Heimito von Doderer – Zauberhafte Beobachtung

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Hei­mi­to von Dode­rer, gebo­ren am 5. Sep­tem­ber 1896 in Weid­lin­gau bei Wien, Öster­reichs berühm­tes­ter Schrift­stel­ler trotz »Nazi­ver­gan­gen­heit«, war ein veri­ta­bler euro­päi­scher Mora­list, einer von der beob­ach­ten­den Sor­te. Er starb am 23. Dezem­ber 1966, sein Todes­tag jährt sich heu­er zum 50. Mal. Erst im fort­ge­schrit­te­nen Alter wur­de er, der zuerst erfolg­los Kurz­pro­sa schrieb, mit­tel­al­ter­li­che und früh­neu­zeit­li­che Geschich­te stu­dier­te und in Wie­ner Seces­si­ons­krei­sen ver­kehr­te, dem deutsch­spra­chi­gen Lese­pu­bli­kum als der öster­rei­chi­sche Gegen­warts­au­tor bekannt.

In den 50er Jah­ren unter­hielt Dode­rer mit Carl Schmitt und Armin Moh­ler Brief­wech­sel und war über­zeugt, daß Ernst Jün­ger neben sei­nem Freund Albert Paris Güters­loh »der größ­te deut­sche Schrift­stel­ler über­haupt sei«. In die­ser Linie läßt er sich lesen, und die­se wie­der­um von der Mora­lis­tik her, die man seit dem 16./ 17. Jahr­hun­derts mit Namen wie Mac­chia­vel­li, Gra­cián, Mon­tai­gne, La Roche­fou­cauld, Riva­rol ver­bin­det. Sie ist etwas, das sehr wenig mit Moral, dage­gen sehr viel mit den ›Mores‹ zu tun hat, das heißt mit den Lebens- und Seins­wei­sen des Men­schen in ihrer »rei­nen, auch ›unmo­ra­li­schen‹ Tat­säch­lich­keit« (Hugo Friedrich).

Dode­rer hat Zeit sei­nes schrift­stel­le­ri­schen Tuns par­al­lel Apho­ris­men pro­du­ziert, teil­wei­se aus sei­nen Roma­nen her­aus­ko­piert, teil­wei­se eigens für sein alpha­be­tisch ange­ord­ne­tes Reper­to­ri­um. Ein Begreif­buch von höhe­ren und nie­de­ren Lebens-Sachen von 1941 bis 1966 ver­faßt. Man­che sei­ner Figu­ren spre­chen gera­de­zu in Apho­ris­men, er zitiert auch mit­un­ter sei­ne Alter-ego-Prot­ago­nis­ten Sek­ti­ons­rat Gey­ren­hoff, Leon­hard Kak­ab­sa, René Stan­ge­ler und Kajet­an Schlag­gen­berg aus den Dämo­nen (1956), als wären sie Kol­le­gen. Hei­mi­to (der sin­gu­lä­re Vor­na­me ist eine Erfin­dung sei­ner offen­bar auch mit der Kunst des Fabu­lie­rens begab­ten Mut­ter Wil­hel­mi­ne, der der spa­ni­sche Name »Jai­me«, Kose­form »Jai­mi­to«, so gefiel, daß sie ihn ein­deutsch­te, dem Jun­gen blieb der Spitz­na­me »Heim­chen«), Hei­mi­to von Dode­rer also (das adli­ge »von« war in Öster­reich seit Repu­bliks­grün­dung 1919 abge­schafft, als Künst­ler­na­me jedoch zuläs­sig, und wer woll­te sich damit lie­ber zie­ren als so jemand wie Dode­rer, dem das Zeit­ak­tu­el­le immer zuwi­der war?), leb­te fast aus­schließ­lich in Wien.

