Jean-Jacques Rousseau war gewiß nicht der erste Mensch, der den Traum vom gewaltfreien Leben träumte. Doch er träumte ihn auf besondere Weise: als Kritik am Zivilisationsprozeß. Und er träumte ihn im weltgeschichtlich passenden Augenblick. So kam es, daß der Traum vom gewaltfreien, harmonischen Miteinander in der Rousseauschen Ausprägung eine besondere Wirkmächtigkeit entfalten konnte.
Hauptcharakter dieses Traums ist der edle Wilde als der unverdorbene Naturmensch. Unberührt von den Zwängen der Zivilisation, lebt er in friedlicher Harmonie und Koexistenz. Dieser Mensch im Naturzustand liebt sich selbst (Amour de soi), kann Wesen der gleichen Art nicht leiden sehen und stellt deshalb für sie keine Bedrohung dar (Pitié). Außerdem zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, sich selbst zu vervollkommnen (Perfectibilité). Erst im Zuge des Zivilisationsprozesses, der durch Bevölkerungswachstum und nachfolgende Ressourcenknappheit angetrieben wird, wandelt sich das Bild: Selbstliebe wird zur Selbstsucht, es kommt zur Entfremdung. Von Natur aus, so Rousseau, sei der Mensch gut.
Wirklich? Hätte man es nicht schon damals besser wissen können? Die zeitgleich ablaufende amerikanische Westkolonisation zeigte immer- hin deutlich, daß keiner der in den amerikanischen Weiten angetroffenen Indianerstämme von Natur aus friedlich lebte – Gewalt war immer dabei, und zwar nicht nur als rein reaktive Gewalt. Der Versuch, Rousseaus Traum im politischen Traum von Liberté, Egalité und Fraternité konkret auszugestalten, mündete bekanntlich in die Blutorgie der Französischen Revolution.
Als die junge Ethnologin Margaret Mead 1925 nach Samoa reiste, war sie weder der Sprache der Ureinwohner mächtig noch auf andere Weise sonderlich gut vorbereitet. Sie entstammte einer liberalen Familie aus Philadelphia/ Pennsylvania und glaubte wie viele Menschen ihrer Zeit voller Optimismus an das Gute im Menschen. Als Schülerin des Anthropologen Franz Boas war sie darüber hinaus wie dieser überzeugt, daß jede Kultur nur aus sich selbst heraus zu verstehen sei, ihre eigene Geschichte und Entwicklung habe – weshalb man auch nicht versuchen solle, ein allgemeines Gesetz aufzustellen, nach dem Kulturen sich entfalteten. Daß freilich schon die Grundannahme eines von Natur aus guten und zum gewaltfreien Miteinander neigenden Menschen von Voreingenommenheit und Realitätsblindheit zeugte, zogen weder Margaret Mead noch ihr akademischer Lehrer jemals in Betracht.
So durfte es auch nicht verwundern, daß Mead bei ihren Forschungen auf Samoa einen fast paradiesisch und traumhaft anmutenden Gegenentwurf zur lustfeindlichen und gewalttätigen westlichen Zivilisation anzutreffen glaubte. Sie berichtete verzückt von einer frei und ohne Zwänge heranwachsenden Jugend, schilderte die liebevolle Nachsicht bei der Erziehung des Nachwuchses, schwärmte von der Libertinage, die es der Jugend gestattete, gleichsam spielerisch und ohne verklemmte Moralvorstellungen sexuelle Erfahrungen zu sammeln.
So könnten die westlichen Neurosen sich gar nicht erst entwickeln – man bleibe ein Leben lang sanft gestimmt, locker und frei von Eifersucht, Rivalität, Ehrgeiz, Gewalt. Sie habe weder Mord noch Selbstmord noch Notzucht beobachten können, schrieb sie. Der Westen war begeistert – der Traum Rousseaus vom edlen Wilden, das Gauguinsche Südseeidyll stand in schönster Blüte und zog die Menschen magisch an: Seht, so sagte man, ein solches Leben ist möglich, wenn man sich nur von den Zwängen der Zivilisation befreit. Ganz ähnliche Träume träumten zuvor schon im Wilhelminischen Zeitalter und nach dem Ersten Weltkrieg die ersten deutschen Lebensreformer, Rohköstler und Nacktturner, freilich stark beargwöhnt von der Obrigkeit.
