Wer kann eigentlich noch Kinder wirklich führen und wer verzweifelt daran? Wie schwer fällt es, gegen Mediensucht und Konsumzwang anzuerziehen? Was ist der Fehler im Schulsystem – Konformitätsleistungsdruck oder Kuschelpädagogik? Wie passen Wohlerzogenheit und muthafter Sinn zusammen? White flight auf Privatschulen und aufs Land, oder ist Widerstand am Puls der Zeit noch möglich? Leiden unsere Kinder unter dem Anderssein ihrer Eltern oder lernen sie daraus? Können wir überhaupt unsere Kinder nach unserem Bilde formen?
Sie sehen, ich plane. Ich plane (und schreibe schon!) ein Buch zum Thema „Erziehung“. Ausgehend von der Fragestellung, wie die konservativ-revolutionäre Reformpädagogik zwischen 1910 und 1945 nach dem Kriege langsam auf links gekrempelt werden konnte, und inzwischen Waldorfschulen, Jenaplan-Schulen und Montessorischulen beflissen derselben kulturmarxistischen Linie folgen wollen, lande ich in der Gegenwart.
Da die „Sezession-im-Netz“-Leserschaft wach durch diese Gegenwart geht und sich in einer großen Verantwortung ihren Kindern gegenüber sieht, brauche ich von den einen Lesern Erfahrungsberichte, und den anderen sollen diese später in gebündelter Form weiterhelfen.
Ein Aufruf also an Sie, werte Leser: kommentieren Sie, schicken Sie mir (pädagogendeutsch gesagt) best- und worst-practice-Beispiele, und wer das nicht öffentlich tun will, aber etwas loszuwerden hat, schildere mir seine Erfahrungen unter sommerfeld(at)sezession.de.
Bei Rudolf Steiner, Peter Petersen und Maria Montessori (um nur die drei Prominenten unter den Reformpädagogen zu nennen, auf die heute noch existierende Schulgründungen zurückgehen) finden sich verschüttete Grundlagen, die, einmal wieder zutagegefördert, gegenwärtigen Eltern den rechten Weg weisen können. Davon bin ich fest überzeugt. Ein Beispiel?
Es ist die aus dem Erwachsenen als dem reiferen Menschen ruhende, von ihm ausgehende Macht, und diese schafft zugleich zwischen dem Erzieher und dem Zögling die unbedingt erforderliche und wichtige Distanz; denn rechte Führung ist ohne solche Distanz unmöglich. Die Art dieser Distanz genau zu beschreiben, sie zu lehren, ist unmöglich. Es kann jemand mit den Kindern auf Du und Du sein, und jene Distanz ist da. Es kann ein Hauptmann der Reserve dastehen in der Schule, und es ist doch alles faul, keine Autorität, nichts als entweder gewaltsamer Friede oder albernes Treiben. Das Verhältnis, das ich hier meine, ist das des Führers zu seinem Gefolge. (Peter Petersen, Der Ursprung der Pädagogik, 1931)
Eltern müssen führen können. Äußerst zaghaft macht sich diese banale Einsicht wieder breit in der Ratgeberliteratur, meistens heißt es dann, man habe ja gelernt, daß reines Laissez-faire oder „antiautoritäre Erziehung“ nicht funktionieren, und dann sucht man sich Ersatzbegriffe für Führung, z.B. „Wertevermittlung“, „Verantwortung“, „Neinsagen“, „Grenzensetzen“.
Die Werte, Verantwortungen, no-gos und Grenzen bleiben aber grundsätzlich: höchstpersönliche. Weil ja jedes Elternteil ganz individuell drangeht und man ja niemandem „Vorschriften machen kann“, weder den Eltern noch den Kindern. Irrtum, Führung ist objektiv.
Führen ist zuerst einmal: Nichtinfragestellen. An dieser Stelle muß dekadenten Gestalten – sehr wohl auch bisweilen der dekadenten Gestalt in uns selbst – wieder aufhelfen, die des Zweifels voll sind: Kann ich das meinem Kind zumuten? Was mache ich, wenn es das nicht will? Wie setze ich mich durch? Müssen wir nicht einen Kompromiß finden? Und wenn mein Kind mich dann nicht mehr mag? Wie können wir beiden Eltern uns auf eine Linie einigen?
Mit Kierkegaard ist zu sagen: es ist verdammt schwer, sich aus dem Zweiflermodus wieder am eigenen Schopf herauszuziehen und auf dem Trockenen gesicherter Erkenntnis (oder festen Glaubens) wieder abzusetzen. Wenn man da wieder steht, kann man überhaupt erst zu Führen beginnen. Denn was einmal zur Debatte steht, ist nur durch einen radikalen Akt der Setzung zu beenden.
Setzung ist das Lebenselixier der Erziehung. Das pädagogische Credo lautet: „Weil ich das so entschieden habe“. Nehmen wir als Beispiel das Sich-Widersetzen gegen den Konsum. Mir sagte einmal eine kluge Mutter: „Im Grunde ist Erziehung immer nur Erziehung gegen den Konsum“.
Spielsachen‑, Süßigkeiten‑, Medien- und Freizeitpark-Konsum bilden das regressive Moment. Unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, Habenwollen, Mehrhabenwollen, Nichtaufhörenkönnen, Sichfestnuckeln am Lolli oder am Bildschirm sind urtümliche, kleinkindhafte, Entwicklungpsychologen sagen „orale“, Bedürfnisse. Für ein Stillkind völlig normal und altersgemäß. Kulturanthropologisch ist gegen Regression auch erst einmal nichts einzuwenden (man denke nur an Orgien, an Karneval oder Geschreiveranstaltungen aller Art). Das ist die menschliche Natur, zumindest ihre eine Seite.
