Gewalt ist mit Clausewitz, Weber und Luhmann wesentlich »Erzwingungshandeln«, sie erzwingt ultimativ körperliche Unterwerfung. Je weiter eine Kultur fortschreitet, desto deutlicher wird physische Gewalt über- flüssig, desto mehr wird sie zu einer bloß noch symbolischen »Deckungsgarantie«, von einem Durchsetzungs- zu einem Darstellungsmittel.
Gewalt nicht anwenden zu müssen, sondern ihren Einsatz auf ihre Nichteinsetzung zu übertragen, kennzeichnet moderne ausdifferenzierte Gesellschaften. Was nämlich bleibt, ist die Drohung. Keine der modernen »symbolisch generalisierten Kommunikationsmittel« (Recht, Liebe, Politik, Erziehung usw.) funktionieren ohne das, was Luhmann ihre »symbiotischen Mechanismen« nannte, und das sind nun einmal: Körper. Politik ist Machtkommunikation, deren Ultima ratio – selbst in den Debatten zwischen ununterscheidbaren Blockparteien und auf allen parlamentarischen Vermittlungsebenen – Gewalt ist. Die moderne Demokratie tut nur so, als wäre diese undenkbar geworden und als wäre das ihr glanzvolles Verdienst.
Im Jahre 1990 ist der französische Kulturphilosoph Pascal Bruckner fast schon so gründlich infiziert von den Debatten der Nouvelle Droite um Alain de Benoist, daß er die Demokratie am liebsten ihrem selbstgemachten Untergang preisgeben würde. Tut er dann doch nicht, Linke haben da ja immer so eine irrationale Hoffnung in der Hinterhand, die alle Widersprüche versöhnen soll, aber der Beginn von Die demokratische Melancholie (dt. 1991) liest sich prophetisch.
Bruckner schreibt: »Demokratie fordert Haß heraus, denn sie ist die Gegnerin der dunklen Seite des menschlichen Lebens.« Sie ist so friedlich, so ausgewogen, so vernünftig und allgemeingültig, daß Gewalt, Polarisierung, Irrationalität und Unterdrückung keinen Platz mehr haben, außer als Negativpol, den zu bekämpfen die Demokratie einzig und weltumspannend berufen ist. Die Demokratie hat es geschafft, ihre Entstehungsbedingungen (Kampf gegen Unterdrückung, Ungleichheit, Gewalt und Gefahr) völlig unsichtbar zu machen. Demokratie ist uns Heutigen nur in den Schoß gefallen. Daß es einmal ein ungeheurer Kampf war, demokratische Prinzipien zu erringen, fällt uns nicht mehr auf, soll uns nicht mehr auffallen, denn fiele es uns auf, hätte die Demokratie noch nicht alle »antidemokratischen« Widersprüche abgetötet.
Manès Sperber hat 1970 den revoltierenden jungen Leuten entgegen- gehalten, daß es ungeheuer vermessen sei, die Nachkriegsdemokratie der- art in den Schmutz zu ziehen und sie der »repressiven Toleranz« und des »Konsumterrors« zu bezichtigen, wo ihm, 1905 als galizischer Jude geboren, noch überdeutlich vor Augen stehe, was die eben erst überwundene Alternative zu dieser Gesellschaft gewesen sei. »Allerdings«, so notierte Sperber in seiner Schrift Wider den Zeitgeist, sei »ihre radikale Verachtung nur ideologisch, denn in der Praxis genießen sie mit vollen Backen alles, was der technische Fortschritt und eine generöse Wohlstandsgesellschaft Angehörigen der ›gebildeten Stände‹ bieten können, deren Appetit so konstant ist wie ihre Überzeugung, daß sie Anrechte haben, die die Vorrechte des ›Establishments‹ sind«.
