Europa und die Rechte – Zehn Thesen zu einem Neubeginn

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Als im Juni die­ses Jah­res etwa 52 Pro­zent der Bri­ten per Refe­ren­dum für einen Aus­stieg aus der Euro­päi­schen Uni­on plä­dier­ten, ver­schärf­te das die Legi­ti­ma­ti­ons­kri­se der EU und ihrer Eli­ten. Eigent­lich hät­te dies wie ein Weck­ruf für kon­ser­va­ti­ve Geg­ner des Brüs­se­ler Kon­strukts wir­ken müs­sen, im Stim­mungs­va­ku­um nach dem Auf­takt des »Brexit« euro­päi­sche Gegen­kon­zep­tio­nen zu dis­ku­tie­ren. Allein, es folg­te: nichts. Weder der Front Natio­nal noch die AfD, weder UKIP noch Fidesz, aber auch kei­nes der kon­ser­va­ti­ven Insti­tu­te oder Orga­ne war in der Lage, eine euro­päi­sche Linie zu for­mu­lie­ren und sie als gemein­sa­men Stand­punkt mit den ande­ren abzu­stim­men. Grund genug für eine Inter­ven­ti­on: zehn The­sen zu Euro­pa und zum not­wen­di­gen Neu­be­ginn rech­ter Europakritik!

1.) Es gibt kei­ne euro­päi­sche Rech­te, die das Attri­but »euro­pä­isch« im eigent­li­chen Sin­ne verdient.

Es gibt kein ein­zi­ges EU-Mit­glieds­land, in dem rele­van­te Tei­le der poli­ti­schen Rech­ten gesamt­eu­ro­päi­sche Kon­zep­te ver­tre­ten. Die euro­pa­po­li­ti­sche Agi­ta­ti­on kon­ser­va­ti­ver, frei­heit­li­cher und natio­na­ler Krei­se rich­tet sich gegen »Brüs­sel« und sei­ne Regu­lie­rungs­wut, gegen die supra­na­tio­na­len Insti­tu­tio­nen, und sie plä­diert für die Rück­erlan­gung natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät, für die Rück­kehr zu einem gaul­lis­ti­schen Sta­tus quo ante, in dem jede Nati­on für sich han­delt und Euro­pa häu­fig nur als Flos­kel besteht.

Ein frap­pie­ren­des Bei­spiel hier­für sind jüngs­te Aus­sa­gen Mar­kus Frohn­mai­ers: Der Bun­des­vor­sit­zen­de der AfD-Jugend bewirbt sei­ne Jun­ge Alter­na­ti­ve in einem Gespräch mit dem Blog blauenarzisse.de schon des- halb als »euro­päi­sche« Kraft, weil sie Kon­tak­te zu Par­tei­ju­gend­or­ga­ni­sa­tio­nen des Aus­lands pfle­ge. Er spricht gar vom »Pro­jekt Jun­ges Euro­pa«, das er lei­der nicht mit »jun­g­eu­ro­päi­schem« Inhalt im Sin­ne Giu­sep­pe Mazz­inis, son­dern mit natio­na­lis­ti­schem Pathos füllt: »Wir haben ein kla­res Leit­mo­tiv in unse­rer alter­na­ti­ven Außen­po­li­tik for­mu­liert und zwar: Deutsch­land zuerst.« Dem kann man zustim­men, weil es die der­zeit ver­nach­läs­sig­ten Befind­lich­kei­ten der natio­na­len See­le strei­chelt; dem kann man wider­spre­chen, weil es weder eine grund­sätz­lich »alter­na­ti­ve Außen­po­li­tik« ver­heißt noch irgend etwas mit einem »Jun­gen Euro­pa« zu tun hat. In jedem Fall wird durch sol­che pro­gram­ma­ti­schen Aus­sa­gen kein gesamt­eu­ro­päi­scher Rah­men auf­ge­spannt, son­dern viel eher ein rech­tes Dilem­ma bestä­tigt: Euro­pa taucht nur als okka­sio­nel­ler Gemein­platz auf, um klas­sisch natio­na­le Sujets zu verkleiden.

2.) Euro­pa­feind­lich­keit ent­steht, weil die EU fälsch­lich mit »Euro­pa« gleich­ge­setzt wird.