Er exis­tier­te in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen, sein Adel nur mehr Papier- form, sei­ne ver­schie­de­nen »Ate­liers« waren spar­ta­nisch und nie von einer Frau (er war zwei­mal immer­hin ver­hei­ra­tet) mit­be­wohnt oder mit ord­nen- der Hand geschlich­tet. 1916 geriet Dode­rer in rus­si­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft und kehr­te erst 1920 zurück, weil der Zug der Frei­ge­las­se­nen an der ukrai­ni­schen Gren­ze kehrt­ma­chen muß­te und zurück in ande­re Lager noch wei­ter nörd­lich gelei­tet wurde.

Dode­rer blieb immer klag­los, Kriegs­ge­fan­gen­schaft war für ihn kein Grund, sich den schnö­den Zeit­läuf­ten außer durch inne­re Distan­zie­rung zu wider­set­zen: »Mich soll alles Der­ar­ti­ge nicht hin­dern, das Pro­vi­so­ri­um, in wel­chem wir leben, als ein Sei­en­des  zu app­er­zi­pie­ren« (Tan­gen­ten, S. 333) – schrieb er 1945 in glei­cher­ma­ßen miß­li­cher Lage. Die Jah­re 1940 bis 1945 waren für das Werk Dode­rers ein ent­schei­den­der Abschnitt. Wäh­rend er, im Alter von über 40 Jah­ren unfrei­wil­lig ein zwei­tes Mal zur Wehr­macht beor­dert, »im Bauch des Levia­thans« durch halb Euro­pa geschleift wur­de und schließ­lich in Nor­we­gen in nun bri­ti­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft geriet, doku­men­tier­te er kei­nes­falls das Tages­ge­sche­hen oder poli­ti­sche Ein­las­sun­gen, son­dern notier­te Apho­ris­men, (oft auto­di­dak­ti­sche) Refle­xio­nen über phi­lo­so­phi­sche Gedan­ken­ge­bäu­de, Cha­rak­te­ri­sie­run­gen sei­ner Roman­fi­gu­ren, ent­warf sei­ne Bücher buch­stäb­lich an Reiß­bret­tern und extra­hier­te dar­aus anthro­po­lo­gi­sche Maximen.

Und er schrieb von 1931 bis 1940 unter dem für ihn ero­tisch-gehei­men Arbeits­ti­tel »Dicke Damen« sei­nen bes­ten Roman, eine wah­re »Kon­struk­ti­ons­mons­tro­si­tät« (Mose­bach). Erst Jah­re nach dem Krieg ist die­ser Text als Die Dämo­nen (Titel und Inhalt spie­len mit Dos­to­jew­skis Dämo­nen und »DD« – »Dicke Damen«) erschie­nen. In der Erst­fas­sung nann­te er ihn »Die Dämo­nen der Ost­mark«, aus­pro­bie­rend, ob man dem für Dode­rer lebens­lang unter­grün­dig wirk­sa­men Gegen­satz von Juden und Ari­ern Roman­form geben könn­te. Eine Revi­si­on des Tex­tes 1939 /40 führ­te aber schon damals zum Ver­wer­fen die­ses psy­cho­his­to­ri­schen Programms.

Was blieb, war ein hoch­kom­ple­xer Wien-Roman der Zwi­schen­kriegs­jah­re (Die Strudl­hof­stie­ge gehört als Pre­quel zum Kom­plex der Dämo­nen) mit min­des­tens vier Dode­rer-Reinkar­na­tio­nen und natu­ra­lis­ti­schen Kaf­fee­haus­sze­nen mit »dicken Damen« (unbe­schreib­lich deren wohl­ver­schnür­te, duf­ten­de Kör­per­fül­le und ihr Mit­tei­lungs­drang, sie hät­ten hun­der­te Tele­fo­ne zugleich haben müs­sen, um ihre gesprächs­wei­se Exis­tenz sogleich zu ver­dop­peln, indes, der »Döb­lin­ger Hof« ver­füg­te 1926 nur über zwei Telefonzellen).

