Gewalt wird geächtet. Überall, fast. In die Schlafzimmer kann Vater Staat noch nicht schauen. Hat sich ein bißchen, vielleicht unterdrückte, private Restgewalt »between the sheets«, zwischen die Laken verzogen? Sven Dirks sollte es wissen. Er ist seit rund drei Jahrzehnten in der sogenannten Sadomaso-Szene aktiv, organisiert Veranstaltungen und Stammtische und betreut daneben seit 17 Jahren das spezifische »Sorgentelefon« maydaysm.de, ein Angebot für Primärintervention bei Problemen, Gewalterfahrungen und Beziehungsschwierigkeiten im Bereich BDSM (»Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism«) für den deutschsprachigen Raum.
Kositza: Herr Dirks, mein Eindruck ist: Gewalt ist heute ein Tabu. Das ist – mit Blick auf die gesamte Menschheitsgeschichte – ein brandneues Phänomen. Es wird gewaltfrei erzogen, Kriege werden geächtet, und Gewalt in sexuellen Beziehungen wird mit großer Sensibilität begegnet. Letzteres interessiert mich. Einerseits wird
»Augenhöhe« und »Achtsamkeit« großgeschrieben, andererseits haben wir diesen gigantischen Erfolg des SM-Bestsellers Fifty Shades of Grey. Damit einhergehend wird von einem Verkaufsboom an Handschellen, Peitschen etc. für den intimen Gebrauch berichtet. Kommt damit etwas an die Oberfläche, vielleicht eine Sehnsucht nach »klaren Verhältnissen«, nach Hierarchie, das uns politisch und pädagogisch eigentlich ausgetrieben werden sollte? Ich meine: Hat der Mensch eine Art Urbedürfnis nach Gewalt, das nicht wirklich abgeschüttelt werden kann?
Dirks: Vorweg: Ich verkürze BDSM und alle randständigen Spielarten der Einfachheit halber zu SM. Fifty Shades of Grey wird von vielen Menschen in der nichtkommerziellen SM- Szene vehement abgelehnt. Eben weil dort Konsensualität, Augenhöhe und Achtsamkeit nicht dargestellt werden! Die Übergriffigkeit, mit der der Protagonist in diesem Film vorgeht, gibt es natürlich auch in »der Szene«. Allerdings wer- den Menschen beiderlei Geschlechts, die das so handhaben wie Herr Grey, meistens schnell aus- sortiert. Einen Hubschrauber besitzen die allermeisten von uns auch nicht. In der SM-Welt
haben Konsensualität und das Miteinanderaushandeln dessen, was spieltechnisch und sexuell läuft, absoluten Vorrang. Nach Jahrzehnten SM- Leben bin ich davon überzeugt, daß Gleichberechtigung und Achtung vor dem Gegenüber in der SM-Welt deutlich ausgeprägter sind als im Rest der Gesellschaft, wo sexuelle Themen oftmals aus Scham nicht besprochen werden.
Kositza: Was ja so klingt, als sei Scham ein Hindernis für Gleichberechtigung und Achtung. Aber gut, Sie widersprechen als Praktiker also meiner Vermutung, daß in einer Gesellschaft, die sich »Transparenz« und »Gleichheit« auf die Fahnen geschrieben hat, die leidenschaftliche Sexualität sich ihre dunklen Nischen sucht, in denen es ruppig zugeht. Im Gegenteil, falls ich Sie richtig verstehe: In der Szene wird um so gründlicher ausgehandelt, also das Begehren auch stärker verbalisiert. Seltsam.
Dirks: Innerhalb der SM-Szene gibt es schon auch Menschen, die genau jene Hierarchie, die »klaren Verhältnisse«, suchen. Andere sind eher auf den körperlichen Reiz von Schmerz und Endorphinen aus. Auch das Gefesselt- und da- mit Wehrlossein wird von vielen sehr geschätzt. Wieder andere genießen den scharfen Fokus auf Körper und Sexualität. All das setzt ein hohes Maß an Vertrauen in den aktiven (dominanten, sadistischen, fesselnden) Partner oder die Partnerin voraus.
Kositza: Das Klischee, kulturell und religiös festgezurrt, besagt: Die Frau sei dem Mann Untertan. Zweites, modernes Klischee: Gerade der
»Typ Manager«, der Boß mit großer Entscheidungskompetenz und vielen wirtschaftlich »Untergebenen« hat häufig intime masochistische Neigungen. Wie sieht das eigentlich in Wahrheit aus, rein zahlenmäßig, im SM-Bereich? Sind mehr Frauen oder mehr Männer dominant? Also: Gibt es mehr eine Umkehr der herkömmlichen »traditionellen Rollen« oder eher eine Verfestigung?
Dirks: In den 80er und 90er Jahren war die nichtkommerzielle, organisierte SM-Szene eher sehr akademisch geprägt. Heute ist sie ein Abbild der ganzen Gesellschaft und aller sozialen Schichten. Vom Arbeiter bis zur Managerin finden sich alle sozialen Gruppierungen in ihr wieder. Das Klischee vom Manager, der sich gerne am Abend auspeitschen läßt, ist meines Erachtens nicht haltbar. Rein zahlenmäßig würde ich sagen, daß vor allem junge Frauen zunächst eher, aber keinesfalls ausschließlich, submissiv oder passiv in der Szene auftauchen. Viele entdecken dann aber den Reiz der aktiven Seite und fangen an, zu switchen, das heißt, auf beiden Seiten des Spektrums zu spielen oder zu toppen.