Euro­pa ist nicht die Euro­päi­sche Uni­on, Brüs­sel nicht das Zen­trum des euro­päi­schen Geis­tes. Die EU ist von ihrem Beginn an, wie der bri­ti­sche Sozio­lo­ge Richard Sey­mour poin­tiert zusam­men­faß­te, »als ein kapi­ta­lis­ti­scher Block orga­ni­siert wor­den«. Sie ist dem­zu­fol­ge kei­ne euro­päi­sche Sache, son­dern eine Sache der trans­na­tio­na­len Ban­ken und Kon­zer­ne so- wie jener poli­ti­schen und media­len Akteu­re, die von einer pri­mär wirt­schaft­li­chen Aus­rich­tung pro­fi­tie­ren. Der Jurist Andre­as Wehr nennt die EU ein Kon­strukt, »das zur Bewah­rung und Ent­wick­lung der die kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­ord­nun­gen sichern­den Prin­zi­pi­en des frei­en Ver­kehrs von Waren, Per­so­nen, Dienst­leis­tun­gen und Kapi­tal ein­ge­rich­tet wurde«.

Anders gesagt: Die EU ist ein Eli­ten­pro­jekt kapi­ta­lis­ti­scher Prä­gung und Euro­pa der Schau­platz ihrer öko­no­mi­schen Ver­su­che. Daß sich an die­sem Inte­gra­ti­ons­kon­zept auch die Rie­ge der mul­ti­kul­tu­rell-links­li­be­ra­len Krei­se betei­li­gen, ver­schärft die anti­eu­ro­päi­sche Note der Euro­päi­schen Uni­on. Aber auch hier: ein rech­tes Dilem­ma. Denn der zitier­te Sey­mour ist Leni­nist, Wehr ist Mar­xist. Sub­stan­ti­el­le EU-Kri­tik ist also einst­wei­len die Domä­ne weni­ger Akteu­re am äuße­ren lin­ken Rand, wäh­rend von kon­ser­va­ti­ver Sei­te aus – über­spitzt gesagt – allen­falls über die Glüh­bir­nen­ver­ord­nung aus Brüs­sel doziert wird. Die EU als kapi­ta­lis­ti­sches Pro­jekt zu begrei­fen, heißt im übri­gen nicht, ihr das Prin­zip der Markt­wirt­schaft vor­zu­wer­fen. Im Gegen­teil: Der mono­po­li­sie­ren­de Kapi­ta­lis­mus ten­diert sogar dazu, Märk­te aus­zu­he­beln. Er hat nichts gemein mit selb­stän­di­gem Unter­neh­mer­tum des Mit­tel­stan­des, der von zwei Sei­ten unter Druck steht: Kapi­ta­lis­ti­sche Groß­kon­zer­ne und eine dem Finanz- und Indus­trie­ka­pi­tal höri­ge, auf­ge­bläh­te Büro­kra­tie à la bru­xel­loi­se schnü­ren ihm die Keh­le zu.

3.) Ein neu­es Euro­pa muß von vorn begin­nen. Die Refor­ma­ti­on der EU ist nicht möglich.

Ein­zel­ne Ein­grif­fe »Brüs­sels« in den All­tag sind nicht das Kern­pro­blem. Das wird viel­mehr von der kapi­ta­lis­ti­schen EU in ihrer Gesamt­heit ver­kör­pert. Für eine Neu­fun­die­rung des gesamt­eu­ro­päi­schen Erbes  jen­seits rein mate­ria­lis­ti­scher Denk­wei­sen soll­te alles Bestehen­de im euro­päi­schen Rah­men hin­ter­fragt wer­den – auch die Wirt­schafts­struk­tur. Rühr­te man die­se nicht an, so müß­te man am Ende eine Welt akzep­tie­ren, in der die von Sla­voj Žižek wie­der­holt auf­ge­zeig­te, ein­zi­ge rea­le Wahl­mög­lich­keit jene zwi­schen unter­schied­li­chen Gesell­schafts­or­ga­ni­sa­ti­ons­for­men des Kapi­ta­lis­mus ist. Also blie­be etwa die Wahl zwi­schen der west­lich-mul­ti­kul­tu­rel­len kapi­ta­lis­ti­schen Zivi­li­sa­ti­on nach EU-Abbild und auto­ri­tär-kapi­ta­lis­ti­schen Alter­na­ti­ven, ver­gleich­bar den asia- tischen (chi­ne­si­schen) oder sun­ni­tisch-waha­bi­ti­schen (sau­di-ara­bi­schen) Vari­an­ten. Die Akzep­tanz die­ser ver­eng­ten Wahl ist kenn­zeich­nend für die tech­no­kra­tisch-refor­mis­ti­sche Rech­te, wie sie etwa von Bernd Lucke ver­kör­pert wird.