Doch wehe solchen Träumen, wenn sie mit der Realität konfrontiert werden! Im Fall der Träume der Margaret Mead sorgte für den harten Aufprall ein Berufskollege, der wenige Jahre nach Margaret Meads Samoa-Aufenthalt deren Forschungen überprüfen wollte – in durchaus wohlwollender Absicht zunächst. Dieser Kollege, sein Name war Derek Free- man, war anders als seine Vorgängerin der Eingeborenensprache mächtig, sah genauer hin und nahm deshalb eine ganz andere Realität wahr.
Er konstatierte – nach der bald eintretenden Ernüchterung ob der düsteren Faktenlage – im Paradies eine in Relation zur Einwohnerzahl deutlich höhere Zahl an Morden, Selbsttötungen und Vergewaltigungen als selbst in den USA und nahm eine ganze Vielfalt psychischer Störungen wahr. Hinsichtlich des Lobes der gewaltfreien und toleranten Eingeborenpädagogik gab es ebenfalls Korrekturbedarf – die war nämlich weder sanft noch liebevoll, sondern geradezu von drakonischer Strenge. Und was gar die angebliche Libertinage anging – kein erzkatholischer Alpenbauer, kein verklemmter holländischer Calvinist und auch kein reaktionärer Ostküstenpuritaner hätte eifersüchtiger über die Jungfräulichkeit der Töchter wachen können als ein Samoaner.
Wohl aus Gründen des Respekts vor der älteren und berühmten Kollegin hat Derek Freeman seine Forschungsergebnisse erst 1982 und damit vier Jahre nach deren Tod publiziert. Bis dahin galten Margaret Meads Forschungen als wegweisend und hatten starken Einfluß, nicht zuletzt auch außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre. Margaret Mead wurde vor allem in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts gern als Kronzeugin aufgerufen, wann und wo immer es um die Behauptung der Realisierbarkeit sanfter, friedfertiger und toleranter Gesellschaften ging.
Um die Sache hieb- und stichfest zu machen, galt es bald, auch die nächsten Verwandten des Menschen im Tierreich in die Träumereien vom gewaltfreien Leben einzubeziehen. 1960 begann die britische Verhaltensforscherin Jane Goodall das Verhalten von freilebenden Schimpansen zu beobachten. Ähnlich wie Margaret Mead in Bezug auf die Samoaner, sah sie in den Menschenaffen zunächst das Musterbeispiel friedliebender und solidarischer Wesen voller Intelligenz, Mutterliebe und Fürsorglichkeit. Später mußte sie freilich einräumen, daß Schimpansen zu äußerster Gewalt fähig sind, zu Kannibalismus neigen und mehrjährige Vernichtungskriege gegen andere Horden zu führen im Stande sind – wann immer die Männchen der einen Horde ein Tier der anderen Horde erwischten, töteten sie es.
Mehr noch – Jane Goodall zeigte sich schockiert darüber, daß die jungen Männchen fasziniert von den Mordtaten waren und zusehen wollten, wenn ein Tier der anderen Horde starb. Später bekannte sie in einem Interview, daß es »furchtbar war, zu sehen, wie ähnlich sie uns sind«. Immerhin fand sie Trost darin, daß die Schimpansen, anders als die Menschen, nicht dazu neigten, einander komplett auszurotten. Nachdem die Schimpansen sich als notorische Gewalttäter erwiesen hatten, begaben sich Verhaltensbiologen auf die Suche nach anderen Vorbildern im Reich der Tiere und glaubten alsbald, bei den Bonobos fündig geworden zu sein.
Zeitweise galten diese Zwergschimpansen gar als eine Art Hippies unter den Menschenaffen – Weibchen hatten das Sagen, Aggressionen kamen kaum vor, Konflikte löste man durch Sex – »Make love, not war« schien der passende Wahlspruch dieser liebenswerten Wesen zu sein. Doch alsbald erwies sich, daß auch diese Tiere andere Primaten fraßen. Nachdem man in ihren Fäkalien deren Finger entdeckt hatte, begann man, auch dort genauer hinzuschauen, und entdeckte, daß Bonobos regelrecht Jagd auf andere Primatenarten machten. Anders war hier nur, daß es unter weiblicher Beteiligung und Führung geschah – somit war zugleich der Mythos von der besonderen Friedfertigkeit alles Weiblichen erledigt. So- wohl im Fall von Jane Goodall als auch bei Margaret Mead wäre es freilich grundverkehrt, eine böse Absicht oder eine Fälschungsabsicht zu unterstellen. Beide sahen nur das, was sie sehen wollten – und als Kinder des Zeitgeistes vielleicht sogar sehen mußten. Tragisch nur, daß sie zahlreiche Zeitgenossen mit ihren Träumen infizierten.