Dode­rer als Mora­list also. Es gibt in der euro­päi­schen Tra­di­ti­on zwei Arten von Mora­lis­ten, die »Erken­ne-die-Lage- Mora­lis­ten« und die »Distin­gu­ie­rer«. Die ers­te­ren for­mu­lie­ren Ver­hal­tens­leh­ren in einer ago­na­len Gesell­schaft, prag­ma­ti­sche Hand­lungs­ma­xi­men, »Hand­ora­kel« zur schnel­len Ori­en­tie­rung in den Nie­de­run­gen der poli­ti­schen Macht. Zu ihnen gehö­ren poli­ti­sche Köp­fe wie Mac­chia­vel­li, Gra­cián, Brecht, Carl Schmitt und der Dode­rer eben­falls wohl­be­kann­te Franz Blei.

»Von mir selbst habe ich nichts Gan­zes aus einem Stü­cke, nichts Ein- faches, nichts Fes­tes ohne Ver­wir­rung und ohne Bei­mi­schung anzu­füh­ren, nichts, was ich in ein Wort fas­sen könn­te. Distin­guo ist das all­ge­mei­ne Glied mei­ner Logik«, schrieb Michel de Mon­tai­gne in sei­nen Essais 1580. So ein Distin­gu­ie­rer war auch Hei­mi­to von Dode­rer. Der schrieb in beob­ach­ten­dem Ges­tus 1962, die Lage wol­le »apper­ci­piert, nicht kri­ti­siert sein; und sie wird sicht­bar im Zer­fall der fal­schen Ganz­hei­ten. Nur wer den Mut hat, jene zer­fal­len zu las­sen in der unvor­ge­ord­ne­ten Apper­cep­ti­vi­tät, wird den Grund jeder Lage – im dop­pel­ten Sin­ne – erbli­cken«. (Dode­rer, Reper­to­ri­um, »Jetzt«)

Mar­tin Mose­bach hat in dem bril­lan­ten Vor­trags­text Die Kunst des Bogen­schie­ßens und der Roman (2006) Dode­rers phy­si­sche (Bogen­schie­ßen!) und see­li­sche Hal­tung über des­sen bei Kant geklau­ten Lieb­lings- begriff der »App­er­zep­ti­on« erschlos­sen: »das Bereit­sein, die Signa­le und Prä­gun­gen der Ding­welt und die auf­stei­gen­den Bil­der der Erin­ne­rung zu emp­fan­gen.« Mehr muß ein Schrift­stel­ler, für Dode­rer weit mehr als ein Beruf, eine Exis­tenz­form, nicht tun, aber dies ist eine schwe­re Auf­ga­be der Selbstzurücknahme.

»Eine in erster Linie sprachliche Katastrophe« – die Niederungen der Politik

»Es grollt im Gedärm der Stadt, Stür­me ziehn vor­über, es dröhnt und trom­melt, fast wie einst, dahin­ten in der Fer­ne der Jah­re, damals in jenem Krie­ge. Das kommt vom Stol­len der Unter­grund­bahn, wel­cher nahe­bei liegt. Man denkt viel­leicht an den Krieg. Man sieht wie­der den Him­mel über der Früh­jahrs­schlacht einen Augen­blick lang, die kom­pakt auf­schie­ßen­den Erd­bäum­chen ein­schla­gen­der Geschos­se, Kegel, die auf der Spit­ze ste­hen, noch dick vom empor­ge­ris­se­nen Boden, kör­per­haft, jetzt in Brok­ken sprit­zend, im Qualm ver­schwe­bend. Du Leben. Jetzt hat man die­se Anstel­lung.« (Dode­rer, Ein Mord, den jeder begeht, S. 289f.)