Poli­ti­sche Akteu­re, die jen­seits der kapi­ta­lis­ti­schen Logik den­ken, soll­ten die­ser Kapi­tu­la­ti­ons­er­klä­rung des Geis­tes aus­wei­chen.  Sie  soll­ten ein­tau­chen in die drei­tau­send­jäh­ri­ge Geis­tes­ge­schich­te unse­res Kon­ti­nents, um aus dem »unver­brauch­ten Reich­tum an Intel­li­genz, Ener­gie und Schöp­fer­tum, den wir ›Euro­pa‹ nen­nen dür­fen« (Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ner), Kraft zu schöpfen.

4.) »Euro­pa« war und bleibt eine rech­te Idee.

Oft wird ver­ges­sen, daß »der euro­päi­sche Gedan­ke ursprüng­lich eine rech­te Idee war«. Der His­to­ri­ker Tony Judt führ­te das Eini­gungs­stre­ben rech­ter euro­päi­scher Intel­lek­tu­el­ler auf die 1930er Jah­re zurück, als eine dop­pel­te Bedro­hung durch »Ame­ri­ka­nis­mus« und »Bol­sche­wis­mus« bestand und man einen eige­nen, einen euro­päi­schen Weg such­te. Aber der euro­päi­sche Gedan­ke als »ursprüng­lich rech­te Idee« umfaßt mehr als die Pra­xis der Feind­be­stim­mung. Dafür müs­sen bestehen­de (aber der­zeit ver­deck­te) rech­te Kon­ti­nui­täts­li­ni­en auf­ge­grif­fen wer­den. Die größ­te die­ser poli­ti­schen Lini­en ist die Nen­nung einer drei­fa­chen Zuge­hö­rig­keit eines Euro­pä­ers: zur Hei­mat­re­gi­on, zur Nati­on, zu Euro­pa als über­ge­ord­ne- tem Prin­zip. Alain de Benoist beton­te jüngst, eine Idee Pierre Drieu la Rochel­les aktua­li­sie­rend, daß sich in Euro­pa »Natio­nen und Regio­nen nicht feind­lich, son­dern kom­ple­men­tär zuein­an­der ver­hal­ten«. Ent­schei­dend sei, daß kei­ner der drei Pfei­ler abso­lut gesetzt wer­de. Und bei der Iden­ti­tä­ren Bewe­gung in Frank­reich zählt die »tri­ple appar­ten­an­ce« zu den Grund­pfei­lern ihrer Weltanschauung.

Die Kon­ti­nui­täts­li­ni­en eines rech­ten Euro­pa­bil­des müs­sen mit zeit­ge­mä­ßem Anti­ka­pi­ta­lis­mus und Anti­im­pe­ria­lis­mus ver­knüpft werden.

5.) Die Idee der drei­fa­chen Zuge­hö­rig­keit ist also die Basis rechts- oder jun­g­eu­ro­päi­schen Den­kens. Sie sieht sich auf all die­sen drei Fel­dern kon­fron­tiert mit der gegen­wär­ti­gen Euro­päi­schen Uni­on, deren feh­len­de geis­ti­ge »Erdung« durch euro­päi­sche Iden­ti­tä­ten mit ihrem rein kapi­ta­lis­tisch und impe­ria­lis­tisch aus­ge­rich­te­ten – und daher ver­gäng­li­chen – Nütz­lich­keits­den­ken korreliert.

