Ich sehe was, was Sie nicht sehen! Nämlich: ein anderes Photo der »Rockröhre« (BILD) Jennifer Weist. Es zeigt wie das Bild rechts einen Ausschnitt aus dem aktuellen Video »Hengstin« der Popkapelle Jennifer Rostock, einem vorpommerschen Projekt zur Erschaffung zeitgeisttauglichen Liedguts. Das Bild, auf dessen Zurschaustellung wir hier aus Gründen des Anstands, des Geschmacks und des Jugendschutzes verzichtet haben, zeigt Jennifer W. nicht gerade wie Gott sie erschuf, aber doch unbekleidet. Sie sitzt zurückgelehnt, hat die Beine breit gespreizt und die Arme vor ihren Brüsten (»von A auf C getunet«, BILD) derart verschränkt, daß sich die Hände über ihrer Scham überkreuzen. »Scham«, haha!
Heute, wo »Schamverlust« wieder ein zu affirmierendes Thema ist, sagt frau dazu gern wieder mit Retrogezwinker: »untenrum«. Frl. Stokowski (Spiegel-online-Kolumnistin) hat ihr aktuelles Opus magnum so benannt (Untenrum frei); Charlotte Roche war mit Feuchtgebiete und Schoßgebete ebenso ein, hm, literarischer Vorläufer wie Frl. Laurie Penny (junge Nr. 1‑Popfeministin, Buch: Fleischmarkt), Mithu M. Sanyal (Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts) oder das ältere Frl. Emcke, Friedenspreisinhaberin (Buch: Wie wir begehren). Bei all diesen Frauen mit ihrem Untenrumgeraune haben wir es mit sogenannten Role models zu tun, sprich: mit solchen, die als paradigmatisches Rollenvorbild für die heute mitteljunge, »zornige« Frauengeneration taugen.
Zurück zu Frl. Weists hier zu imaginieren- dem Photo: Wir sehen den fast vollständig tätowierten Körper der »Frontfrau« (die dieser Tage dreißig wird). Einen Oberschenkel ziert der breite Saum eines halterlosen Strumpfes. Auf den rechten Oberschenkel sowie auf die linke Wade sind mit heißer Nadel ausführliche Texte gestochen. Welche, können wir weder lesen noch wissen, das gehört – wie sämtliche anderen tätowierten Aus- sagen – für Frl. Weist zur Privatsphäre. (»Mein Körper ist mein Tagebuch.«) Es wird so etwas wie Wolfram von Eschenbach (rechts) und Walter Scott (links) sein – man sollte sich hüten, die Leute zu unterschätzen! Auch Frl. Weists Hals ist grell tätowiert. Bei der Einspielung ihres (klar: ironisch-abschreckenden) »Songs« »Dann wähl die AfD« trat klar hervor, daß das Frollein »so ’nen Hals!« hat. Knallrot! Die Stimme der Wut!
Weist und ihre Kapelle sind Teil jenes künst- lich gezüchteten Protestmilieus, das so tut, als schwimme es wütend gegen den Strom, wobei das ganze Arrangement tatsächlich darauf ab- zielt, die Kraft des Hauptstroms zu maximieren. Bilder, Satzfetzen und ein treibender Rhythmus dienen dabei als Botschaftsverstärker. Vor der Textanalyse wollen wir uns das nebenstehende Photo anschauen.
Bitte: Nicht fixieren, zunächst grob drüber- schauen! Eine traurige Frau (hängt da nicht ein kleiner Rotztropfen aus der Nase?) mit sorgsam gezupften Augenbrauen schaut melancholisch in die Ferne. Sie hat es nicht leicht! Zumindest, was ihr Ohrgehänge betrifft. So große, fragile Reifen an so kleinen Läppchen! Wie verletzlich! Eine unerwartete Bewegung, und das Häutchen würde einreißen! Außerdem hat ihr jemand Marshmallows in die Haare geklebt. Eine Situation, die wahrlich nicht zum Lachen ist! Schauen wir genauer hin, sehen wir, daß der großdimensionierte Ohrschmuck die filigrane Inschrift »Hengstin« beinhaltet. Ein genderirritierender Begriff, vergleichbar mit »Hebammer«.
Die Marshmallows (deutsch: Mäusespeck) erweisen sich als Haarschmuck und Flechtwerk. Wir merken zudem, daß das Rötzchen ein Nasenring ist. Das ist üblicherweise ein Accessoire für hysterische Rinder und abgerichtete Tanzbären. Wer freiwillig seine Nasenscheidewand durchstoßen läßt, um einen Ring hindurchzuführen, offenbart ein gewisses Quentchen an Masochismus. Talentierte Pferde, Hengste wie Stuten, pflegt man zuzurichten. Man nennt das Dressur. Auf Menschinnen angewandt, wirkt dieses Wort unzeitgemäß. Nur Untertanen lassen sich dressieren. Wer will schon als Untertan gelten? Höchstens diejenigen, die den mitleiderregenden Untertanenstatus für sich beanspruchen, in Wahrheit aber wissen, daß sie das Wort haben.