Das ist aus sei­nem zwei­ten Roman und – soweit ich weiß – die ein­zi­ge Rom­an­stel­le sei­nes Gesamt­werks, an der er – halb expres­sio­nis­tisch, halb neu­sach­lich – expli­zit auf den Krieg rekur­rier­te. Lesern, die dem Schiff­bruch des 20. Jahr­hun­derts von der Zuschau­er­tri­bü­ne aus zuschau­ten, muß­te es auf­fal­len, daß er die Welt­krie­ge umfuhr, als habe es sie nicht gege­ben. Tage­buch­stel­len ver­fuh­ren iro­ni­sie­rend, etwa aus dem Jah­re 1945: »Und jetzt sol­len wir noch hint­nach Notiz neh­men?« (Tan­gen­ten, 329). Er hat dem Zeit­geist nicht ein­mal »den klei­nen Fin­ger gereicht« (Mose­bach). Ist das Esca­pism, wie Dode­rer sich sel­ber, die öffent­li­che Nach­kriegs-Außen­per­spek­ti­ve pro­be­hal­ber ein- mal anneh­mend, fragte?

Franz Schuh hat ein­mal bemerkt, Dode­rers Lie­be sei »die eines scharf vom Mit­men­schen getrenn­ten Indi­vi­du­ums, das eigen­mäch­tig einen ande­ren Men­schen her­an­zieht oder abstößt«. Er hat sie abge­sto­ßen. Sei­ne Bio­gra­phen ähneln sich dar­in, daß sie ihren Autor nicht mögen: Wolf- gang Flei­scher war in den letz­ten Jah­ren des Schrift­stel­lers sein jun­ger Sekre­tär für Brief­post und ande­re Erle­di­gun­gen und wur­de nach Dode­rers Tod 1966 beschäf­ti­gungs­los und ressentimentgeladen.

Das ver­leug­ne­te Leben hieß dann auch sei­ne Abrech­nung mit sei­nem Chef, des­sen Ver­stri­ckung ins Drit­te Reich er peni­bel rekon­stru­ier­te. Von Flei­scher kommt auch die Ver­leum­dung, Dode­rer sei 1933 »Ille­ga­ler« gewe­sen, also Natio­nal­so­zia­list, als die NSDAP ver­bo­ten war, was durch­aus unrühm­li­cher wäre, als bloß ein »März­ge­fal­le­ner« zu sein. Und Alex­an­dra Klein­ler­cher pick­te sich dann gleich nur die­sen Bestand­teil des Lebens her­aus: Zwi­schen Wahr­heit und Dich­tung. Anti­se­mi­tis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus bei Hei­mi­to von Dode­rer erschien 2006. Sie stell­te klar, daß Dode­rer es geschafft hat­te, genau in den zwei Mona­ten in die Aus­lands­par­tei ein­zu­tre­ten, wo die­se weder ver­bo­ten noch die Repu­blik abge­schafft war, näm­lich am 1. April 1933, was Dode­rers Bio­graph Klaus Nüch­tern süf­fi­sant für »kei­nen April­scherz!« hielt.

Was bewog den welt­fer­nen »Distin­gu­ie­rer« dazu, in die NSDAP ein­zu­tre­ten? Anti­se­mi­tis­mus und Kar­rie­re­geil­heit, mei­nen die drei Bio­gra­phen. Ich habe da noch einen ande­ren Ver­dacht: Dode­rer hat­te einen ähn­li­chen Huma­nis­mus aus­ge­bil­det wie sei­ner­zeit Gott­fried Benn. Wo jener die »Dori­sche Welt« beschwor, ver­such­te die­ser »mit (sei­nem) ›kon­struk­ti­ven Den­ken‹ eines neu­en Römi­schen Rei­ches im Jah­re 1933« (Tan­gen­ten, S. 472) ganz ahis­to­risch, wie Huma­nis­ten nun ein­mal sind, in die Geschich­te ein­zu­tre­ten. Dode­rer war so beschaf­fen, daß er das wirk­lich glaub­te, ein »Strong poet« (Harold Bloom), kein »Erkenne-die-Lage«-Moralist. Fol­ge- rich­tig sah er nach der deut­schen Nie­der­la­ge die­sen Welt­un­ter­gang auch als eine »in ers­ter Linie sprach­li­che Kata­stro­phe« (Tan­gen­ten, S. 414).  Das muß erklärt wer­den, hält man sonst Dode­rer spä­tes­tens jetzt wohl für einen völ­lig traum­tän­ze­ri­schen Ästhetizisten.