Anstecken von diesen Träumen ließen sich die Hippies. Kennzeichnend für deren Aussteigertum war die Sehnsucht nach einer Welt der universalen Harmonie, nach einer sinnerfüllten Welt, nach einer Welt jenseits von Konsumterror, Fremdbestimmung und Arbeitsfron. Man war auf der Suche nach sich selbst. Freie Liebe, die psychedelische Musik von Country Joe and the Fish, Jefferson Airplane und The Grateful Dead, fernöstliche Spiritualität, mystische Naturerfahrung, selbstgezogenes Biogemüse und allerlei Drogenexperimente waren die Vehikel, um dorthin zu gelangen. Man lebte ein umfassendes Konzept der Gewaltlosigkeit, das sich nicht auf die Abschaffung zwischenmenschlicher Gewalt beschränkte. Mitgemeint war die Gewaltlosigkeit auch gegenüber der Natur und allem, was lebt – ein Gauguinsches Südseeidyll übertragen auf Kalifornien und Berlin-Kreuzberg, ein marihuanageschwängertes Meadsches Klein-Samoa in den Altbauvierteln und Vororten der westlichen Hemisphäre. Der Garten, die Haus- und Nutztiere und selbst die Kinder wurden oft weitgehend sich selbst überlassen – eine Absage an all jene, die in Zucht und Ordnung notwendige Grundlagen einer anständigen Lebensführung sahen.
Doch auch über diese beschauliche Szenerie der Gewaltfreiheit brach die Realität bald grausam herein. Als Sinnbild dieses Einbruchs können wir Charles Manson sehen, den Anführer der Manson Family – einer kleinen Hippie-Kommune, die unter Drogeneinfluß 1969 die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate (verheiratet mit dem Filmregisseur Roman Polanski) und sechs weitere Menschen abschlachtete.
Wie das Hippie-Ideal vom Leben in Gewaltfreiheit erbarmungslos an den Tatsachen des Lebens zerschellt, beschreibt der amerikanische Romanautor T. C. Boyle in seinem 2003 veröffentlichten Roman Drop City. Hier wird authentisch und hautnah geschildert, wie eine Hippie-Kommune von der amerikanischen Westküste nach Alaska übersiedelt und da- bei nach und nach nicht nur an inneren Widersprüchen zerbricht (eine Gruppe schwarzer Drogendealer, die sich der Kommune mehr oder weniger aufgedrängt hat, wird zum Spaltpilz), sondern auch an den harten Lebensbedingungen in der Wildnis Alaskas.
War das Leben zu Anfang noch eine einzige ausgelassene Party – allenfalls durch Probleme der Versorgung mit Lebensmitteln und der Entsorgung der Fäkalien beeinträchtigt –, führen verschiedene Konflikte der Gruppenmitglieder untereinander und später dann auch mit ortsansässigen Rauhbeinen in der Szenerie Alaskas zur beschleunigten Zersetzung der Ideale und zur Auflösung der Gruppe. Doch nach den Hippies kamen die Späthippies der 90er Jahre: Längst entwurzelt und desillusioniert, trachtete man nur noch danach, an fernen exotischen Stränden wenigstens sein privates Klein-Samoa zu finden, sein Südseeidyll in unberührter Natur, mit freiem Sex, freiem Drogenkonsum und in Harmonie mit den Einheimischen.
Alex Garland hat in seinem 1996 erschienenen Roman Der Strand (im Jahr 2000 verfilmt mit Leonardo DiCaprio) das Scheitern auch dieses späten Ausläufers des großen Traums vom gewaltfreien Leben geschildert. Dieses letzte Inselidyll einer kleinen, im Verborgenen existierenden Kommune später Hippies unter weiblicher Führung zerbricht sowohl am Egoismus einzelner Kommunenmitglieder wie auch hier wiederum an der Natur: Ein Hai bricht als Sinnbild harter Realität in die Lagune ein. Nachdem es am Ende auch noch zum bewaffnetem Konflikt mit einheimischen Drogenfarmern kommt, zerfällt alles rasend schnell.