Mit Helmuth Plessner kann man dieser Seite allerdings einiges entgegenhalten, denn „der Mensch ist von Natur aus künstlich“. Er bedarf nämlich, um nicht ewiges Kleinkind oder ewiger Urmensch zu bleiben, künstlicher Setzungen. Wer dem Kleinkindstadium und dem Urmenschenstadium glücklich entwachsen ist, sich also Erwachsener nennen darf, hat der Regression aktiv etwas entgegenzusetzen. Ich setze, also bin ich erwachsen. Setzung ist indes nicht nur Gebrauch von Künstlichkeit gegen Natur, sondern auch Begründungsstop.
In der Praxis bedeutet das: Eltern müssen nicht begründen und erklären und rechtfertigen, warum wieso und weshalb Lollis schädlich sind, der Fernseher ausgeschaltet wird und es kein neues Auto gibt. Klar, kann man auch mal machen, als lehrreiche Erzählung, aber erzieherisch wirksam ist die unverbrüchliche, voraussetzungslose und ungerechtfertigte Setzung. Klingt autoritär, ist es auch.
Das Problem ist, wie ich oben auch schon angedeutet habe, daß Autorität gegenwärtig perverserweise in der Defensive ist, die Beweislast hat der Setzende, nicht der Zersetzende. Der Begründungsstop gilt also offensichtlich auch für die pädagogische Theorie – stand your ground ist wichtiger und stärker als der Sog der „kritischen Erziehungswissenschaft“ (über die ich in der aktuellen Sezession No. 84 schreibe).
Es gibt Eltern, die die Notwendigkeit von Setzung eingesehen haben, manche davon sind Jesper-Juul-Leser, die sich durchaus trauen zu sagen „Kannst dich beruhigen, Kind, ich entscheide das für dich“, die aber dann den Kindern gegenüber anheben zu erklären, warum sie dies tun. Dieser Anfechtung gegenüber, dem gemeinen Rechtfertigungsdruck, geben viele Eltern nach, sie sind infiziert vom Augenhöhevirus der Post-68er-“Familienkonferenz“. Petersens Distanz steht auf dem Spiel.
Der einsame Ausreißer unter den psychotherapeutisch orientierten Elternratgebern (leider ist der Autor 2011 verstorben) ist Wolfgang Bergmanns „Gute Autorität“ aus dem Jahre 2005:
Deshalb sage ich – entgegen der Lehrmeinung der offiziösen Erziehungswissenschaften und der allermeisten pädagogisch-psychologischen Ausbildungsinstitutionen: Vater und Mutter haben die Aufgabe, Halt und geben und innere und äußere Ordnung zu stiften. Das geht im wirklichen Leben nicht mit vernünftigen Argumenten und nicht mit einem freien Austausch von Interessen, es geht nur mit Autorität.
In den obengenannten reformpädagischen Schultypen (Waldorf, Montessori, Jenaplan) geht es „im wirklichen Leben“, sprich im Klassenzimmer, entgegen aller linken Projektionen und antiautoritären Wunschvorstellungen auf diese „freien“ Schulen, genau im bergmannschen Sinne gut autoritär zu.
In der Jenaplan-Zeitschrift „Kinderzeit“ (No. 37, 2014) beschreibt der alte Pestalozzipädagoge Arthur Brühlmeier, was der Lehrer in der Klasse mit seiner – ja, er spricht positiv davon! – Macht anfängt: Er übt sie aus und fordert Gehorsam ein, was auch sonst?
Das tut er ganz gewiss nicht, um seine Machtgelüste zu befriedigen. Im Gegenteil: Es ist sehr lästig, wenn man Macht ausüben und den Gehorsam einfordern muss. Aber man tut es trotzdem, damit der Schüler lernt, die tragenden Regeln einer Situation zu erkennen und sich – soweit diese moralisch verpflichtend sind – an sie zu halten. Eine Autorität, die Gehorsam fordert, tritt somit im Wesentlichen immer als Hüterin einer lebensregelnden Situation auf.
Mit diesem theoretischen Marschgepäck ließe sich doch für unser aller reale Erziehungsaufgaben etwas anfangen. Wären da nur nicht diese Zweifel, dieses Schulsystem, diese verfluchte Einsamkeit derjenigen, die sich mit Petersen die Frage stellen:
„Seid Ihr, Erwachsene, innerlich bereit, zu führen als Eltern, Freunde, Verwandte, bestellte Erzieher?“
Franz Bettinger
In der Tat, liebe Frau Sommerfeld, ideale Eltern sind Vorbilder und Führer. Das sind aber die wenigstens, denn das wird man nicht mittels Perspektiven-Wechsels, psychologischer Tricks oder Erziehungs-Tipps, mE auch nicht durch willkürliche Setzung, sondern nur dadurch, dass man als Vater oder Mutter selbst auf möglichst vielen Gebieten - ganz unabhängig von Erziehungs-Aspekten - Kompetenz erwirbt. Führer sind Menschen, die praktische Lösungen parat haben, diese gekonnt begründen und, erst wenn das nichts nutzt, mit der Faust auf den Tisch hauen und Basta sagen, statt ellenlang herum zu theoretisieren. Aber bitte in dieser Reihenfolge! Kinder sind voller Fragen. Sie wünschen altersentsprechende, plausible Antworten. "Du kannst nicht immer gewinnen," sagte meine Mutter selig, "aber du kannst immer dein Bestes geben. Also lern was und werd was!" - Führen wollen heißt zunächst mal, kompetent werden. Das wird man nicht beim E-Berater, sondern durch Arbeit an sich selbst. Da sich die meisten Erziehungs-Ratgeber an Inkompetente richten, führen sie - freundlich gesagt - zu suboptimalen Ergebnissen.