Sie ist sogar aktueller denn je. Wenn es auf Erden mit rechten Dingen zuginge, müßte ein Buch wie Iwan Iljins Fundamentalkritik an Tolstojs defätistischen Idiotien heutzutage – also hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung – völlig veraltet sein. Doch wie die weltumspannende Herrschaft der Moralelite täglich zeigt, ist die Analyse Iljins nach wie vor dringend notwendig – leider! Dabei ist es unerheblich, daß die Propagandisten einer liberalen Duldungsstarre heute andere Namen tragen als zu Iljins Zeiten. Der Wahn, offenkundige Verbrecher zu schonen statt zu bestrafen oder wenigstens abzuwehren, grassierte bereits zu Iljins Zeiten (1883–1954).
Zahllose Angehörige aller Gesellschaftsschichten gaben sich, von Tolstojs Motto »Widersteht nicht dem Bösen« betört, einer hemmungslosen Kriminellenversteherei und einer als christliche Nächstenliebe verkappten Permissivität hin. Sie waren nach Iljins Überzeugung deshalb unfähig, auf die Revolution in ihrer Heimat und ihre mörderischen Folgen mit der nötigen Konsequenz zu reagieren. Eine fatale Konstellation, die nun die zerrütteten Gesellschaften des Westens kennzeichnet. Daher ist jeder darüber bekümmerte Zeitgenosse gut beraten, sich mit Iljins Argumentation vertraut zu machen. In Rußland erlebt der (viele Jahre in Deutschland lebende) Autor seit über einem Jahrzehnt eine erfreuliche Renaissance.
Eine ergiebige Lektüre setzt indes eines voraus: Der Leser sollte von seinen (post)modernen Vorurteilen und Reflexen absehen und sich auf den mittlerweile ungewohnten Tonfall und geistigen Raum dieses Philosophen einstellen, denn Iljin argumentiert metaphysisch. Dies ist auch nötig, weil das Gutmenschentum Tolstojscher wie jeder anderen Prägung zwar leicht widerlegt ist (man muß es nur konsequent zu Ende denken), eine taugliche Lösung des Problems aber, wie man das christliche Gebot der Feindesliebe leben soll, auf den aporienreichen Pfaden liberaler Denkmuster nicht erreicht werden kann. Daher holt Iljin in seiner Antwort auf diese Frage weit aus und untersucht zunächst das Wesen von Gut und Böse und die Stellung des Menschen in diesem Spannungsfeld.
Dabei wird deutlich, daß es, liberalen Illusionen zum Trotz, keine neutrale Zone zwischen Gut und Böse gibt, in die sich der bürgerliche Skeptiker oder liberale Vulgärhumanist bequem zurückziehen könnten, um sich die Hände nicht an den Häßlichkeiten der Realität schmutzig zu machen. Wer meint, sich angesichts des offenkundigen Bösen einer abwehrenden Tat, ja sogar eines verneinenden Urteils enthalten zu können, unterliegt einem fatalen Irrtum. Denn in Wirklichkeit ergreift man durch diese Pseudoneutralität für das Böse Partei. Echter Widerstand gegen das Böse sieht, wie Iljin in den konstruktiven Schlußkapiteln seiner Arbeit zeigt, völlig anders aus. Iljin plädiert als orthodoxer Christ für eine feinabgemessene Gewaltanwendung. Denn wenn das Böse in einer gefallen Welt eine solche Anomalie darstellt wie die Krankheit, dann ist der Einsatz von Arzneien notwendig, freilich wohldosiert und unter ständiger Kontrolle.
Nach Iljins Sicht verhält es sich mit dem offenen Bösen und seiner gewaltsamen Abwehr ebenso. Dazu verweist er auf historische Beispiele wie die erfolgreiche Befreiung Rußlands vom Tatarenjoch, die durch das Zusammenwirken der weltlichen Macht russischer Großfürsten mit der geistigen Macht der Kirche durch Heilige wie den hl. Sergius von Radonesch ermöglicht wurde. Wem der Verblendungsgrad der liberal verbildeten Stände bekannt ist, wird nicht über die hysterische Wut verwundert sein, die Iljins Abhandlung in seiner damaligen, offenkundig bis ins Mark getroffenen Leserschaft hervorrief.
Von Sowjetintellektuellen über exilierte Sozialdemokraten und bekehrte Marxisten bis zu Spiritistinnen lehnten alle avantgardistischen Kräfte Iljins Pazifismuskritik so einmütig wie vehement ab. Außer der (leider nicht ganz glatten) Übersetzung, einem klug-erläuternden Vorwort aus der Feder von Adorján Kovács und editorischen Anmerkungen des Herausgebers, einem Literatur- und Bibelstellenverzeichnis bietet die jüngst erschienene Ausgabe der Edition Hagia Sophia ihrem Leser auch eine gelungene Zusammenfassung jener kritischen Reaktionen und Iljins Antwort auf den seriösen Teil dieser Einwände sowie einen Aufsatz über den Wert von Iljins Theorie eines christlichen Widerstandes für unsere Gegenwart.
Die Illustrationen verleihen dieser ohnehin schon gehaltvollen Ausgabe einen besonderen Glanz; die Reproduktionen historischer Gemälde des viel zu früh verstorbenen russischen Malers Pawel Ryschenko unterstreichen auch in Schwarzweiß höchst nachdrücklich, was Iwan Iljin nicht nur in dieser Polemik bewegte.
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Iwan Iljins Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse kann man hier bestellen.
t.gygax
Zitat:" Tolstojs defätistische Idiotien" - das ist schon sehr hart formuliert, aber es dürfte stimmen.
Tolstoi lebte in einer selbstgeschaffenen Traumwelt, literarisch ist so etwas fruchtbar, politisch und auf das alltägliche Leben bezogen eine einzige Katastrophe.
Unsere Politiker leben auch in einer Traumwelt, und deswegen sind die Folgen ihres Handels so katastrophal für die, die das Ganze ausbaden müssen, also das Volk- oder das "Pack", wie Herr Gabriel, ein sozialer Demokrat, zu sagen pflegte.