2016, zur Lage auf dem Land: Am Beispiel der Zulassung des Grundwasser und Menschen gefährdenden Ackergifts Glyphosat – mit dem derzeit jährlich etwa 30 Prozent unserer Ackerflächen »behandelt« werden – zeigt sich, daß den Allgemeininteressen entgegenwirkende Lobbystrukturen mehr Macht haben als ein Bevölkerungsanteil von über 90 Prozent. Für die Agrogentechnik und das geplante Freihandelsabkommen TTIP, von denen dieselben Konzerne profitieren, die die Landwirte vom Glyphosat abhängig machen, gilt Entsprechendes. Die Landbevölkerung, die als erstes den Giftnebeln ausgesetzt ist, verliert gerade den Glauben daran, daß Demokratie Volksherrschaft bedeutet. Und sie fühlt sich auch von den Städtern im Stich gelassen, deren ökologisches Bewußtsein zwar weiter entwickelt ist, die aber das Land oft nur noch im Blick durch das Auto- oder Bahnfenster wahrnehmen – als unvermeidlichen Transitraum zwi- schen den Großstädten. Oswald Spengler sah den Degenerationsprozeß einer Kultur dadurch gekennzeichnet, daß mit der Konzentration auf wenige Metropolen die ländlichen Räume zur Provinz hinabgestoßen werden. Egal, ob wir die abendländische Kultur bewahren oder eine neue Kultur anbahnen wollen: Die Grundlage hierfür wächst auf dem Land. Was müssen wir dabei bedenken?
1.) Das lineare Geschichtsbild relativieren
Die gesellschaftlichen Zustandsformen des Menschen als Jäger und Sammler sowie als Ackerbauern und Viehzüchter sind keine historischen Epochen, sondern »Ökotypen« unserer Art: Es handelt sich um gleichwertige Populationen, die aufgrund verschiedener Umweltprägungen verschiedene Verhaltensveranlagungen für die Einbindung in verschiedene Lebensräume entwickelt haben. Der Vorstellungswelt einer rein ökonomisch definierten, linearen, historischen Gesetzmäßigkeit sollten wir ein zyklisches Denken zur Seite stellen. In seiner (epi-)genetischen und sozial- ökologischen Verfassung ist auch der in der Industriegesellschaft lebende Mensch ein Bestandteil des Ackerbaukultur-Ökotyps. Nur wenn sich in den »zivilisierten« Industrieländern wieder eine Mehrheit den Grundlagen der eigenen Kultur (Bauerntum und Seßhaftigkeit) zuwendet, kann eine kulturelle und genetische Degeneration vermieden werden.
2.)Den darwinistischen Irrglauben ablegen
Darwins Selektionslehre überträgt den Hergang der künstlichen Zuchtwahl von Domestikationsformen in Gefangenschaft auf die Evolutionsprozesse von Wildformen in freier Natur – und leitet daraus eine »natürliche Zuchtwahl« ab. Die Variation von frei lebenden Wildformen ist jedoch von einem inneren Zusammenhalt, einer genetischen Kohäsion ihrer Populationen geprägt, während in Gefangenschaft lebende Domestikationsformen stets von einem Auseinanderlaufen der Merkmale, ei- ner genetischen Divergenz ihrer Populationen bestimmt sind. Eine über die natürlichen Variationsbereiche hinausgreifende genetische Divergenz geht mit Degeneration einher. Entsprechende Mutationen sind in freier Natur genetisch und ökologisch unbeständig. Evolution geschieht epigenetisch über mehr oder weniger synchrone Veränderungen ganzer Populationen und nicht über eine Auslese von Individuen.
Die gegenläufigen Eigentendenzen der biologischen Variation von in natürlichen oder in unnatürlichen Milieus lebenden Populationen sowie die Tatsache, daß mutierte Einzelindividuen mit »neuen« Merkmalen in der Natur unbestän- dig sind, machen die Selektionslehre hinfällig. Kämpfe gehören zur Natur; daß aber die Kohlmeisen einen schwarzen und die Blaumeisen einen blauen Scheitel haben, weil ihnen das Vorteile im »Kampf ums Dasein« brächte, ist ein naturwidriger Irrglaube. Nicht Kampf und Konkurrenz leiten die Naturprozesse, sondern Kooperation und ökologische Integration, die Umweltresonanz.