Das Zauberwort heißt Choreographie. Eine Sache choreographisch darzustellen, das ist ein wirkmächtiger Kommunikationsakt – wenn es professionell geschieht. Per Assoziation werden mittels Choreographie Emotionen geschürt, Gefühle werden durch Inszenierung gebahnt. Es ist eine Anleitung zum Fühlen.
Jennifer Rostocks neues Video »Hengstin« hat wahrlich eine professionelle und ziemlich strikte Choreographie. Bislang haben rund drei Millionen Konsumenten das Kunstwerk angeklickt. Zunächst tanzt zu aggressiven Rap-Beats eine weibliche Garde in Formation: schwarz gekleidet, körperbetont und vollverschleiert – nur die Augen sind unbedeckt. Dann tritt Frl. Weist auf, mit schrillbuntem BH- und Höschen-Outfit, Mäusespeck und Nasenring. Später auch nakkend, und, wie man einstmals zu sagen pflegte: in obszöner Pose. Was hat sie zu sagen? Das:
Du hast gelernt, dass man besser keine Regeln bricht,
dass man sich besser nicht im Gefecht die Nägel bricht.
Tiefe Stimmen erheben sich, gegen dich, knebeln dich,
doch wer nichts zu sagen wagt, der spürt auch seine Knebel nicht.
Du fragst, was Sache ist? Reden wir Tacheles!
Ich glaube nicht daran, dass mein Geschlecht das schwache ist,
ich glaube nicht, dass mein Körper meine Waffe ist,
ich glaube nicht, dass mein Körper deine Sache ist.
Reiß dich vom Riemen, es ist nie zu spät, denn ein Weg entsteht erst, wenn man
ihn geht.
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin, ich bin ’ne Hengstin!
Trau keinem System, trau nicht irgendwem, lass dich nicht von Zucker und Peitsche
zähmen.
Ich bin kein Herdentier, nur weil ich kein Hengst bin, ich bin ’ne Hengstin!
System! Waffen! Knebel! Peitsche! Oh je! Soviel wilde und offensive Opposition geht nur, weil das hengstmäßig sich aufbäumende Frollein in Wahrheit eine Stute ist. Ungezügelte »Systemgegnerschaft« ist dann kompatibel, wenn du das richtige Geschlecht hast und im Namen eines empfundenen, irgendwie revolutionär assoziierten Zwittertums aufgebehrst. Die Frau, die »endlich« aufbricht von ihrer Rolle »am Herd«. Die mit den »Haaren auf den Zähnen«, Genderbender, Vagina dentata. Es ist interessant, wie man im Zeitalter der Frauenquoten und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes Emanzipation als Akt der Wagnis und der frechen Revolution performen kann!
Für ihr fulminantes Video hat Jennifer Rostock einige Kombattantinnen gewonnen, die hier in kurzen Sequenzen als »starke Frauen« aufblenden. Beispielsweise Britta Steffen, Schwimmerin, oder Vanessa Low, Leichtathletin, daneben eine Tätowierungskünstlerin, eine Galeristin, eine Skaterin. Sie alle: Alpha-Stuten, Superfrauen, Rollenvorbilder. Sie alle: mitgerissen vom Hauptstrom.
Für Hengstin Weist ist das Körperthema bestimmend: »Es geht darum, dass ich mit meinem Körper machen kann, was ich möchte. My body, my rules. Nur weil ich Silikon-Brüste habe, heißt das noch lange nicht, dass man mich dar- auf reduzieren kann.« Eines ihrer neuen Lieder trägt passend den Titel »Silikon gegen Sexismus«. Übrigens haben diverse »Fap-Versionen« von
»Hengstin« mehrere Zehntausend Zuschauer generiert. Falls Sie nicht wissen, was »fap« heißt: Bitte nur im Falle der äußersten Not googlen!
Nun waren innerhalb der Popkultur Frauen- stimmen immer eine Speerspitze der Avantgarde. Man erinnere sich an die Sängerin »Alexandra« alias Doris Nefedov, die in den späten sechziger Jahren reüssierte. »Mein Freund, der Baum« und »Zigeunerjunge«, das waren damals neue Themen, Ökologie und Exotik. Dazu: diese tiefe Altstimme, dieser Werdegang: Modedesignerin, Miss-Germany-Bewerbung, Schulabbruch, Ehe mit einem alten Russen. Unerhört, damals! Und doch: eine Seele. Eine »ehrliche Haut« (unvergrößert obenrum, unbeschriftet untenrum), authentisch, klangvoll. Wie sind wir auf den Hund gekommen! Pardon: Hündin. Es gibt übrigens auch dafür ein angloamerikanisches Wort. Bitte nur zur Not googlen.