Kapi­ta­lis­tisch ist die EU, weil sie in ihrer Gesamt­heit ein Pro­jekt der Finanzmarkt‑, Kon­zern- und Frei­han­dels­lob­by dar­stellt, das nicht das Wohl der euro­päi­schen Völ­ker als Pri­mär­ziel auf­weist. Impe­ria­lis­tisch ist die EU, weil sie außen­po­li­tisch als Akteur an der Sei­te der USA wirkt und Gewalt­po­li­tik zur Erwei­te­rung der Hege­mo­nie kapi­ta­lis­ti­scher Groß­mäch­te betreibt. Bei­de Punk­te sind nicht von­ein­an­der zu tren­nen. Soll ein rech­tes Euro­pa­bild auf der Höhe der Zeit auf den Pfei­lern »Regi­on, Nati­on, Euro­pa« beru­hen, muß es daher anti­ka­pi­ta­lis­tisch und anti­im­pe­ria­lis­tisch aus­ge­rich­tet sein. Die Not­wen­dig­keit eines euro­päi­schen Anti­im­pe­ria­lis­mus schließt dabei die Not­wen­dig­keit eines euro­päi­schen Anti­ka­pi­ta­lis­mus ein et vice versa.

6.) Die Erwei­te­rung eines rech­ten Euro­pa­bil­des um zeit­ge­mä­ße welt­an­schau­li­che Stand­punk­te ist die Ant­wort auf die Kri­se der Solidarität.

Ob explo­die­ren­de Jugend­ar­beits­lo­sig­keit, Austeri­täts­zwän­ge, Ban­ken- und Kon­zern­plei­ten, wach­sen­de mone­tä­re Kluft zwi­schen den Gesell­schafts­schich­ten, Flücht­lings­strö­me: All die­se aku­ten Kri­sen­er­schei­nun­gen betref­fen das The­ma »Soli­da­ri­tät«. Es wird auch heu­te noch als urei­ge­nes Metier der poli­ti­schen Lin­ken wahr­ge­nom­men. Hier soll­te nun zwei­er­lei geleis­tet wer­den: Zum einen gilt es, dar­auf hin­zu­wei­sen, daß  die Lin­ke die Kri­se der Soli­da­ri­tät selbst beschleu­nigt hat, indem sie ihre Stamm­kli­en­tel – die ein­kom­mens­schwa­chen Schich­ten – den all­täg­li­chen Ver­wer­fun­gen der Mas­sen­zu­wan­de­rung aus­ge­setzt hat und eine indus­tri­el­le Reser­ve­ar­mee in die Län­der holt, die zwangs­läu­fig mit ihnen um Arbeit und Wohn­raum kon­kur­rie­ren wird.

Zum ande­ren gilt es, die Kri­se der Soli­da­ri­tät und die Abkehr der neo­li­be­ra­li­sier­ten Lin­ken von den »popu­lä­ren Klas­sen« als Anlaß zu neh­men, die sozia­le Pro­fil­schär­fung der Rech­ten wie­der aufs Tapet zu bringen.

7.) Sozia­le Soli­da­ri­tät ist ein Grund­stein für ein neu­es Europa.

Sozia­le Soli­da­ri­tät erfor­dert zual­ler­erst die Erkennt­nis,  daß der Haupt­wi­der­spruch inner­halb der EU nicht zwi­schen den euro­päi­schen Völ­kern ver­läuft, son­dern zwi­schen den Bedürf­nis­sen der Völ­ker einer­seits und dem Bedürf­nis des trans­na­tio­na­len Kapi­tals ande­rer­seits. Der in der EU aus­ge­foch­te­ne Klas­sen­kampf von oben wird von den herr­schen­den Eli­ten gegen die eige­nen Völ­ker geführt. Das zu erken­nen, heißt auch, sich von den roman­ti­schen Vor­stel­lun­gen eines »patrio­tisch« rück­ge­bun­de­nen Kapi­ta­lis­mus (nicht: Markt­wirt­schaft) zu ver­ab­schie­den: Die Trans­na­tio­na­li­sie­rung des Kapi­tals ist so fort­ge­schrit­ten, daß es kei­ne genui­nen natio­na­len Kapi­ta­lis­ten­klas­sen mehr gibt, die man als »die eige­nen« affir­mie­ren könnte.

Inso­fern geht bei­spiels­wei­se auch jede Scha­den­freu­de ob der Spar­maß­nah­men gegen Grie­chen­land nach den jüngs­ten Kri­sen­ent­wick­lun­gen fehl. Was die Troi­ka in Grie­chen­land durch­führt, könn­te sie schon bald woan­ders wei­ter­trei­ben. Grie­chen­land ist die Blau­pau­se für das Modell »ent­po­li­ti­sier­te Tech­no­kra­tie«. Trans­na­tio­nal agie­ren­de Ban­ker und ande­re Finanz­ak­teu­re kön­nen als »Exper­ten« schal­ten und wal­ten, wäh­rend popu­lis­ti­sche Res­sen­ti­ments (»Plei­te­grie­chen« et al.) die Völ­ker gegen­ein­an­der aufwiegeln.

