Im Jahr 1958 teilte der chinesische Diktator Mao Zedong (1893–1976) einem sowjetischen Gesprächspartner mit, in der Volksrepublik China gebe es sehr wohl noch Kapitalisten, gleichwohl sei der Staat unter Kontrolle der Kommunistischen Partei. Diese Feststellung hat – grosso modo– bis heute nichts an Wahrheitsgehalt eingebüßt. Auch wenn die marktwirtschaftliche, also: kapitalistische Entwicklung heute freilich bedeutend fortgeschritten ist, bleibt die KPChherrschende Kraft in der 1,4‑Milliarden-Nation.
Nun würde aber Helwig Schmidt-Glintzer, Direktor des China Centrum Tübingen, bereits dem ersten Satz dieser Rezension widersprechen. Denn für den Kultur- und Sprachwissenschaftler, der bereits mehrere kundige China-Monographien publizierte, war Mao kein Diktator im eigentlichen Sinne, sondern »ein Visionär, der von der großen Befreiung träumte«, der eben »weniger als Diktator denn vielmehr als Vollstrecker von Handlungsoptionen«zu verstehen wäre. Auf Grundlage dieser affirmativen und quasimaoistischen Grundannahme schreibt Schmidt-Glintzer Maos Lebensgeschichte im Kontext der chinesischen Geschichte.
Deutlich wird: Mao war zeitlebens kein Dogmatiker, sondern reagierte flexibel auf Probleme und Hindernisse, zeigte sich weltanschaulich und strategisch höchst wandelbar (kritischer gefaßt: opportunistisch) und hatte neben der sozialen Frage immer die für ihn bisweilen übergeordnete Frage, die nationale, im Blick. Das ist verständlich angesichts der konkreten chinesischen Zerrissenheit im frühen 20. Jahrhundert, angesichts der konstanten japanischen (und kolonialen) Bedrohung, angesichts von Warlords und Feudalherren, die das Reich der Mitte in unzählige separate Herrschaftsbereiche aufspalteten.
Das ist aber nicht zuletzt auch deshalb verständlich, weil die Konfliktlinien zwischen Arbeit und Kapital in vielen Regionen Chinas deckungsgleich mit den Konfliktlinien zwischen Chinesen und externen Mächten verliefen. Anders gesagt: Die nationale Frage eines zu schaffenden einigen Chinas korrelierte mit der sozialen Frage in Form von fremder Ausbeutung und Massenarmut der Chinesen. Mao selbst wußte um diese Kongruenz und forderte wiederholt, daß die Bedingungen des Marxismus niemals abstrakt, sondern immer auf die konkreten Besonderheiten Chinas angewandt werden müßten, ja daß der Kommunismus in China eine »bestimmte nationale Form«finden müsse. Es ist dies ein Aspekt, der von Schmidt-Glintzer deutlich herausgearbeitet wird.
Ebenso deutlich wird in vorliegendem Werk das – je nach Jahreszahl – kooperative, dann schwierige, konfliktbeladene bis feindliche Verhältnis zwischen Maos Kommunisten (denn sie folgten ihm, auch wenn es über die Jahrzehnte etliche Gegenspieler innerhalb der KPC gegeben hatte) und der Nationalen Volkspartei (Guomindang) von Generalissimus Tschiang Kai Schek (1887–1975). Der Konflikt wurde wiederholt zum Bürgerkrieg (ca. 1927–1937, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder 1946–1949) und führte bis zur heute bestehenden Spaltung Chinas in die Festland-Volksrepublik einerseits und den Inselstaat Taiwan (Republik China) andererseits, wohin sich Tschiang mit seinen Getreuen zurückzog.
Werden diese einzelnen Punkte plastisch dargestellt, so bleibt insgesamt doch zu konstatieren, daß der Forschung keinerlei Ergebnisse geboten werden können, die nicht bei anderen Mao-Biographen – zuletzt Alexander V. Pantsov und Steven I. Levine – ohnehin schon, ausführlicher und stärker faktenbasiert zumal, vorliegen. Denn erschwerend hinzu kommt die karge Archiv- und Primärquellenexegese. Der Autor stützt sich auf eine (in der Relation: kleine) Auswahl an Sekundärliteratur; chinesische oder sowjetische Quellen, die beispielsweise als unverzichtbar für das Schwankungen unterworfene Verhältnis zwischen Stalin und Mao anzusehen sind, wurden gar nicht erst konsultiert. Auch ideen- und realpolitisch klaffen Lücken: Der Ausblick auf den Maoismus als global auftretende Spielart des Marxismus-Leninismus fällt oberflächlich aus; europäische Mao-Adepten wie der albanische Diktator Enver Hoxha werden nicht einmal im Personenregister aufgeführt.
Das Ziel des Autors, eine Biographie Mao Zedongs vorzulegen, wird daher nicht erreicht. Was vorliegt, ist eben keine Biographie (weder eine politische noch eine integrale), sondern ein apologetischer Großessay, dessen letztendliche Ignoranz gegenüber den Dutzenden Millionen Toten in Folge von Maos Politik – er habe anders als Stalin das Massensterben nicht bewußt herbeigeführt, sondern »nur«beobachtet – auch dann noch verblüffend bleibt, wenn man Schmidt-Glintzers These, Mao habe Chinas nationale Frage als Einiger der Nation relativ erfolgreich gelöst, zustimmte. Wenn dann noch formuliert wird, in Maos Person »verbanden sich Charisma, Genie und das Gefühl, auf der Höhe der Zeit zu sein«, dann dürften selbst des Deutschen mächtige Kader der chinesischen KP-Nomenklatura ein wenig peinlich berührt sein.
Helwig Schmidt-Glintzers Mao Zedong – Biographie kann man hier bestellen.