Viele junge Männer kommen von vornherein in beiden Richtungen offen in die Szene und finden mit der Zeit heraus, was ihnen am besten taugt. Eine etwas gesondert zu betrachtende Gruppe sind Männer, die erst mit 50 Jahren oder noch später häufig ohne Wissen der Partnerin auftauchen und ihren lebenslangen Phantasien im richtigen Leben Ausdruck verleihen möchten. Bei diesen findet sich ein großer Anteil an eher submissiven Männern. Sie haben oft einen schweren Stand. Insgesamt ist heute, dank Internet, die Hemmschwelle wesentlich geringer, sich in die »Öffentlichkeit« der SM-Szene zu begeben und dort die eigene Nische zu finden. Die tradierten Rollenbilder werden in der SM-Szene meines Erachtens mehr als anderswo hinterfragt.
Kositza: Ich gestehe, Sie desillusionieren mich! Ich hatte die Vorstellung, daß es sich bei der SM-Szene um einen düsteren Bereich des »Vor- zivilisatorischen« handle. Daß es ein dämmriger Raum ist, in dem Wollust, Gier und drekkige Animalität ohne bürokratisch anmutende Vorverhandlung ausagiert wird. Ist anscheinend nicht so! Offenkundig wird also viel vorab besprochen, es werden Schutzwörter vereinbart undsoweiter. Mir erscheint das sehr … hm, hygienisch und als bestens verwaltete Orgien. Oder?
Dirks: (lacht) Hygienisch? Ja bitte, unbedingt! Das »Animalische« wird, so gut es geht, inszeniert und von beiden beziehungsweise allen Beteiligten bestmöglich mit Leben gefüllt. Ein gewisses schauspielerisches Talent, insbesondere beim Top, also den dominanten Partnern, hilft hier sehr, eine an sich choreographierte Szene »wahr« werden zu lassen. Mit zunehmendem Vertrauen zwischen Spielpartnern bzw. ‑partnerinnen gibt es natürlich auch mehr Raum für un- geplante Gier, Wollust und rauhes Spiel. Vielen geht es ohnehin weniger um den klassischen Sex bei der Sache, sondern um das rauschhafte Erleben. Endorphine, Adrenalin, Schmerz, Zwang – das alles löst bei den meisten Menschen einen tranceartigen Zustand aus. Dieser ist oft genug das primäre Ziel einer Session. Der sich häufig anschließende Sex ist schön und vielleicht kathartisch, für viele aber zweitrangig.
Kositza: Wir sprachen ja nun von einer »SM- Szene«. Im Begriff der »Szene« steckt eine gewisse Vernetzung, Clubatmosphäre, Austausch etc. drin. Wo ist eigentlich der Schritt, daß Leute »zur Szene« gehören? Was ich damit meine: Private Vorlieben bilden sich ja nicht gleich in einer »Szene« ab. Wann verläßt denn einer überhaupt den Bereich des Ehebetts und der partnerschaftlichen (Duo-)Intimität? Was heißt überhaupt »Szene«? Sind die Leute dort also alle promiskuitiv? Steht dort also nicht die geliebte Person im Vordergrund, sondern ein fetischisiertes, an keine bestimmte Person geknüpftes Verlangen?
Dirks: Ich denke, daß sich in »der Szene« vor allem diejenigen finden, denen das SM-Erleben besonders wichtig ist, die einen sehr starken Trieb in diese Richtung verspüren und die sich Sexualität ohne SM überhaupt nicht vorstellen können. Auch der Wunsch, mehr zu erfahren, Fertigkeiten zu erlernen und kompatible Partner oder Partnerinnen zu finden, treibt Menschen in die SM-Szene. Dort passieren dann eh auch die üblichen gruppendynamischen Prozesse, die man auch im Alpenverein oder bei den Tierschützern findet. Die Akzeptanz einer großen Bandbreite von teilweise sehr skurrilen Vorlieben spielt sicher auch eine Rolle. Popoversohlen machen viele, aber es gibt eine Reihe von Fetischen und Spielarten, die deutlich seltsamer sind. Andere finden nur in der Szene Menschen, die bereit sind, auch sehr hart und brutal erscheinende Sessions tatsächlich durchzuziehen. Das erfordert viel Wissen über Anatomie, Medizin und Psychologie, viel Empathie und die Übung, die eigene »Beißhemmung« zu überwinden und dem oder der Sub das zu geben, was gewollt ist.
Und ja, die Menschen in der SM-Szene sind sehr überdurchschnittlich polyamor und bereit dazu, daß in einer Paarbeziehung auch SM-Kontakte zu und Intimität mit anderen möglich sind. Oft genug deshalb, weil es nicht oft vorkommt, daß zwei Menschen, die sich lieben und die mit- einander auf die Langstrecke gehen wollen, auch genau die gleichen SM-Vorlieben haben.