Sozia­le Soli­da­ri­tät heißt daher auch, sich von der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit »unse­rer« herr­schen­den Klas­se zu ver­ab­schie­den, nur weil sie »uns« nach all­ge­mei­ner Auf­fas­sung zur Export­eu­ro­pa­meis­ter­schaft ver­hilft. Sozia­le Soli­da­ri­tät beinhal­tet, zu erken­nen, daß – um beim Bei­spiel zu blei­ben – nicht »die Grie­chen« geret­tet wur­den, son­dern daß sich der Finanz­markt­ka­pi­ta­lis­mus auf Kos­ten Deutsch­lands und der ande­ren Län­der ein wei­te­res Mal Zeit ver­schafft hat. Sozia­le Soli­da­ri­tät ver­langt in der Fol­ge gesamt­eu­ro­päi­sche Feind­be­stim­mung gegen das von Alexis Tsi­pras benann­te Drei­eck aus Kor­rup­ti­on, das sich aus dem bank­rot­ten poli­ti­schen EU-Sys­tem, den bank­rot­ten Ban­ken und den mora­lisch bank­rot­ten Medi­en zusammensetzt

8.) Natio­na­le Soli­da­ri­tät führt zu euro­päi­schem Bewußtsein.

Neben die­ser Form euro­pä­isch-sozia­ler Soli­da­ri­tät ist auch natio­na­le Soli­da­ri­tät in euro­päi­schem Aus­maß not­wen­dig. Wenn etwa Ungarn die Gren­zen schließt, han­delt es sich hier­bei um ein Bei­spiel für eine Nati­on, die aus natio­na­lem Inter­es­se euro­päi­sche Inter­es­sen ver­tritt. Bleibt man bei die­sem Aspekt der Mas­sen­zu­wan­de­rung, so gilt es, sich bewußt­zu­wer­den, daß natio­na­le Soli­da­ri­tät auf euro­päi­scher Ebe­ne über­haupt die Grund­vor­aus­set­zung ist, um der Migra­ti­ons­kri­se zumin­dest quan­ti­ta­tiv Herr zu wer­den. Der Ansturm auf Euro­pa, der im engs­ten Sin­ne und ange­sichts der beleg­ten Zah­len ein Ansturm auf Deutsch­land ist, aber zuerst die euro­päi­schen Grenz­län­der betrifft, muß gesamt­eu­ro­pä­isch gelöst wer­den. Natio­na­le Soli­da­ri­tät heißt daher, kein Land im Stich zu las­sen und dezi­diert poli­ti­sche, euro­päi­sche Lösun­gen zu fin­den, um den gemein­sam bewohn­ten Kon­ti­nent und das gemein­sa­me geis­ti­ge und his­to­ri­sche Erbe zu bewah­ren. Das ist einer von vie­len not­wen­di­gen Schrit­ten, die hel­fen soll­ten, ein Bewußt­sein euro­päi­scher Zusam­men­ge­hö­rig­keit zu stiften.

9.) Neu­es Euro­pa heißt: mehr als nur dage­gen sein.

Sowohl die sozia­le als auch die natio­na­le Soli­da­ri­tät unter Euro­pä­ern, wie sie hier kur­so­risch ange­ris­sen wur­den, sind zunächst ver­nei­nen­der Natur, d. h. anti­im­pe­ria­lis­tisch, anti­ka­pi­ta­lis­tisch, gegen den Gro­ßen Aus­tausch, gegen die spal­te­ri­sche natio­nal­chau­vi­nis­ti­sche Enge usw. usf. Die­se nega­ti­ve Her­an­ge­hens­wei­se ist aber kein Zei­chen von Schwä­che, son­dern poli­ti­sche Nor­ma­li­tät. Um den posi­ti­ven Stand­punkt zu umrei­ßen, muß vor­her geklärt wer­den, was bezüg­lich der gegen­wär­ti­gen Ver­faßt­heit Euro­pas wesent­lich falsch und fol­ge­rich­tig abzu­leh­nen ist.

