Das »kurze 20. Jahrhundert“ (Iván T. Berend) war das Zeitalter der radikalen weltanschaulichen Entwürfe. Zahlreiche Intellektuelle bewegten sich im Umfeld autoritärer und totalitärer Bewegungen: Sie wollten prägen und beeinflussen, lenken und korrigieren. Joachim Fest beschrieb den mitunter schmerzhaften Entwicklungsprozeß solcher Intellektueller als eine »Geschichte der Täuschungen und Enttäuschungen«; ein Verlauf, der in dieser Dialektik aus Hoffnung und Verzweiflung am eigenen ideologischen Milieu bei Kommunisten wie auch bei Faschisten oder Nationalsozialisten zu diagnostizieren ist. Dabei gilt für alle Seiten: Die Grenzgänger eines Spektrums sind spannender als die Stromlinienförmigen. So, wie im Faschismus die Lebenswerke dissidenter Träumer vom Typus eines Pierre Drieu la Rochelle oder eines Berto Ricci mehr Reiz aufweisen als die der strikt Parteigläubigen, so, wie im Nationalsozialismus nichts Gehaltvolles innerhalb der Führungs-clique, sehr wohl aber an den bewegungsoppositionellen Rändern um die »Schwarze Front« erdacht wurde, so ist auch im Kommunismus des vergangenen Jahrhunderts die Gestalt des Grenzgängers heute noch aufschlußreicher und anziehender als die des Dogmengelenkten.
Mit Mario Keßler hat nun ein Historiker mit bereits in zahlreichen Studien erwiesenem Wissensfundus über linke Intellektuelle eine Textsammlung vorgelegt, die zwölf Porträts kommunistischer Grenzgänger beinhaltet. Grenzgänger ist vor allem eine Abgrenzung: einerseits zum »Renegaten«, dem eifernden Ex-Kommunisten, und andererseits zum »Ketzer«, der zwar anderer Meinung als die Führung der jeweiligen kommunistischen Partei ist, sich ihr aber am Ende unterordnet. Der kommunistische Grenzgänger hingegen kann sich ein Leben ohne Partei vorstellen – seine Treue gilt der Idee, keiner Institution oder Person.
Insbesondere die Unterscheidung Renegat/Ketzer geht auf den Geschichtsschreiber der Russischen Revolution und ihrer Köpfe Isaac Deutscher zurück, der selbst zu den Porträtierten zählt. Es ist dies die – nach Ansicht des Rezensenten – interessanteste Einzelstudie im vorliegenden Band. Deutscher wird gezeichnet als ein akribisch arbeitender Historiker, der für seine Stalin-Biographie geradezu von Stalinisten als Trotzkist, von Trotzkisten als Stalinist bezeichnet wurde (dasselbe Spiel unter umgekehrten Vorzeichen gilt für seine mehrbändige Trotzki-Biographie) und »zwischen den Stühlen« ein intellektuell redliches Forscherleben führte.
Aus rechter Sicht sind sicherlich besonders Alfred Kantorowicz und Ruth Fischer von Interesse. Kantorowicz war vor seinem Beitritt zur KPDim Umfeld der Konservativen Revolution aktiv, publizierte in Hans Zehrers Tat und verlor die »deutsche Frage« weder vor noch nach seinem erzwungenen Exil – er war wie das Gros der Porträtierten jüdischstämmig – aus dem Auge.
Ruth Fischer hingegen sprach 1923 während der Ruhrbesetzung vor Kommunisten wie Nationalisten und wollte letzteren die Notwendigkeit eines fundierten Antikapitalismus injizieren, der mehr sein müsse als bloßes Ressentiment gegenüber jüdischen Unternehmern bei Duldung der »eigenen« Kapitalistenklasse. In mehreren Reichstagsreden appellierte sie indes an die nationalen Gefühle der Arbeiterklasse. Nach Weimar blieb sie eine zeitlebens Suchende zwischen den Polen Kommunismus und Antikommunismus; sie durchlebte mehrere weltanschauliche Wenden.
Diese zeitweiligen Grenzgänger nach rechts sind jedoch die Ausnahme: Überwiegend sind die Porträtierten undogmatische Sozialisten und Kommunisten, die aufgrund eigenständiger weltanschaulicher Wege in Konflikt mit der jeweiligenKP-Führung gerieten. Ob Karl Korsch, Arthur Rosenberg, Arkadi Maslow, Ossip Flechtheim, Susanne Leonhard, Walter Grab oder Stefan Heym – sie alle suchten nach Alternativen im Kommunismus. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, möchte man den idealistischen Materialisten hinterherrufen, ihnen, die selbst nach erlittener Verfolgung und Folter fest an der kommunistischen Idee festhielten. Mario Keßler stellt zwar unter Beweis, daß seine publizistische Vorliebe für vom Kommunismus verfemte Kommunisten weiterhin ertragreich ist, muß sich selbst aber die Frage gefallen lassen, ob ihm tatsächlich an der Freiheit des (gedruckten) Wortes gelegen ist – oder nur dann, wenn diese innerhalb des eigenen linken Solidar-Milieus in Gefahr ist. Denn Keßler zählte zu jenem tobenden Personenkreis, der die Publikation der deutschsprachigen Edition der Trotzki-Biographie von Robert Service (Berlin 2012) aus ideologischen Gründen verhindern wollte.
Grenzgänger des Kommunismus. Zwölf Porträts aus dem Jahrhundert der Katastrophen von Mario Keßler kann man hier bestellen.