Burkhard Voß: Deutschland auf dem Weg in die Anstalt. Wie wir uns kaputtpsychologisieren. Mit einem Vorwort von Wolfgang Clement. Münster: solibro 2015. 153 S., 14.80 €
Wolfgang Clement, einstiger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, späterer Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, hat ein Vorwort zu diesem Büchlein beigesteuert, das die Sachlage verknappt auf den Punkt bringt: Uns Deutschen gehe es so gut wie nie zuvor. Doch eine »wachsende Zahl von Bürgern reflektiert in einer subjektiven Endlosschleife die subjektive Befindlichkeit, scheint sich in psychische Krankheitskonzepte wie Burn-out zu flüchten, rennt Gleichheitskonzepten hinterher und braucht für jeden Firlefanz einen Coach«.
Wo das Psychologisieren derart zum Hauptstrom geworden sei, dürfe man durchaus zu Bertrand Russells Worten greifen: »Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle Unrecht haben.« Gut gebrüllt, Löwe! Burkhard Voß, der Autor, seinerseits Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, schichtet wiederum grobe Klötze auf’s lockere Kiesbett. Bereits in seinen vorherigen Veröffentlichungen widmete er sich der inflationären Ausweitung des Begriffs der psychischen Krankheit. Ein Thema, das eine Auseinandersetzung wahrlich lohnte! Grundsätzlich geht es Voß um eine Kritik der narzisstischen »Reflexivkultur«.
Er macht dabei drei tragende Säulen aus: Die Psychoanalyse, die postmoderne Philosophie und Gender Mainstreaming. Zusammengeführt sieht er darin eine zeitgeistige Verwirrung am Werk – was er eindrücklich belegt. Hübsch ist sein Beispiel des Physikers Alain Sokal, der aus diversen Textstanzen dekonstruktivistischer Denker einen parodistischen Text (»Die Grenzen überschreiten: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation«) komponiert und dafür viel Intellektuellenlob eingestrichen hatte – und umso mehr verärgerte Kritik, nachdem er bekannte, daß es sich bei seinem Artikel schlicht um eloquenten Blödsinn gehandelt habe.
Die von Voß kritisierte »Reflexivkultur« kreist charakteristischerweise ums eigene Ich. Das drücke sich nicht nur in einer sentimentalen Befindlichkeitssprache aus, sondern auch in der vielfach beklagten Tatsache, daß Psychotherapieplätze knapp würden: weil sie, so Voß, der es wissen muß, vielfach für Kinkerlitzchen beansprucht werden. Zu schade, daß Voß nicht bei der Sache bleibt. Statt sich hart an den Fakten, beispielsweise den krankheitswerten Kriterien des neuen, nun in fünfter Auflage erschienenen DSM (dem Klassifikationssystem für psychische Störungen) zu orientieren, eröffnet Voß eine Reihe von Nebenkriegsschauplätzen.
Ihn ärgern etwa die als übertrieben empfundene Beschäftigung mit dem Tod, die Goethe’sche Farbenlehre, die Realitätsverweigerung der Romantik und rassenunabhängige Hundeführerscheine. Wo man gern Genaueres zur Sache erführe, wird der Autor flapsig und höhnisch: Alte, die sich ärgern, daß die Kinder »nicht alle zwei Stunden« anriefen, Leute, die Partnerschaftskonflikte mit ihrer Katze haben und überhaupt die Deutschen mit ihrem Klimawandelwahn seien das Problem. So goutiert der geneigte Leser zwar viele Impulse, schätzt auch die wiederholte Hinzuziehung Ernst Jüngers als Zeuge, doch läse er über Strecken gern weniger erbaulich (im kulturpessimistischen Sinne!) und selbstbestätigend. Der rote Faden, den man so handlich hätte flechten können, hat sich in kurzen und kürzesten Unterkapiteln verheddert.
Deutschland auf dem Weg in die Anstalt von Burkhard Voß kann man hier bestellen.