Zwanzig Jahre später ist dieser Widerspruch wohlgeglättet, die Demokratie samt »sozialer Marktwirtschaft« hat sich alternativlos durch- gesetzt, noch die widerborstigsten Revolutionäre haben es eingesehen, sind älter und machen mit. Ihr Verbalaktionismus ist die eingemeindete Schrumpfform des Widerspruchs. Bruckner geißelt die damals wie heute endemische »Faschismus«- und »Barbarei«-Schreierei anläßlich völlig banaler institutioneller, politischer und kultureller Erscheinungen. Es ist eine »Perversion der Begriffe, in völligem Frieden die Sprache des Krieges zu sprechen«. Wahrscheinlich merken aus diesem Grunde die gegenwärtigen Linken nicht mehr, wann es wirklich ernst wird. Ihre Hysterie im ausgehenden 20. Jahrhundert hat die Wahrnehmungsorgane bleibend geschädigt.
Die Demokratie in Europa ist friedfertig geworden, derartig friedfertig, daß sie zum einen alle Gewalt auslagert durch Waffenverkäufe und zum anderen durch selbstgewähltes US-Vasallentum. Kämpfen sollen lieber die anderen. Peter Sloterdijk sah vor zwei Jahren in der völligen Friedfertigkeit Europas die extreme Gefahr, daß die »Schlagfertigen« dieser Welt, seien es die USA oder der Islam, mit diesem schlaffen Gegner ihr überaus leichtes Spiel hätten. Herfried Münkler nannte denselben Befund die »fehlende Opferbereitschaft in postheroischen Gesellschaften«, die sich aus politischen Gründen keine größeren Verluste leisten dürften.
»Lieber lasch als tot«, hieße demnach der Slogan unserer Epoche, schrieb Bruckner 1991: »Nie ist es uns besser gegangen – und nie waren wir weniger bereit, für unseren Wohlstand zu sterben, so als lähmte er unseren Willen zur Verteidigung. Frankreich, wie auch ein Großteil Europas, ist eine schöne reife Frucht, bereit, dem erstbesten Eroberer in die Hände zu fallen.«
Bruckner hat Anfang der 90er Jahre nicht wissen können, was weitere zwanzig Jahre später passieren würde, aber es ist, als ahnte er aus ei- ner inneren Logik der Feigheit (»lâche« heißt eher »feige« als nur »lasch«) heraus den Anfang ihres Endes. Er zitiert Julien Benda, der meinte, man müsse immer exakt die Gegner der Demokratie hassen, weil man an dieser Geste sehe, wes Geistes Kind sie seien. Bruckners Antwort: »Meinetwegen. Aber wenn doch nun alle dafür sind?«
Der dänische Psychotherapeut Jesper Juul beobachtet seit etwa 20 Jah- ren, daß sich in Erziehung und institutionalisierter Pädagogik ein fatales Aggressionstabu durchgesetzt hat. Die neuromantische Kultur habe es geschafft, Erwachsenen die Bürde aufzuerlegen, immer lieb, freundlich, verständnisvoll und pädagogisch korrekt zu sein. »Wenn wir annehmen«, schreibt Juul, »daß meine Generation die Ehrfurcht vor Autoritäten ab-schütteln konnte – sich endlich frei fühlte, frei von Autoritäten, die vorschrieben, was und wie man zu sein hat, frei, um das zu verwirklichen, was man wirklich ist, frei von falschen Rollenspielen und frei, die eigene Identität zu bestimmen, und sich eigene Ziele zu setzen – warum haben wir, und danach unsere Kinder, den Umweg über andere Arten von Rollenspielen und eine andere Art Konformität gewählt?«
Die Gewalt der Freundlichkeit ist aus einem Kategorienfehler entstanden: Es dürfe nie wieder Krieg geben, darin waren sich alle friedensbewegten Eltern und Erzieher einig. Da die Grundlage des Krieges Gewalt sei, müsse man alle Gewalt aus der Erziehung der nächsten Generation tilgen. Da Aggression zu Gewalt führe, sei es nur konsequent, sich von ihr zu distanzieren und daraus ein Tabu zu machen.
Krieg jedoch ist nur einesteils wesentlich Gewalt, Münkler hat das anhand von Clausewitz’ triadischer Kriegsdefinition herauspräpariert: zum »blinden Naturtrieb« (Haß und Gewalt) treten immer auch die zwei anderen Faktoren »freie Seelentätigkeit« und »bloßer Verstand«, d. h. Agieren gemäß Wahrscheinlichkeit und Zufall sowie politischer Taktik. Und Aggression führt eben nicht notwendig zu Gewalt, sondern ist anthropo- logisch notwendige Zutat für Selbstbestimmung, Sexualität, materielles Überleben und jegliche kämpferische Leistung.