Er hat bestimm­te Begrif­fe in eine fast witt­gen­stein­sche Pri­vat­spra­che über­setzt, die mit der nor­mal­sprach­li­chen Bedeu­tung nur mehr den Ursprung gemein hat. Das »Sprach­li­che«, »der Schrift­stel­ler«, »die Apper­cep­ti­vi­tät« und »die Ero­tik« sind sei­ne sub­stan­ti­el­len Exis­ten­tia­li­en. Tho­mas von Aquin, den er als Katechu­me­ne 1940 rezi­pier­te – katho­lisch muß­te Dode­rer auch erst noch sekun­där wer­den, wor­auf er seit­dem schwer bedau­er­te, es nicht von Kind­heit an gewe­sen zu sein –, unter­schied die Exis­ten­tia­li­en in Sub­stan­tia und Acci­dens. Der Kon­ver­tit hielt sowohl sei­ne eige­ne natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Phan­tas­te­rei für »akzi­den­ti­ell« als auch den gesam­ten NS für ein Ver­feh­len mensch­li­cher »Sub­stanz«, eine »Ton­nen­exis­tenz« in der »ver­min­der­ten Wirklichkeit«.

Er ver­schrieb sich der »App­er­zep­ti­on« der phä­no­me­na­len Welt in einem Gra­de, der ihn davor ver­schon­te, in die Zeit­läuf­te zu inter­ve­nie­ren und sich mit den Mit­men­schen »gemein« zu machen (auch so eine gestei­ger­te Wort­ka­denz: »das All­ge­mei­ne« – »das All-Gemei­ne« – »das Gemeine«).

Dode­rers Kon­ser­va­ti­vis­mus ist kein poli­ti­scher, son­dern ein mora­lis­ti­scher: »Gelas­sen­heit« der Objekt­welt gegen­über, um sie sezie­ren zu kön­nen bei leben­di­gem Leibe.

Hei­mi­to von Dode­rer als kon­ser­va­ti­ven Schrift­stel­ler zu ver­ein­nah­men, ist ein unmög­li­ches Unter­fan­gen. Zum einen ist sein Kon­ser­va­ti­vis­mus vor allem ein epis­te­mo­lo­gi­scher, »pri­vat­sprach­li­cher« – für ihn folgt aus der objekt­ge­mä­ßen App­er­zep­ti­on, daß das empi­risch Gege­be­ne ihr nicht ent­glei­ten darf, man es nicht ver­än­dern dür­fe, son­dern kon­ser­vie­rend nur wahr­neh­men könn­te, »damit wir’s sähen, grad im auf­blit­zen­den Schei­ne des Ver­lusts« (Reper­to­ri­um, »rechts und links«). Zum ande­ren ist eben­die­se kon­ser­vie­ren­de Wahr­neh­mung mit kei­ner poli­ti­schen Ten­denz zusam­men­zu­brin­gen, weil die­se sofort »App­er­zep­ti­ons­ver­wei­ge­run­gen« mani­fes­tie­ren, Urtei­le ent­hal­ten, eine »Figur« aus einem Schrift­stel­ler machen wür­de. Wer’s trotz­dem ver­sucht und sich sei­nen Dode­rer als kon­ser­va­ti­ven Vor­den­ker zurecht­zi­tiert, bleibt in den Maschen sei­ner fei­nen Text­ge­we­be hän­gen. »App­er­zep­ti­ons­ver­wei­ge­rer« sind mit Dode­rer nicht bloß die ihm ver­ächt­li­chen lin­ken Revo­lu­tio­nä­re, son­dern jeder, der sei­nen mora­lis­ti­schen Stoi­zis­mus der Gelas­sen­heit nicht durchhält.