Was man – nach Klä­rung der Feind­be­stim­mun­gen – braucht, ist eine posi­ti­ve Visi­on eines eini­gen Euro­pas, und das heißt: die Visi­on eines drei­tau­send- jäh­ri­gen Kul­tur­krei­ses, der von einem unvor­stell­ba­ren Reich­tum an kul­tu­rel­len, natio­na­len und reli­giö­sen Wer­ten, an Regio­nen, Kul­tu­ren und Völ­kern geprägt ist, die sich wech­sel­sei­tig befruch­tet und beein­flußt haben. Die­se tat­säch­li­che Viel­falt, die sich von der pro­pa­gan­dis­ti­schen Diver­si­ty offi­ziö­ser EU-Poli­tik erheb­lich unter­schei­det, muß für eine euro­päi­sche Zukunft erhal­ten bleiben.

Euro­päi­sche Ideen zu erschlie­ßen und neu zusam­men­zu­set­zen, hie­ße zu ver­su­chen, von vor­ne zu begin­nen, um für­der­hin von »rechts« mehr bie­ten zu kön­nen, als die EU zu ver­dam­men und die allein selig­ma­chen­de Rück­kehr des Natio­nal­staa­tes zu prei­sen. Daß  es kei­ne pan­eu­ro­päi­schen Patent­re­zep­te gibt, auch nicht von rech­ter Sei­te, ist selbst­er­klä­rend. Doch ange­sichts des per­p­etu­ier­ten Kri­sen­zu­stands der EU und der vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Zei­ten, in denen wir uns befin­den, ist die Zeit reif, Debat­ten über das euro­päi­sche Mor­gen zu füh­ren. Sie wer­den unter Drieu la Rochel­les Maxi­me »Revo­lu­tio­nie­ren und Anknüp­fen« ste­hen müs­sen. Gesucht wird: die kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on euro­päi­scher Dimension.

10.) Das euro­päi­sche Feld zu beset­zen, heißt, der Lin­ken den ent­schei­den­den Schritt vor­aus zu sein.

Stößt man kei­ne neu­en, inno­va­ti­ven Debat­ten über die Zukunft Euro­pas an – sei es aus natio­na­ler Gesin­nung her­aus oder weil man sich weigert,

»uto­pisch« zu den­ken –, über­läßt man den Euro­pa­dis­kurs kampf­los der poli­ti­schen Lin­ken. Die Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Ulri­ke Gué­rot ist dabei im lin­ken Lager die ver­sier­tes­te Euro­pa­den­ke­rin. Als sol­che ist sie aber auch der Pro­to­typ einer euro­päi­schen Idea­lis­tin, die Rich­ti­ges ana­ly­siert, aber – auf­grund ihrer feh­len­den Rück­ge­bun­den­heit an Regi­on, Nati­on und Euro­pa als Erfah­rungs­räu­me der Hei­mat – Fal­sches folgert.

»Ihr« Euro­pa kennt kei­ne loka­len, regio­na­len, eth­ni­schen, reli­giö­sen oder kul­tu­rel­len Beson­der­hei­ten, die es als genu­in euro­päi­sches Erbe zu bewah­ren gäl­te. Gué­rot kennt letzt­end­lich nur den auf­ge­klär­ten, mün­di­gen euro­päi­schen Welt­bür­ger, der bin­dungs­los, mit­hin zufäl­lig auf dem Ter­ri­to­ri­um der heu­ti­gen euro­päi­schen Staa­ten lebt. Die­se feh­len­de Rück­ge­bun­den­heit ist die Ursa­che aller wei­te­ren Fehl­schlüs­se. Sie wird die lin­ke Euro­pa­vi­si­on eben­so zum Schei­tern brin­gen wie die damit kor­re­lie­ren­de Preis­ga­be der sozia­len und natio­na­len Soli­da­ri­tät als Anker gesell­schaft­li­chen Han­delns. Heu­te ist also in vie­ler­lei Hin­sicht der rich­ti­ge Zeit­punkt für eine Neu­jus­tie­rung euro­pä­isch-neu­rech­ten Den­kens und die ent­spre­chen­de Beset­zung des euro­päi­schen Geländes.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)