Daniele Giglioli: Die Opferfalle. Wie die Vergangenheit die Zukunft fesselt, Berlin: Matthes & Seitz 2015. 126 S., 14.90 €
Opfer zu sein lohnt sich: Wer etwas erleidet, hat in unserer Gesellschaft nicht nur Anspruch auf Mitleid, sondern auch auf Ansehen und materiellen Ausgleich. Der Opferstatus erlangt auf diese Weise eine gewisse Attraktivität, sodaß die Versuchung groß ist, sich die Opferrolle einfach anzueignen. Nun ist aber längst nicht jedes Opfer willkommen – schon in mythischen Zeiten waren die Götter wählerisch und lehnten manches Opfer ab.
Die Götter sind entschwunden, doch die Ungleichbehandlung der Opfer ist geblieben. Opfer linker oder migrantischer Gewalt etwa können hierzulande nur sehr begrenzt auf Zuspruch hoffen. Es ist vor allem ein bestimmter Opfertypus, der heute gern gesehen ist: der »Flüchtling« unserer Tage repräsentiert das zeitgeistkonform idealtypische Opfer. Zum Flüchtling wurde er aufgrund westlicher Aggression – die reicht vom Imperialismus und Kolonialismus vergangener Tage über die politisch, ökonomisch oder militärisch begründete Intervention westlicher Mächte in ethnische oder religiöse Konflikte bis hin zur Ausbeutung durch Tourismus und Handel.
Kommt man aus einer dieser Regionen, hat man die Opferlizenz schon in der Tasche. Ist der Flüchtling unter (oft nur unterstellter) Lebensgefahr und Aufbietung aller finanziellen Kräfte seiner Sippe mit Hilfe von Schleusern schließlich in Europa angekommen, erfährt er als Opfer eine weitere Veredelung: Er wird aufgrund seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner kulturellen Eigenarten ausgegrenzt, verachtet, missachtet und damit zum Opfer alltagsrassistischer Ideologie und – sofern es dabei handgreiflich wird – gar zum »Opfer rechter Gewalt«, was die derzeit höchstmögliche Auszeichnung sein dürfte.
Ein solcher Opferstatus ist quasi unangreifbar – das zeigt nicht zuletzt das Beispiel jener Linken-Politikerin, die Ende Januar von »Geflüchteten« vergewaltigt wurde und sich danach auf Facebook bei den Tätern entschuldigte: »Für uns beide tut es mir so unglaublich Leid. Du, du bist nicht sicher, weil wir in einer rassistischen Gesellschaft leben. Ich, ich bin nicht sicher, weil wir in einer sexistischen Gesellschaft leben.« Opfer zu sein, immunisiert gegen jede Kritik. Es gibt Opferstolz, Opferkonkurrenz, Opferneid. Die Pervertierung der Opferrolle im Zeichen irregeleiteter Humanität und hyperventilierender Moral ist politische Leitkultur – nicht zuletzt auch mit Blick auf die deutsche Vergangenheit.
Eine große Schwäche des Opferkults besteht freilich darin, daß die ständige Wiederholung der Vergangenheit die Perspektive auf die Zukunft ausschließt. Daniele Giglioli, Dozent für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bergamo, geht diesen Zusammenhängen in einer lesenswerten Abhandlung nach. Im Zentrum steht die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß die an sich nicht beneidenswerte Position des Ohnmächtigen zu etwas ungeheuer Machtvollem werden konnte, das sogar Identität stiftet: Man ist, was und wer man ist, als Opfer. Genauer: als Opfererzählung, denn Identität ist Narrativ. Giglioli widmet sein Büchlein jenen Opfern, die keine mehr sein wollen.
Die Opferfalle von Daniele Giglioli kann man hier bestellen.