Die Strudl­hof­stie­ge, Dode­rers berühm­tes­ter Roman, erschie­nen 1951. Eva Men­as­se hat in die­sem 50. Todes­jahr Dode­rers Leben in Bil­dern klug kom­men­tiert. Sie hält die­sen Roman als Ein­stiegs­dro­ge ins Werk für ganz unge­eig­net, zu ver­wir­rend, zu vor­aus­set­zungs­reich. Viel­leicht ist der baro­cke Kon­trast zur Kahl­schlag­li­te­ra­tur der Nach­kriegs­zeit den Zeit­ge­nos­sen so wohl­tu­end erschie­nen, daß der Spie­gel (23 /1957) auf dem Höhe- punkt sei­nes Ruhms ein rah­men­spren­gen­des Rie­sen­do­de­rer­pho­to auf dem Titel hat­te, dar­un­ter »Roman vom Reiß­brett«. Die Strudl­hof­stie­ge (sowohl die rea­le im neun­ten Bezirk in Wien als auch der Text) ist gefin­kelt kon­stru­iert: »Ein Werk der Erzäh­lungs­kunst ist es um so mehr, je weni­ger man durch eine Inhalts­an­ga­be davon eine Vor­stel­lung geben kann« (Reper­to­ri­um, S. 72). Doch ist der his­to­ri­sche Inhalt des geschil­der­ten 20er- Jah­re-Wiens von der­ar­tig über­zeit­li­cher Reich­wei­te, daß man davon im Kopf nicht mehr los­kommt. Und nach der Lek­tü­re der neben­ste­hen­den Zei­len kann doch kein Emp­fin­den der Öster­rei­cher mehr behaup­ten, dama­li­ge und heu­ti­ge Ein­wan­de­rung sei­en ein und dasselbe!

Die Lust am Groben

»Man sage, was man will, selbst bei der Tugend ist der letz­te Zweck, den wir bezie­len, Wol­lust. […] Die­se Wol­lust ist dadurch, daß sie leb­haft, ner­vigt, stark und männ­lich ist, nur um so wol­lüs­ti­ger. Und ihr soll­ten wir den Namen des ange­nehms­ten, süßes­ten und natür­lichs­ten Ver­gnü­gens geben, nicht dem Ver­gnü­gen der Kraft der Gesund­heit, wofür wir es gebrau­chen.« (Mon­tai­gne: Essais, S. 7 f.).

Hei­mi­to von Dode­rer als Wol­lüst­ling in die­sem Sin­ne zu sehen, kommt ihm viel­leicht recht nahe. Sei­ne Roma­ne sind durch­zo­gen vom Ero­ti­schen, durch­aus auch Per­ver­sen, jeden­falls ent­schie­den Männ­li­chen. Das Männ­li­che ist grob, aber kei­nes­falls nied­rig, und läßt sich im Zwei­fels­fal­le in daniilch­ar­man­ter »Sexu­al­gro­tes­ke« (Max Goldt) auffangen.

