Guntram Schulze-Wegener: Wilhelm I. Deutscher Kaiser – König von Preußen – Nationaler Mythos, Hamburg/Bonn: E. S. Mittler & Sohn 2015. 519 S., 24.95 €
Im Bismarck-Jahr 2015 dachten wohl die wenigsten an den Monarchen, dem der große Reichskanzler 26 Jahre lang diente: Friedrich Wilhelm Ludwig von Hohenzollern-Brandenburg, König von Preußen und erster einer sehr kurzlebigen Dynastie »Deutscher Kaiser«, steht historiographisch im Schatten seines ungleich bekannteren gleichnamigen Enkels.
Der exzentrisch wirkende, körperbehinderte und diplomatisch ungeschickte letzte preußische Monarch eignet sich für die immer neue »Bewältigung« in geschichtspolitischer Absicht ersichtlich besser als der besonnene »greise Kaiser«. Ganze vier Biographien über diesen erschienen seit seinem Ableben 1888. Das fachwissenschaftliche Interesse an Bismarck und Wilhelm II. habe Wilhelm I. »in fast herabwürdigender Weise überlagert«, schreibt Schulze-Wegener. Eine aktuelle Biographie war also überfällig, und das vom Verlag mutig außerhalb aller denkbaren Jubiläen plazierte Werk füllt die Lücke außerordentlich gut.
Wilhelm, bei Inthronisierung als König bereits im Pensionistenalter und erst zehn Jahre später unter hier ausführlich geschilderten denkwürdigen Umständen ohne Krönung zum Kaiser »ausgerufen«, war dieses Schicksal trotz seiner Abkunft nicht in die Wiege gelegt. Erst der geistige Verfall seines älteren Bruders ließ ihn in die Königswürde hineinwachsen, als er schon eine bedeutende militärische Karriere hinter sich hatte. Die soldatische Erfahrung blieb bis ans Lebensende prägend; ein Jahr vor seinem Tod feierte er sein 80-jähriges Dienstjubiläum.
So stehen die Jahre als Kaiser auch nicht im Zentrum des Buches. Wilhelm war General, Gouverneur mehrerer Provinzen und Abgeordneter. Er war unglücklicher Liebhaber, dann Familienvater, Freimaurer und frommer Christ, Pflichtmensch und – manchmal – aufsässig und stur. Es entsteht das Lebensbild eines tiefgläubigen, disziplinierten Mannes, dessen Alltag und Herrschaft von »Pflicht und Ordnung, Protokoll und Etikette« bestimmt waren und dem die tragische Rolle zufiel, inmitten eines geradezu explodierenden technischen Fortschritts und sozialen Wandels als Repräsentant einer ungeahnt schnell vergangenen Epoche weiterzuwirken.
Der Autor ist Militärhistoriker und langjähriger Herausgeber populärwissenschaftlicher Zeitschriften, die sich dem linksliberalen Zeitgeist stets weitgehend entzogen. Den Leser erwarten manche Spitze gegen angepaßte akademische Lohnschreiber und eine patriotische, die deutsche Geschichte als eigene mit allen Höhen und Tiefen annehmende Grundhaltung, die gleichwohl Platz für humorvolle Brechungen läßt und nie in enthusiastische Albernheit abgleitet. Andererseits dürfte die Arbeit mit ihren 1100 Quellennachweisen und dem seitenlangen Literaturverzeichnis wissenschaftlich wenig angreifbar sein. Nur ein Personenverzeichnis vermißt man schmerzlich; es hätte im Dickicht Hunderter Namen dringend benötigte Orientierung geboten.
Abgesehen von dieser Nachlässigkeit liegt hier ein Buch vor, daß schon wegen seiner Konkurrenzlosigkeit auf dem Markt zum neuen Standardwerk werden muß. Eine quellensatte Monographie auf dem neuesten Stand und ein anregender Schmöker zugleich: Mehr kann man von einem Sachbuch tatsächlich nicht erwarten.
Wilhelm I. Deutscher Kaiser – König von Preußen – Nationaler Mythos von Guntram Schulze-Wegener kann man hier bestellen.