Igor R. Schafarewitsch: Der Todestrieb in der Geschichte. Erscheinungsformen des Sozialismus, Grevenbroich: Lichtschlag 2016. 472 S., 24.90 €
Wenn jemand das Unglück hat, ein politisches Großexperiment als menschliches Versuchskaninchen ungefragt durchmachen zu müssen, kann er sich auf zweierlei Weise dazu verhalten. Er kann dem Gesamtbau der Versuchsanlage einen quasielementaren Charakter zumessen. Dann wird er all ihre Unstimmigkeiten »sehen ohne zu sehen«, wodurch er vorbehaltlos in der Anpassung seiner selbst an die alltäglichen Erfordernisse der Kulissenwelt verwegener Sozialingenieure aufzugehen vermag. Er kann andererseits die Webfehler nicht nur wahrnehmen, sondern über sie auch ins Nachdenken geraten. Wenn sich zu einer solchen unbeirrbaren Wahrnehmung noch der messerscharfe Verstand eines reich begabten Geistes gesellt, kommt dabei ein einzigartiges Buch wie Igor R. Schafarewitschs Der Todestrieb in der Geschichte heraus.
Anders als der Titel es vermuten ließe, wildert hier kein Schwatzfachwissenschaftler auf psychoanalytischem Terrain. Vielmehr präsentiert hier ein Gelehrter alten Schlages das Ergebnis seines jahrelangen Nachdenkens und Diskutierens über die Frage: Was ist hier eigentlich los? Als brillanter Mathematiker, der früh Bahnbrechendes in seiner Disziplin geleistet hat, ging Schafarewitsch (Jahrgang 1923) bei der Suche nach einer befriedigenden Antwort äußerst gründlich vor. Seine profunden historischen Kenntnisse, seine Belesenheit und sein literarisches Talent ermöglichten es ihm, ein als Aufsatz konzipiertes Thesenpapier zu einem umfangreichen Buch zu erweitern, das seinen Leser von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann schlägt. In den ersten Abschnitten spannt Schafarewitsch den Bogen seiner Betrachtung über gut 4000 Jahre Menschheitsgeschichte. Sozialistische Lehren in Gestalt der mittelalterlichen Ketzer-bewegungen, neuzeitlichen Utopien und des Aufklärertums stellt er ebenso ausführlich vor wie den Sozialismus als Praxis gesellschaftlichen Zusammenlebens, wie er im Staatssklaventum zentralistischer Reiche für Jahrtausende im Alten Orient und im vorkolumbianischen Amerika bestanden hat – ein wahrlich globaler Maßstab!
Im dritten Abschnitt arbeitet Schafarewitsch in bester russischer Tradition des nüchternen wie radikalen Zuendedenkens aus den öffentlichen wie privaten Äußerungen von Ideologen, Predigern und Revolutionären des politischen Sozialismus vier Grundzüge des Sozialismus heraus: die Aufhebung von Privateigentum, Familie, Religion und gesellschaftlicher Unterschiede. Er legt dabei stimmig dar, daß diese Bestrebungen von einem Grundprinzip, der Herstellung von Gleichheit, abgeleitet sind. Schafarewitsch zufolge zielt der Sozialismus in all seinen Erscheinungsformen und Maßnahmen auf die Uniformierung ab, auf die Schräubchenwerdung des Einzelnen in der Staatsapparatur.
Einer Erklärung bedarf jedoch die Attraktivität von Lehren, die auf die letztliche Vernichtung des Menschen abzielen. Schafarewitsch kann sich dieses Rätsel nur damit erklären, daß er in den sozialistischen Bestrebungen Einzelner wie ganzer Gesellschaften Manifestationen einer beständigen historischen Elementarkraft sieht, eine Art immanenten Trieb im Menschen, der unbewußt nach Befriedigung drängt und auf jedes Hindernis mit gesteigertem Appetenzverhalten reagiert. Hier verbirgt sich Schafarewitschs wohl verstörendster Befund, der dazu angetan ist, beide Grunddogmen der Gegenwart, den naiven Fortschrittsglauben und das Axiom von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, zu erschüttern. Der zerstörerische Siegeszug jener wütend-regressiven Reaktion auf das freiheitliche Denken und seine Lebensordnung, der spätestens seit 1917 weltweit in der Wiedererrichtung des Staatssklaventums gipfelt, zeigt, daß eine Errungenschaft wie die Entstehung der Lehre von der Würde und dem Wert des Einzelnen und seiner freien Entfaltung keineswegs spontan oder naturnotwendig auftauchen, sondern einmalige, zerbrechliche schöpferische Leistungen des menschlichen Geistes sind.
Den einzigen Ausweg aus der menschenmörderischen Regression in den Sozialismus bietet daher nicht das Abwarten der nächsten Raddrehung oder eines hoffentlich baldigen Pendelschwungs, sondern der Willensakt des Einzelnen, dagegenzuhalten (und sei’s umständehalber auch nur innerlich).
Einerlei, wie weit man Schafarewitsch in seinen vielschichtigen Überlegungen folgen kann und mag, die Beschäftigung mit seinen Gedankengängen lohnt sich schon wegen des umfangreichen Materials an Fakten. Deshalb ist es erfreulich, daß der Lichtschlag Verlag dieses Buch einer interessierten Leserschaft wieder zugänglich gemacht hat. In seinem kundigen Vorwort bietet Dimitrios Kisoudis eine Fülle von Angaben zu Leben, Denken und Wirken Schafarewitschs, die zum tieferen Verständnis seiner Auseinandersetzung mit dem Sozialismus beitragen und helfen, den Wert seines »Todestriebes in der Geschichte« zu ermessen. Gut vierzig Jahre nach seinem Entstehen unter Samisdatbedingungen ist die Bedeutung dieser radikalen Analyse ungebrochen – zumal die Welthistorie nach ihrem lautverkündeten Ende inzwischen spürbar an Fahrt gewonnen hat.
Igor R. Schafarewitschs Der Todestrieb in der Geschichte kann man hier bestellen.