Die Masse, das sind immer die anderen. Über die Masse redet man – zumal in konservativen Kreisen – gern naserümpfend. Doch es ist nicht bloß eine physikalische Einsicht, daß zwischen Masse einerseits und Energie andererseits ein innerer Zusammenhang besteht. Das gilt auch in politischer Hinsicht, man denke an Marx (die Masse als revolutionäres Potential) oder an soziologische Termini wie »gerichtete Masse«, »Hetzmasse«, »Fluchtmasse« oder »Umkehrungsmasse«. Masse ist stets eine sehr reale Kategorie und dabei keineswegs nur kulturkritisch negativ zu deuten, sondern als positive Größe, mit der arbeiten muß, wer politische Einflußnahme erlangen will.
Umso erstaunlicher, daß die letzten großen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen »Masse« sich mit Namen wie Le Bon, Freud, Canetti, Ortega y Gasset, Kracauer und Broch verbinden und größtenteils Generationen zurückliegen. Seither hat man – vor allem in Kunst, Philosophie und Literatur – über die eingehende Betrachtung der Einsamkeiten des Individuums das Gespür für die Macht der Masse selbst verloren – man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.
Die Masse als wesentlichen politischen Akteur wiederzuentdecken (nicht bloß im Sinne einer ökonomisch relevanten Konsumentenmasse) wäre also eine wichtige Aufgabe. Stefan Jonssons Verdienst ist es, hierzu wichtige vorbereitende Arbeiten unternommen zu haben. Nach A Brief History of the Masses: Three Revolutions (2008) liegt jetzt mit Masse und Demokratie: Zwischen Revolution und Faschismus eine begrifflich-historische Aufarbeitung zum Thema vor, fokussiert auf die 20er und 30er Jahre in Deutschland und Österreich.
Jonsson, Professor am Institut für Migrations- und Sozialforschung an der Universität Linköping, erforscht das Spannungsfeld der Masse zwischen Bedrohung und Faszination, trägt also sowohl der kritischen Bewertung des Phänomens Masse als auch der Anerkennung ihres Bewegungspotenzials Rechnung. Berücksichtigt werden kultur- und geisteswissenschaftliche, ästhetische und politische Perspektiven. Dies geschieht überaus gründlich, was sich auch daran erkennen läßt, daß ihm der von Edmund Schultz und Ernst Jünger 1933 herausgegebene Band Die veränderte Welt – Eine Bilderfibel unserer Zeit nicht entgangen ist.
In der Einleitung dieses Buches kam Jünger auf die Macht der Bilder zu sprechen und ihre Deutbarkeit – hier ging es darum, das Gesicht der Masse zu deuten hinsichtlich der Frage, ob das Abgebildete noch der alten oder bereits der neuen Ordnung (die des ein Jahr zuvor erschienenen Arbeiters) zuzurechnen war. Die Erkenntnis, daß die Masse ein Gesicht hat, war, wie Jonsson betont, insofern neu, als die Masse zuvor meist als gesichtslos, als wandelbare Horde oder Schwarm beschrieben und mithin nicht ernst genug genommen wurde. Diese Perspektive auf die Deutung heutiger Massen – Demonstranten, illegale Grenzüberquerer – und ihres Potentials an politischer Energie neu zu wecken, könnte man als wichtigste Lektürefrucht aus Stefan Jonssons Werk mitnehmen. Nicht allein die Herrschaft über die Begriffe, sondern vor allem die hellsichtige Deutung der Bilder bestimmt die politische Wirklichkeit.
Masse und Demokratie von Stefan Jonsson kann man hier bestellen.