3.)Die Wettbewerbslogik überwinden
Eine vom Selektionsdenken befreite Biologie entzieht der Wettbewerbslogik unserer Zeit das Fundament. Wettbewerb hebelt soziale und ökologische Beziehungen aus. Wettbewerb ist unvereinbar mit Resonanz. Wettbewerb desintegriert. Der Wettbewerb ist kein »naturgesetzliches« System, sondern Motor eines von den realen Bedürfnissen entkoppelten Wachstums, das die Endlichkeit unseres Planeten und seiner Ressourcen ignoriert. Die Konzentration der Landwirtschaft, die in den kommunistischen Ländern unter Zwang und Gewalt herbeigeführt wurde, wird im Westen durch das Prinzip des Verdrängungswettbewerbs bewirkt – durch die Logik vom »Wachsen oder Weichen« der Höfe. Dieses System überläßt die Vernichtung des Bauernstandes den Bauern selbst: Der Existenzkampf von Landwirten gegen Landwirte ist eine strukturelle Gewalt, die keinen Polizeistaat braucht, weil sich unter diesen Verhältnissen die Bauern gegenseitig den Boden wegnehmen – so lange, bis nur noch wenige agrarindustrielle Großbetriebe übrig sind. Wir brauchen Dritte Wege, also eine Kooperation jenseits des Kollektivismus und eine Alternative zum Kapitalismus jenseits des Sozialismus.
4.) Am organismischen Prinzip orientieren
Im Idealfall ist eine Gesellschaft wie ein Organismus verfaßt, dessen »Organe« zum gegenseitigen Vorteil und zum Wohle des Ganzen zusammenarbeiten – und nicht danach trachten, sich gegenseitig zu verdrängen. Die Menschen sind ebenso verschieden wie die in einer Gesell- schaft wahrzunehmenden Funktionen. Eine organismische bzw. korporative Gliederung ist aber nicht als eine einfache Hierarchie zu verstehen, die nur oben und unten kennt und diese Positionen in vorteilhafte und nach- teilige Lebensbedingungen übersetzt, die dann den gesellschaftlichen Zerfall in reich und arm rechtfertigen. Organfunktionen in einem Organismus sind so wenig über- oder unterprivilegiert wie es Herz und Lunge, Leber und Niere im biologischen Organismus sind. Die organismische Idee will, daß den Bauern und Handwerkern eine höhere Wertschätzung entgegengebracht wird, damit die bäuerliche und handwerkliche Basis wieder breiter und tragfähiger wird; aber sie will auch, daß die dem »Kopf« einer Gesellschaft Zugehörigen ihre Führungsverantwortung wahrnehmen, tat- sächlich am Allgemeinwohl orientiert führen und nicht nur einen »hohen Posten« haben wollen.
5.) Der Rechts-Links-Falle entkommen
Eine neue Wertschätzung der bäuerlich-handwerklichen Basis eines Volkes kann durch ein organismisches bzw. korporatives Politikkonzept erreicht werden. Ein korporatives Modell wird sich aber nur jenseits der anti-organismischen Rechts-Links-Polarisierung entwickeln lassen: Die politische Rechte geht von einer Verschiedenheit der Menschen aus (was im Sinne einer organismischen Betrachtung richtig ist), doch die frühere Rechte leitete aus dieser Verschiedenheit meist eine Ungleichwertigkeit ab (was aus einer organismischen Perspektive falsch ist). Die politische Linke hingegen geht von einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen aus, teilt aber mit der alten Rechten den sozialdarwinistischen Impuls, wonach Verschiedenheit Ungleichwertigkeit bedeute, und leugnet bzw. nivelliert deswegen alle Verschiedenheiten (was jede organismische Kooperation zerstört). Ein Befreiungsschlag wäre es, wenn die wahren Konservativen deutlich machen, daß sie die Verknüpfung von ungleich und ungleichwertig überwunden haben, sie also den Gedanken vertreten, daß die Menschen – und ebenso ihre Völker und Rassen – verschieden, aber gerade unter Wahrung ihrer Verschiedenheiten gleichwertig sind! In dem Moment, in dem sich die Vertreter der korporativen Idee aus der Rechts-Links-Falle befreien, würde die Linke, die sich mit dem Kapitalismus arrangiert hat und nur noch »gegen Rechts« kämpft, ins Leere laufen.