Das Ergebnis des Aggressionstabus ist hypersterile und durchpädagogisierte »gewaltfreie Kommunikation«, um ja niemandes Integrität noch durch »Mikroaggressionen« zu verletzen. Das Ergebnis sind rebellierende, aggressive, für psychisch krank erklärte Opfer – nicht der Gewalt, so Juul, sondern der freundlichen Gewaltfreiheit. Slavoj Žižeks ideales Liebespaar ist »interpassiv« (Robert Pfaller), es läßt lieben. Zum trauten Stelldichein bringt der Herr eine Taschenmuschi mit, die Dame einen Vibrator, sie überlassen die Gerätschaften ihrem Tun »and have a cup of tea instead«. Wir müssen heute gegen den tiefenwirksamsten Hedonismus aller Zeiten kämpfen, der die Massen in Liebe versammelt, dies aber, wie Freud bemerkte, immer unter der Voraussetzung, daß es noch Außenstehende gibt, an denen man sich abreagieren kann.
Mit dem Linguistic turn fing eine Entwicklung an, die heute in einer politischen Kommunikation endet, in der dasselbe Gewalttabu wie in der Pädagogik und in der Liebe vorherrschend geworden ist. Wittgensteins Feststellung, die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch in der Sprache (und nicht ein Gegenstand in der Welt) führte dazu, daß die sogenannte »Sprechakttheorie« nun nicht nur die wenigen Verwendungen von Wörtern beschrieb, bei denen tatsächlich im Akt des Äußerns eine Handlung vollzogen wird (z. B. jemanden taufen, das Buffet eröffnen, einen Krieg erklären), sondern Sprache generell so zu sehen begann, wie sie kausal funktioniert.
How to Do Things with Words (John L. Austin, 1962) wurde zu einem Modell, in dem Sprache nicht bloß Handlungen kausal auslöst (was schon überzogen genug wäre), sondern als »Sprechakt« selber Handlung ist. In der deskriptiven Linguistik und Sprachphilosophie ist das ja noch ein interessantes Gedankenexperiment, doch läßt man so ein Modell auf die Politik, die Pädagogik, die Sexualität los, passiert Unvorhersehbares. Man beginnt, wirklich zu glauben, daß Sprache Gewalt sei und vor allem, daß diese Gewalt überall sei: vom »Phonologozentrismus« über die »Dispositive der Macht« zur »heteronormativen Matrix«.
Die »kritische« Rezeption des Linguistic turns in amerikanischem Pragmatismus, Frankfurter Schule und französischer Postmoderne er- brachte, daß es aus dem Kausalzusammenhang kein Entrinnen mehr gibt: Hate speech ist der alles überziehende Verdacht, daß gewalttätige Sprache unmittelbar gewalttätige Fakten schafft. Sprache wirkt in diesem Verständnis entweder »sensibilisierend« oder »gewalterzeugend«, und zu bekämpfen wäre der kritischen Logik gemäß zweiteres. Untersuchungen zu Themen wie »Gewalt und Virtualität. Wie rechtsextreme Facebookseiten politische Gewalt schüren« hängen genau in diesem sprechakttheoretischen Gewaltbegriff fest. Daß die gewaltfreie politische Kommunikation sich in extrem aggressiven Forderungen nach strafrechtlicher Verfolgung, Account- und Profilsperrung, Stigmatisierung, Verfassungsschutzbeobachtung und bewußter Verhinderung von Karrieren äußert, bestätigt die Zweiseitenform: Gewalt und Friedfertigkeit sind zwei zusammenhängende Teile eines Codes.