Die Mero­win­ger oder Die tota­le Fami­lie (1962) ist ein gro­ber Streich: Chil­de­rich III., der letz­te der Mero­win­ger, Jahr­gang wie Dode­rer 1896, strotzt vor Kraft und dem hane­bü­che­nen Plan, alle Glie­der der Adels­fa­mi­lie von Bar­ten­bruch in sei­ner eige­nen Per­son zu ver­kör­pern. Dazu muß er erst ein­mal eini­ge Gat­tin­nen erle­di­gen, nie­mals jus­ti­tia­bel, eher durch Kraft sei­ner Len­den und deren Deka­denz, legt sich alle Bart­trach­ten der ver­bli­che­nen Män­ner sei­nes Geschlechts nach und nach zu, um schließ­lich doch beim Psy­cho­lo­gen Prof. Horn son­der­ba­ren Heil­ku­ren (Her­um­füh­ren an der »Nasen­zan­ge«, »Wut­häus­lein«) unter­zo­gen wer­den zu müs­sen, um sei­ne hyper­vi­ri­len Wut­aus­brü­che abmil­dern zu las­sen. Er zeugt, brüllt und schlägt sich durchs Leben. Die­sen Typus nicht zu psy­cho­lo­gi­sie­ren, ist in der Lie­bes­se­man­tik des ange­hen­den 20. Jahr­hun­derts in Wien schlech­ter­dings unmög­lich. Dode­rer gelingt es, indem er – wie schon zuvor in Ein Mord, den jeder begeht – allent­hal­ben ein­streut, wie man das zu Beschrei­ben­de jetzt in psy­cho­lo­gi­scher Fach­spra­che bezeich­nen wür­de, dies auch mit einem Wort tut, um danach, mit völ­lig ande­ren Wor­ten anset­zend, das Phä­no­men neu zu beschreiben.

»Den Mero­win­ger jedoch ergriff ein dunk­ler Par­oxys­mus, wel­cher über sei­ne ohne­hin schon etwas stür­mi­sche Auf­fas­sung vom Ehe­le­ben noch hin­aus­ging. […] Der Kne­bel­bart, wel­chen er, sei­nen Groß­va­ter nicht nur ehe­lich, son­dern auch bärt­lich beer­bend, nun­mehr sich wach­sen ließ, war nur das ers­te sicht­ba­re Zei­chen neu eröff­ne­ter Aus­bli­cke und eines gewal­tig sich erhe­ben­den Selbst­be­wußt­seins, wel­ches nun wie ein hoch­ge­schwun­ge­nes Brü­cken­joch über die ernied­ri­gen­den Erin­ne­run­gen der Jugend hin­weg zu füh­ren ver­sprach.« Mero­win­ger, S.40

Sol­ches hoch­ge­schwun­ge­ne Brü­cken­joch stand Dode­rer selbst kaum ein­mal zur Ver­fü­gung, ent­spre­chend skru­pu­lös war sein Selbst­be­wußt­sein, schwank­te zwi­schen bar­ten­bruch­schen Wut­an­fäl­len, selbst­herr­li­cher Schrift­stel­ler­ar­ro­ganz (er hat­te vor­ge­druck­te Post­kar­ten, mit denen er ein- gegan­ge­ne Fan­post, die Schreib­feh­ler ent­hielt, abkan­zel­te) sowie hirn­zer­mar­tern­den Gedan­ken über sei­ne sexu­el­len Vor­lie­ben (per Inse­rat such­te er nach »kor­pu­len­ten Israe­li­tin­nen«, die er mit der Samt­peit­sche zu trak­tie­ren gedach­te) und über sei­ne Untaug­lich­keit zu Fami­lie über­haupt: Wer sich in Fami­lie begä­be, käme dar­in nur um. Chil­de­rich III. wird, statt   die »tota­le Fami­lie« zu errich­ten, tri­um­phal von sei­nem karo­lin­gi­schen Haus­mei­er und einem hin­zu­ge­ru­fe­nen medi­zi­ni­schen Mob rasiert und entmannt.

Außer­ge­wöhn­lich fein­sin­nig in der Wahr­neh­mung und Beschrei­bungs­spra­che, außer­ge­wöhn­lich grob und sem­per para­tus im Phy­si­schen – Dode­rers Habi­tus könn­te sich fünf­zig Jah­re spä­ter als unkom­pro­mit­tier­bar gegen­warts­taug­lich ent­pup­pen. Nicht jeder von Dode­rers enge­ren Mit­men­schen hat ihn indes ertra­gen kön­nen. Sein bewun­der­ter Guru Albert Paris Güters­loh, Wie­ner Archi­tekt und Seces­si­ons­künst­ler, muß­te über- haupt den gan­zen Dode­rer ertra­gen, den er als selbst­er­nann­ten »Schü­ler« tief ver­ach­te­te. Der aber ver­ehr­te Güters­loh unbe­irrt wei­ter und zitier­te jede geist­vol­le Sentenz.

