzeugten Spannungen beizeiten einmal entladen, ändern an den dahinterstehenden Strukturen nichts. Diese werden uns mit allen Konsequenzen erhalten bleiben.
Ein Westfälischer Frieden kommt dabei nicht zustande, das genaue Gegenteil ist der Fall. In den neuen Kriegen werden jene Teile der Westfälischen Ordnung in Frage gestellt, die diesen Weltgegenden während der Kolonialzeit aufgeprägt wurde: Staaten mit auf der Karte festgelegten Grenzen, abgeschlossene Territorien, die zumindest einigermaßen von einer verantwortlichen Zentralregierung kontrolliert werden und deren Verkehr untereinander auf dem Parkett der internationalen Diplomatie verläuft.
Diese aus der Kolonialzeit hervorgegangenen Staaten haben heute einen schlechten Ruf. Die mit dem Lineal in den Sand gezeichneten Grenzen seien die Ursache, der derzeitigen Instabilität. Es ist ja nicht zu leugnen, daß diesen quer über Stammesgrenzen hinweg verlaufenden Gebilden die Festigkeit homogener Nationalstaaten fehlt.
Trotzdem haben sich diese postkolonialen Staaten als außerordentlich zäh erwiesen. Der Grund dafür ist einfach. Es gab und gibt keine tragfähigen Alternativen. Jeder halbwegs Verantwortliche im Orient oder in Afrika wußte und weiß noch heute, daß die Hölle losbricht, sobald diese Überbleibsel der Kolonialzeit in Frage gestellt werden. Die Organisation für afrikanische Einheit – die heutige Afrikanische Union – schrieb deshalb bereits auf ihrer ersten Sitzung im Jahre 1964 die Unverletzlichkeit der postkolonialen Grenzen fest. Auf welcher Basis hätte man den sonst auch nur ein Minimum an Staatlichkeit erhalten sollen?
Freilich, keine solche Deklaration hat diesen Staaten die Festigkeit der europäischen Vorbilder gegeben. Immer wieder, in letzter Zeit in der Arabellion, wird ihre innere Schwäche offenbar. Dann werden sie von politischen Kräften herausgefordert, die den darin lebenden Völkern natürlicher sind: Stammesallianzen und Familienclans, im Falle des Orients auch religiöse Gemeinschaften und selbstverständlich, wie in jedem Chaos, Milizen und Banden aller Art.
Dadurch wird die Staatlichkeit als solche geschwächt und an die Stelle einer im schmittschen Sinne repräsentativen Staatsgewalt tritt das Wirrwarr der Machthaber unterschiedlichster Größe und Art.
Diese neuen– oder auch alten, vorstaatlichen –politischen Gebilde sind durch das klassische Völkerrecht oft gar nicht faßbar. Mit dem Kriegsrecht europäischer Landkriege hat ihre Kriegsführung nichts zu tun. Ihre Verwaltung ist den Anforderungen des modernen Zeitalters in keinster Weise gewachsen.
Keiner der immer wieder an verschiedenen Stellen der Dritten Welt aufflammenden „neuen Kriege“ hat bisher eine neue Ordnung geschaffen, die diesen Völkern eine angemessene politische Form für das 21. Jahrhundert böte. Alles was dabei geschehen ist, ist die Beschädigung einer aus Europa übernommenen Staatlichkeit, die diesen Völker nicht paßt, welche sie aber ebensowenig ersetzen können. Aus diesem Grund, mehr als aus allen Kriegsgreueln, treiben all diese kleinen und großen Konflikte die Überschüssigen der Dritten Welt nordwärts.
quarz
Angesichts dessen empfinde ich immer ein großes Maß an Komik (die ich wegen des Ernstes der Situation leider nicht genießen kann), wenn Vertreter des Regimes der offenen Grenzen über Details der militärischen Landesverteidigung diskutieren.
Welcher Gedanke könnte unter der Prämisse der Merkelschen Territoriumspolitik anachronistischer sein als der, dass sich ein Invasionsaspirant anschickt, unter Aufbietung militärischer Mittel in Deutschland einzufallen? Wem der Sinn nach Eroberung steht, der schickt seine Leute unbewaffnet über die Grenze und bewaffnet sie hier.