6.)Die Natur positiv denken
Die Verknüpfung des Umweltgedankens mit »Sauberkeit« ist zu Lasten eines angemessenen Naturverständnisses gegangen. Das Umweltinteresse fragt nur danach, was in einem Quellwasser nicht drin ist, während das Naturinteresse zuerst danach fragt, was in ihm enthalten ist. Wir müssen lernen, die Natur positiv zu denken, als etwas eigenes, das sich verwirklichen will. Eine naturabgewandte Umweltpolitik hat zu einer Energiewende geführt, die auf dem Irrglauben beruht, man könne oder müsse das Niveau des heutigen Energieverbrauchs auf Dauer halten oder gar steigern. Solange der Ausbau regenerativer Energiequellen auf Zentralisierung setzt, wird er die Umweltkrise vielerorts noch verschärfen.
Pestizidgeschwängerte Mais-Monokulturen für überdimensionale Biogasanla- gen und Photovoltaikanlagen auf früheren landwirtschaftlichen Nutzflächen sind Beispiele dafür. All die vermeintlich ökologischen High-Tech- Lösungen, die auf nicht recycelbaren Verbundstoffen beruhen, sind nicht nachhaltig. Hinzu kommt, daß gigantische Windanlagen in unwiederbringlichen Natur- und Kulturlandschaften das Mensch-Natur-Verhältnis pervertieren. Caspar David Friedrich hätte 1818 sein berühmtes Bild der Kreidefelsen auf Rügen wohl nicht gemalt, wenn damals die Horizontlinie durch eine Fülle rotierender und blinkender Offshore-Anlagen verstellt gewesen wäre. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Ethischem und Ästhetischem: Wenn wir den ästhetischen Zumutungen energisch begegnen, tun wir meist auch etwas zur Heilung der Beziehungsstörung zwischen Mensch und Natur.
7.) Den agrarindustriellen Irrweg verlassen
Die bäuerliche Lebensform besteht aus einem Zusammenhang von Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, gemeinnütziger Arbeit und Erholung in einem selbst gestaltbaren Lebensumfeld. Mit diesem bäuerlichen Prinzip werden der Zusammenhang von Wohn- und Arbeitsort, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Zusammenhalt der Generationen, ein hohes Selbstversorgungspotential sowie eine zeitlich und räumlich über den Hofalltag hinausreichende Verantwortung gewährleistet. Es ist ein Lebens- und Arbeitsmodell, das individuelle Freiheit mit einer Begrenzung und Einordnung in die Naturzusammenhänge einer endlichen Welt organisch verbindet. Um den Trend des Höfe-Sterbens und der Agrarindustrialisierung umzukehren, brauchen wir eine »Agrarförderung«, die nicht ausschließlich den Sektor der Erwerbsarbeit honoriert – und die die Bauern nicht von Banken und multinationalen Chemiekonzernen abhängigmacht. Wir brauchen eine neue kleinbäuerliche Basis – die sich durch eine Flächenvergabe (fünf Hektar je Familie) und ein Grundeinkommen für Selbstversorger auf den Weg bringen ließe.
