Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Britta Schröder, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2016. 764 S., 34.99 €
Wenn ein namhafter Historiker in fortgeschrittenen Jahren ein mutmaßliches Hauptwerk veröffentlicht, eine Art Summe bisheriger Erkenntnisse, propagiert der Verlag dieses rituell als Meisterwerk. Das ist auch im Fall von Ian Kershaw nicht anders, der besonders durch seine umfangreiche Hitler-Biographie (1998/2000) auf sich aufmerksam gemacht hat. In manchen Zunftkreisen gilt er seither als eine Art Säulenheiliger.
Betrachtet man den nun vorliegenden ersten Teil der auf zwei Bände angelegten Studie, so ist wenig Panegyrik angebracht. Die narrativen Fähigkeiten des Sheffielder Emeritus sollten keineswegs geringgeschätzt werden. Auch der Fachkundige kann von der detailreichen Abhandlung einiges lernen. Sie ist in erster Linie traditionell politikgeschichtlich angelegt. Die Kulturgeschichte spielt am Rande eine Rolle, sozialhistorische Erörterungen fehlen fast völlig, was nur eingeschränkt von Nachteil ist. Beispiele von persönlichen Schicksalen hellen den Text auf.
Die Verdienste des Autors ändern wenig daran, daß der Duktus der Schrift unausgegoren ist. Bereits die Perspektive Kershaws von den zwei Halbzeiten des 20. Jahrhunderts ist zu pauschal. Zwar gab es nach 1950 in Europa, trotz der Verbrechen in Ex-Jugoslawien, keinerlei genozidale Vorfälle mehr. Aber das Ringen zwischen Diktaturen und Demokratien, ein roter Faden des Verfassers, endete erst 1989, so sehr sich auch der osteuropäische Kommunismus in seiner späteren Phase vom Großtotalitarismus stalinistischer Prägung unterscheidet. Nur das westliche Europa ging nach 1949, als die pluralistisch-demokratische Ordnung anhob, einer besseren Zukunft entgegen. Die Einführung des Buches erzählt explizit von Europas Selbstzerstörung, die 1914 eingesetzt habe. Diese Sicht ist nicht falsch, aber doch zu grobschlächtig. Seit den 1930er Jahren wurde dieser Destruktionsprozeß nämlich keineswegs von »Europa«, sondern vornehmlich von Deutschland und der Sowjetunion vorangetrieben. Beide Mächte standen sich erstmals im Spanischen Bürgerkrieg gegenüber. Diese Auseinandersetzung erhält breiten Raum.
Es ist Kershaw zuzubilligen, daß er trotz einer linken und linksliberalen Optik um ein einigermaßen ausgeglichenes Urteil bemüht ist. Das kommt unter anderem in der Bewertung der Person Papst Pius’ XII.zum Ausdruck, weiterhin bei der Schilderung von Verbrechen an Deutschen in einigen osteuropäischen Ländern in der Schlußphase des Krieges und nach 1945. Angesichts der Mediokrität des ersten Teils hält sich die Vorfreude auf den zweiten in Grenzen.
Ian Kershaws Höllensturz kann man hier bestellen.