Burkhard Voß: Deutschland auf dem Weg in die Anstalt.

Eine Rezension von Christian Marschall

Burk­hard Voß: Deutsch­land auf dem Weg in die Anstalt. Wie wir uns kaputt­psy­cho­lo­gi­sie­ren. Mit einem Vor­wort von Wolf­gang Cle­ment. Müns­ter: soli­bro 2015. 153 S., 14.80 €

Wolf­gang Cle­ment, eins­ti­ger Minis­ter­prä­si­dent von Nord­rhein-West­fa­len, spä­te­rer Bun­des­mi­nis­ter für Wirt­schaft und Arbeit, hat ein Vor­wort zu die­sem Büch­lein bei­gesteu­ert, das die Sach­la­ge ver­knappt auf den Punkt bringt: Uns Deut­schen gehe es so gut wie nie zuvor. Doch eine »wach­sen­de Zahl von Bür­gern reflek­tiert in einer sub­jek­ti­ven End­los­schlei­fe die sub­jek­ti­ve Befind­lich­keit, scheint sich in psy­chi­sche Krank­heits­kon­zep­te wie Burn-out zu flüch­ten, rennt Gleich­heits­kon­zep­ten hin­ter­her und braucht für jeden Fir­le­fanz einen Coach«.

Wo das Psy­cho­lo­gi­sie­ren der­art zum Haupt­strom gewor­den sei, dür­fe man durch­aus zu Bert­rand Rus­sells Wor­ten grei­fen: »Auch wenn alle einer Mei­nung sind, kön­nen alle Unrecht haben.« Gut gebrüllt, Löwe! Burk­hard Voß, der Autor, sei­ner­seits Fach­arzt für Neu­ro­lo­gie und Psych­ia­trie, schich­tet wie­der­um gro­be Klöt­ze auf’s locke­re Kies­bett. Bereits in sei­nen vor­he­ri­gen Ver­öf­fent­li­chun­gen wid­me­te er sich der infla­tio­nä­ren Aus­wei­tung des Begriffs der psy­chi­schen Krank­heit. Ein The­ma, das eine Aus­ein­an­der­set­zung wahr­lich lohn­te! Grund­sätz­lich geht es Voß um eine Kri­tik der nar­ziss­ti­schen »Refle­xiv­kul­tur«.

Er macht dabei drei tra­gen­de Säu­len aus: Die Psy­cho­ana­ly­se, die post­mo­der­ne Phi­lo­so­phie und Gen­der Main­strea­ming. Zusam­men­ge­führt sieht er dar­in eine zeit­geis­ti­ge Ver­wir­rung am Werk – was er ein­drück­lich belegt. Hübsch ist sein Bei­spiel des Phy­si­kers Alain Sokal, der aus diver­sen Texts­tan­zen dekon­struk­ti­vis­ti­scher Den­ker einen par­odis­ti­schen Text (»Die Gren­zen über­schrei­ten: Auf dem Weg zu einer trans­for­ma­ti­ven Her­me­neu­tik der Quan­ten­gra­vi­ta­ti­on«) kom­po­niert und dafür viel Intel­lek­tu­el­len­lob ein­ge­stri­chen hat­te – und umso mehr ver­är­ger­te Kri­tik, nach­dem er bekann­te, daß es sich bei sei­nem Arti­kel schlicht um elo­quen­ten Blöd­sinn gehan­delt habe.

Die von Voß kri­ti­sier­te »Refle­xiv­kul­tur« kreist cha­rak­te­ris­ti­scher­wei­se ums eige­ne Ich. Das drü­cke sich nicht nur in einer sen­ti­men­ta­len Befind­lich­keits­spra­che aus, son­dern auch in der viel­fach beklag­ten Tat­sa­che, daß Psy­cho­the­ra­pie­plät­ze knapp wür­den: weil sie, so Voß, der es wis­sen muß, viel­fach für Kin­ker­litz­chen bean­sprucht wer­den. Zu scha­de, daß Voß nicht bei der Sache bleibt. Statt sich hart an den Fak­ten, bei­spiels­wei­se den krank­heits­wer­ten Kri­te­ri­en des neu­en, nun in fünf­ter Auf­la­ge erschie­ne­nen DSM (dem Klas­si­fi­ka­ti­ons­sys­tem für psy­chi­sche Stö­run­gen) zu ori­en­tie­ren, eröff­net Voß eine Rei­he von Nebenkriegsschauplätzen.

Ihn ärgern etwa die als über­trie­ben emp­fun­de­ne Beschäf­ti­gung mit dem Tod, die Goethe’sche Far­ben­leh­re, die Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung der Roman­tik und ras­sen­un­ab­hän­gi­ge Hun­de­füh­rer­schei­ne. Wo man gern Genaue­res zur Sache erfüh­re, wird der Autor flap­sig und höh­nisch: Alte, die sich ärgern, daß die Kin­der »nicht alle zwei Stun­den« anrie­fen, Leu­te, die Part­ner­schafts­kon­flik­te mit ihrer Kat­ze haben und über­haupt die Deut­schen mit ihrem Kli­ma­wan­del­wahn sei­en das Pro­blem. So gou­tiert der geneig­te Leser zwar vie­le Impul­se, schätzt auch die wie­der­hol­te Hin­zu­zie­hung Ernst Jün­gers als Zeu­ge, doch läse er über Stre­cken gern weni­ger erbau­lich (im kul­tur­pes­si­mis­ti­schen Sin­ne!) und selbst­be­stä­ti­gend. Der rote Faden, den man so hand­lich hät­te flech­ten kön­nen, hat sich in kur­zen und kür­zes­ten Unter­ka­pi­teln verheddert.

Deutsch­land auf dem Weg in die Anstalt von Burk­hard Voß kann man hier bestel­len.

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