8.) Den demographischen Fehlschluß korrigieren
Hier führt der Geburtenrückgang dazu, daß immer weniger junge Menschen die Renten für immer mehr ältere Menschen erwirtschaften müssen. Im globalen Maßstab zeigt sich das »demographische Problem« in umgekehrter Weise: Die begrenzten Ressourcen und der begrenzte Lebensraum unserer endlichen Erde stehen dem einzelnen immer weniger zur Verfügung, weil seine Zahl drastisch zunimmt. In den meisten Ländern dieser Welt geht es um Geburtenkontrolle. Jede erfolgreiche Geburtenbegrenzung ist zwangsläufig mit einer vorübergehenden Überalterung der Bevölkerungspyramide verbunden.
Und wenn wir hier nicht willens sind, eine vorübergehende Überalterung der Gesellschaft aus eigener Kraft zu bewältigen, sondern die Elite aus den Entwicklungsländern abwerben, um unsere Rentenkassen aufzufüllen, dann ist das eine ebenso provinzielle wie zynische Position. So wird die Politik der Geburtenkontrolle auch dort scheitern. Es werden sich dann noch mehr Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat genötigt sehen. Um der Überalterung der Bevölkerung entgegenzusteuern, sollten wir uns dafür einsetzen, das ländliche Leben attraktiver machen und den Bauernstand wiederzubeleben. Seit jeher ist die Geburtenrate der Landbevölkerung höher als die der Städter.
9.) Eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen
Zur Permanenz fähig sind nur Kulturen, die ihren Enkeln nicht das Wasser abgraben, die nicht auf Kosten anderer Kulturen leben und die zu einem harmonischen Stadt-Land-Verhältnis finden – also Kulturen, die weder nach innen noch nach außen parasitär verfaßt sind. Neo- koloniale Wirtschaftsstrukturen gehen mit – als ethnische Konflikte getarnten – Rohstoff-Kriegen einher, machen in anderen Kontinenten ganze Landstriche unbewohnbar und lösen Flüchtlingsströme aus, die sowohl die Herkunfts- als auch die Ankunftsländer destabilisieren. Die strukturelle Gewalt unseres heutigen wirtschaftlichen und politischen Systems richtet sich nicht nur gegen kommende Generationen und räumlich entfernte Kulturen, sondern auch gegen die ländlichen Räume hier. Diese sind ja nur so lange ländlich, wie es nicht zu einer Industrialisierung der Landwirtschaft und zu einer Verstädterung der Dörfer kommt, die vom ländlichen Handwerk bis zur Dorfschule alles plattmacht, was zum Land- leben und zu dem hohen Selbstversorgungsvermögen eines Dorfes gehört. Die Schließung der Dorfschulen trägt ja nicht nur zur Entwurzelung der Jugend bei, sie zwingt auch zu immensen motorisierten Schülertransporten und verschärft somit das Ressourcen- und das Klimaproblem.
10.) Die Selbstversorgungsfähigkeiten stärken
Versorgungssicherheit umfaßt auch die Fremdversorgung mit Nahrung und Energie, die uns in Abhängigkeitsverhältnisse bringt. Versorgungssouveränität hingegen meint, daß ein Land sich auf der Grundlage der eigenen Landwirtschaft selbst ernähren und auf der Grundlage eigener Ressourcen selbst mit Energie versorgen kann. Vor dem Hintergrund der absehbaren Verknappung und Verteuerung des Öls stellt sich diese Frage auch für die Industrieländer. Spätestens dann, wenn die Transportkosten ins Unermeßliche steigen, wird auch eine regionale Versorgungssouveränität wichtig: Ein hoher Selbstversorgungsgrad der Region, des Ortes oder der Familie sorgt für Krisenfestigkeit und Unabhängigkeit. Nur in Häu- sern mit Keller kann man Kartoffeln und Äpfel einlagern; nur in Häusern mit Schornstein kann man mit Holz heizen; nur auf Höfen mit Land kann man sich selbst versorgen. Wir brauchen eine neue kleinbäuerliche Basis mit einem hohen Selbstversorgungsvermögen – auch als Kristallisations- keim für eine neue (alte) Kultur!