Renaud Camus’ berühmtes Diktum, er sei dadurch zum Patrioten geworden, daß ihm verboten wurde, einer zu sein, bezeugt seine Selbstachtung angesichts einer totalen Selbstverleugnungshysterie. Angesichts einer Moralmacht, die in sich zirkulär argumentiert, dadurch aber um so kräftiger über ihre Grenzen ausgreift, packt einen mitunter eine gewaltige Immunreaktion. Derartiges Gaslighting ist Erzwingungshandeln, es erzwingt Aggression! Es erzwingt die Rückeroberung der Welt, der Welt, die man augenscheinlich erfahren kann, mit Gewalt. Das Rassismustabu vernichtet phänomenale Evidenz und erzeugt, gemäß Freuds Erhaltungssatz des Seelenlebens, exakt diese. Es geht nichts verloren, weder in der Einzelseele noch im kollektiven Gedächtnis. Weltleugnung macht die letzten Weltbewohner wütend, statt sie wie geplant zu sedieren. Dann ist Aggression kein »Kulturhindernis« mehr, sondern überhaupt der einzige lebendige Impuls, Kultur zu retten. Ob das dann eine sublimierte metaphorische Gewalt oder, wenn dieser Impuls im Tabu völlig unterdrückt wird, eine echte, physische Rassenunruhe wird, hängt von der Seelenstärke der Wütenden ab.
Das gewaltfeindliche Paradigma hat sogar diejenigen fest im Griff, die es zumindest ihrer Theorieherkunft und ihrer realistischen Anthropologie nach erkennen und ablehnen müßten. Politische Bewegungen, Initiativen, Journalisten, Denker und Parteien im rechten Spektrum müssen sich von Gewalt distanzieren und tun dies auch eilfertig, sonst ist es aus mit ihnen. Daß die Justiz, und mithin die dahinterstehende Rechtstheorie, die doch oft ideologischen Vereinnahmungsversuchen klaren Kopfes ausweichen kann, hier völlig hilflos ist und sich moralisch düpieren läßt, könnte ihr schwer auf die Füße fallen. Gewalt hat den inhärenten Vorteil, jeder- zeit vom symbolischen Darstellungsmittel auch wieder zum physischen Durchsetzungsmittel regredieren zu können.
Freud hatte recht. Aggressionsabwehr macht furchtbar unglücklich und neurotisch. Flamboyante Friedfertigkeit fordert Haß heraus, denn sie ist die Gegnerin der dunklen Seite des menschlichen Lebens. Wie kann man es ertragen, lieber feige als tot zu sein? An Männern muß diese Frage schlimmer nagen als an Frauen, denen ein Hang zur brutpflegenden Friedfertigkeit in den Schoß gelegt worden ist und deren Fortpflanzungstrieb nur darunter leidet, aggressionsgehemmte ganzkörpernette »Partner« zur Auswahl zu haben.
Systemisch ist Gewaltabschneiden tödlich: Eine Seite des Codes gewalttätig/ friedfertig zu eliminieren, führt zum Verenden der kompletten Doppelform, mithin, so leid es mir tut, auch der sozial erwünschten Friedfertigkeit.
Demokratie ist fragiler, als sie vermeint. Die Gefahr droht beileibe nicht »von rechts«, weil man da um ihre prekäre Lage sehr genau bescheid weiß, sondern die Gefahr ist von doppelter Art: kriegerischer Angriff von außen und selbstzerstörerisches Gewalttabu von innen. Gewalt zu »kanalisieren« und sie einzuhegen in Kunst, Sport, Videogames, einvernehmlichem Sex und Erwachsenenfilmen läuft ihrer Natur zuwider. Demokratie, so Bruckner am Ende der Demokratischen Melancholie, »muß sich ihr Gegenteil, Gewalt, Unnachgiebigkeit, Leidenschaft, einverleiben, sie kolonisieren« – das wahrhaft Große an der Gewalt ist jedoch, daß sie das alles nicht mit sich machen läßt.
»Megalopathen« würde Sloterdijk gern jeden Erwachsenen nennen, den die großen Dinge in Mitleidenschaft ziehen. Wer von Gewalt in Mitleidenschaft gezogen wird, kann sie nur verteidigen. Welche Folgen das in puncto Feigheit und Todesgefahr haben kann, muß einem dabei klar sein.