Das friedliche Leben im großen Miteinander aber war der Traum linker Pädagogik, der westdeutschen Friedensbewegung und einer der Gründungsträume der Bewegung und späteren Partei der Grünen. Linke Pädagogik in Westdeutschland versuchte den Traum vom gewaltfreien Leben in Kitas und Klassenzimmern zu verbreiten. Verquickt mit feministischen Zielen galt es, jeder Art von Gewalt – die per se als männliche Gewalt galt – eine Absage zu erteilen. Da Gewalt strenggenommen bereits dort anfängt, wo man Kindern Weisungen erteilt oder ihnen gegenüber Verbote ausspricht, erschöpfte linke Pädagogik sich in weiten Teilen bald darin, den Nachwuchs sich selbst zu überlassen.
Inhaltlich beschränkte man sich auf die Ausrufung sexueller Selbstbestimmung, die Einübung eines aggressionsfreien Verhaltens gegenüber seinen Mitmenschen, kritischer Distanz gegenüber der eigenen Geschichte und Herkunft und der Verpflichtung auf vorbehaltlose Sympathie für die Ausgebeuteten der Dritten Welt. Am Ende einer solchen Erziehung standen dann junge Erwachsene, die – hin- und hergerissen zwischen Selbsthaß und Fernstenliebe, zwischen Libertinage und absoluter Beliebigkeit des eigenen Tuns – den täglichen Anforderungen des realen Leben nichts entgegenzusetzen hatten: keine Haltung, kein Wissen, keine Verantwortungsbereitschaft, keine Wurzeln.
Gewaltfreiheit schwebte als vages Ideal über alledem – gelegentlich gelockert durch allfällige Sympathiebekundungen für linke Gewaltaktionen gegen den Staat und seine Repräsentanten. Doch auch in der westdeutschen Friedensbewegung und bei den Grünen gab es deutliche Widersprüche. Während man bei der Friedensbewegung von Beginn an eine Dominanz der DKP und damit der Sympathisanten Ost-Berlins und Moskaus sah und das Postulat der Gewaltlosigkeit leicht durch einen Verweis auf den bis an die Zähne bewaffneten benachbarten ostdeutschen Mauernstaat in Zweifel gezogen werden konnte, war die Sache bei den Grünen verzwickter.
Hier dauerte es bis 1999 und bis zum von der rotgrünen Bundesregierung ermöglichten Eintritt Deutschlands in den Kosovo-Krieg (der erste aggressive Auslandseinsatz der Bundeswehr überhaupt), um den grünen Pazifismus im hohen Bogen über Bord zu werfen. Aus dem »Nie wieder Krieg!« der Friedensbewegung wurde das zynische »Nie wieder Krieg ohne unsere Zustimmung!« der Grünen. Ludger Vollmer, seinerzeit grüner Staatsminister im Auswärtigen Amt und früherer friedenspolitischer Sprecher der Grünen, zog 2002 den Pazifismus radikal in Zweifel, weil der keine Antworten auf heutige Bedrohungen biete. Dementsprechend hätten es die Grünen einige Jahre später auch gern gesehen, wenn Deutschland 2011 an der Seite der USA, Großbritanniens und Frankreichs in den Krieg ge- gen Libyen gezogen wäre, doch waren sie damals bekanntlich wieder in der Opposition. Sollte man diesen grünen Wandel als Einsicht in die Tatsachen des Lebens begrüßen?
Skepsis ist angebracht. Denn nicht die Stellung zu den Tatsachen des Lebens hat sich bei den Grünen geändert, nur ihre Träume sind jetzt andere. Sie träumen heute unverhohlen den Traum von machtpolitisch und moralisch gerechtfertiger Gewalt gegenüber dem Gegner. So wiederholt sich der Übergang vom Traum der Friedfertigen zum Alptraum blutiger Raserei der Tyrannen, wie er sich schon bei Rousseau und der ihm nach- folgenden Französischen Revolution ereignet hat. Träume vom gewaltfreien Leben können mörderisch enden, das lehrt die Geschichte, und es könnte vielversprechend sein, den Traum von der Gewaltlosigkeit nicht mehr zu träumen, sondern sich den Tatsachen des Lebens zuzuwenden. Vielleicht wird es dann endlich friedlicher zugehen auf Erden.