Als Verfasser und Herausgeber gewichtiger Standardwerke und Sammelbände zu Richard Wagner hat der Hamburger Politologe Udo Bermbach in den letzten Dekaden entscheidend dazu beigetragen, das Werk des Komponisten von den Altlasten der völkischen und nationalsozialistischen Wirkungsgeschichte zu befreien und dessen revolutionäres Kunstverständnis auch für liberale und linke Zeitgenossen zurückzuerobern.
Daß Bermbach in seinem neuesten Werk, einer umfangreichen Biographie über Houston Stewart Chamberlain, den Versuch einer solchen Ehrenrettung unternimmt, stellt ein weit größeres Wagnis dar, denn niemand scheint mit seiner Person wie mit seinem Denken so exemplarisch für die Kontinuität von Wagner zu Hitler einzustehen wie dieser epochal wirkmächtige Großpublizist, der schon frühzeitig freundschaftliche Beziehungen zu Cosima Wagner pflegte, später dann deren Tochter Eva Wagner ehelichte und an seinem Lebensende im Wagnerianer Hitler den Retter Deutschlands zu erblicken glaubte.
Doch wenn der gebürtige Engländer, der als Gesinnungsdeutscher gleichwohl nie die deutsche Staatsbürgerschaft annahm, nach dem durchschlagenden Erfolg seiner Wagner-Biographie auch zum intellektuell potentesten Wortführer des Bayreuther Kreises aufstieg, so wahrte er dabei stets seine geistige Unabhängigkeit, wie sie erstmals in seinem 1899 erschienenen Hauptwerk Die Grundlagen des XX. Jahrhunderts zum Vorschein kam, das in ganz Europa sowie den Vereinigten Staaten rasch zum Bestseller wurde.
Seinen größten weltanschaulichen Einfluß übte Chamberlain jedoch im Deutschland des zweiten Kaiserreiches aus – nicht nur auf adlige und bildungsbürgerliche Kreise, sondern auch auf den deutschen Kaiser selbst, der in ihm seinen Meisterdenker fand. Im übrigen bezeugen seine Bücher über Goethe und Kant, die seinerzeit die Bewunderung der Fachwelt erregten, daß sich dieser geistig vielseitige und weltoffene Denker keineswegs nur als völkischer und antisemitischer Meinungsbildner profilierte. Infolge seiner nationalsozialistischen Vereinnahmung ist in Vergessenheit geraten, daß Chamberlain noch als Verfechter eines »arischen Christentums« den Akzent auf das Hauptwort setzte und zumal in seinen letzten Schriften einem mystisch verinnerlichten und gnostisch entweltlichten Christentum auf der Spur war.
Als nicht genug zu lobender Vorzug dieser dichten und reichen Werkbiographie imponiert, daß der Autor nirgends in populärwissenschaftlichen Biographismus abgleitet, sondern seinen problematischen Helden als Denker ernst nimmt. Theoretisch ambitioniert und mit stupender Sachkenntnis folgt er bis ins Detail Chamberlains Gedankengängen und bietet dem Leser kompakte Rekonstruktionen von dessen großen wie kleinen Werken, nicht ohne diese in die Debatten ihrer Zeit einzubetten und obendrein mit der aktuellen Forschungslage abzugleichen.
Gegen gängige Klischees zeichnet Bermbach so das Portrait eines naturwissenschaftlich wie kulturhistorisch hochgebildeten Privatgelehrten, der Zeit seines Lebens unermüdlich am Studieren war und auch in seinem eigenen Schaffen auf wissenschaftliche Genauigkeit größten Wert legte. Insofern nimmt er Chamberlain beim Wort, wenn er sich selbst bei der Erörterung von dessen Rassenlehre nicht scheut, die Spreu vom Weizen zu trennen und deren wissenschaftlich belastbare Ansätze unter ihrer ideologischen Überformung freizulegen.
Mit wohlwollender Ambivalenz entfaltet Bermbach ferner Chamberlains integrativen Begriff des Germanentums, welcher zwar dem des Judentums schroff entgegengesetzt war, dafür aber die Slawen und Kelten mitumfaßte, wodurch jener zumindest für den nordischen Mythos und die antislawistische Propaganda der Nationalsozialisten unbrauchbar wurde. Als ähnlich schillernd erweist sich sein Rassenbegriff, der sich nicht auf Blutmäßiges beschränkte, sondern immer auch Geistiges einbezog.
Erklärtermaßen wollte Chamberlain damit den Juden, mit denen er stets respektvollen Umgang pflegte, die Möglichkeit einer Emanzipation von ihrem Judentum offenhalten, mochte dessen Rassencharakter ihm noch so verhaßt sein. Und was schließlich die »Ideen von 1914« betrifft, so suchte Chamberlain den britischen Imperialismus mit einer »deutschen Kulturmission« zu parieren, die sich in keiner politischen Zwangsherrschaft, sondern einer kulturellen Schirmherrschaft über Europa erfüllen sollte.
Vor diesem Hintergrund hält Bermbach jenen berüchtigten Huldigungsbrief, den der alte Chamberlain an den jungen Hitler schrieb, für eine durchaus überbewertete Fehlleistung, denn der 1923 bereits schwer an Parkinson erkrankte Metapolitiker war schlicht nicht mehr in der Lage, sich von seinem Totenbett aus mit der nationalsozialistischen Realpolitik zu befassen.
Es nimmt nicht wunder, daß Bermbach sich bereits im Vorwort seines nicht eben politisch korrekt ausgefallenen Werkes durch die Erklärung abzusichern gesucht hat, er beabsichtige keineswegs eine Rehabilitierung Chamberlains, denn die Revision, welcher er dessen Lebens- und Denkweg unterzogen hat, kommt einer solchen erstaunlich nahe.
Udo Bernbachs Chamberlain-Biographie kann man hier bestellen.