Dode­rers ers­te (jüdi­sche) Frau Gus­ti Has­ter­lik muß­te wüten­de anti­se­mi­ti­sche Tira­den aus­hal­ten. Die Bio­gra­phin Klein­ler­cher ver­wun­der­te sich dar­über, wie der Schrift­stel­ler denn bloß Anti­se­mit hat­te blei­ben kön­nen, habe er doch anhand sei­ner Ehe­frau erfah­ren dür­fen, daß Juden in Wirk­lich­keit so schlimm nicht sei­en. Man­cher ist Anti­se­mit aus Ahnungs­lo­sig­keit, man­cher aus Erfah­rung. Hei­mi­to von Dode­rers Lob­preis des Schla­gens und der Unbe­zwing­bar­keit der mensch­li­chen Natur ist bewußt anti­hu­ma­nis­tisch, wer dies beklagt, hat Dode­rers Meta­phern nicht ver­stan­den, und dafür setzt es, wie er im Reper­to­ri­um fest­stellt, »Schlä­ge auf den Kopf«.

Wiederverzauberung der Welt

Die Rede von »zau­ber­haf­ter Beob­ach­tung« kann man unter­schied­lich ver­ste­hen. So, daß er ein­fach hin­rei­ßend beob­ach­tet. So, daß er beim Beob­ach­ten sei­ne Objek­te ver­zau­bert. »Ergrif­fen­heit« ist eines der Zau­ber­wor­te, die Dode­rer viel­schich­tig ver­wen­de­te, auch sein Anti­se­mi­tis­mus bestand haupt­säch­lich dar­in, daß die Juden sich durch einen wesent­li­chen »Man­gel an Ergrif­fen­heit« aus­zeich­ne­ten, aller­dings zieh er auch die Deut­schen einer »Abge­stor­ben­heit des unbe­wuß­ten Den­kens, ohne Ergrif­fen­heit« schrei­be und lebe die­ses Volk. Nur ergrif­fen kann man zau­bern. Hei­mi­to von Dode­rer glaub­te wirk­lich, daß es Dra­chen gebe, Theo­rien dazu hol­te er sich archi­va­risch kra­mend her­an, aber er war sich des­sen so unvor­denk­lich sicher, wie dies nur ein Magi­er sein kann. Das letz­te Aben­teu­er (1953), eine his­to­ri­sie­ren­de Kurz­er­zäh­lung, zeugt davon.

Ich ver­zau­be­re jetzt natür­lich mein  Objekt  des  Por­träts,  statt  es zu denkon­stru­ie­ren. »Beob­ach­tung« hat kalt und sach­lich zu gesche­hen, zau­ber­haf­te Beob­ach­tung ist ein Wider­spruch in sich.  »Wir  müs­sen schon ein biß­chen kalt, distan­ziert, kon­fis­ziert sein, sonst sieht man unse­re Ein­ge­wei­de, wie bei einem Kaul­quapp.« (Reper­to­ri­um, »Bier­ehr­lich­keit«).

Der »Kaul­quapp« war eine von Dode­rers selt­sa­men Meta­phern, in der Aus­se­hen (die »schrä­gen Augen« tra­gen nicht nur er selbst, son­dern auch Kajet­an Schlag­gen­berg und sei­ne Schwes­ter, die daher den Spitz­na­men »Quapp« bekommt) und Cha­rak­ter ein­ge­fan­gen wer­den (das Durch­schei­nen­de, der Apper­cep­ti­vi­tät zugäng­li­che, das all­zu Offe­ne vie­ler sei- ner Roman­ge­stal­ten, dazu das Unfer­ti­ge, Lar­ven­haf­te). Der Kaul­quapp ist womög­lich eine rezen­te Schrumpf­form des Drachens.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Nichts schreibt sich
von allein!

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