Was passiert mit uns, wenn wir zu denken beginnen, das Ergebnis aber nicht unserer Meinung entspricht? Haben wir dann falsch gedacht? Denn die eigene Meinung kann für den Meinenden nicht falsch sein, sonst würde er ihr nicht anhängen. Um der Verlegenheit einer solchen Aporie zu entgehen, ist es ratsam, das Denken der Meinung unterzuordnen oder es in deren Dienstpflicht zu nehmen, also nur dann und nur so lange vom Denken Gebrauch zu machen, wie es in keinem Widerspruch zum selbst- wertbildenden Dogma steht.
Die Geistesgeschichte legt reichlich Zeugnis davon ab, daß das Problem der Inkompatibilität von Vernunft (Logos) und Meinung (Dogma) gewissermaßen »von Anfang an« bestand. Bereits Heraklit äußerte sich immer wieder mißmutig darüber: »Logisch kann der Mensch nicht denken, denn allein die Umwelt lenkt das Denken.« Oder: »Was sie sehen, erkennen sie nicht.« Doch sind es gerade diese Wahrnehmungslücken, die das Subjekt für die eigene Sache überhaupt erst handlungsfähig machen.
Ohne Voreingenommenheit für die eigene Sache könnte sich niemand um seiner Selbstbehauptung willen positionieren; der Streit (Polemos) bliebe aus. Denn die Notwendigkeit zur Handlung ergibt sich gemeinhin aus der Bedrohung subjektiver Wertvorstellungen durch das Vorhandensein anderer Auffassungen, die es eben deshalb zu bekämpfen gilt.
Aus der philosophischen Frage, was das Beste für den einzelnen innerhalb staatlicher Gemeinschaft, der Polis, sei, entstand das Politische. Damit aber war die Philosophie, sobald sie gesellschaftsrelevant wurde, sich bereits selber in den Rücken gefallen. Denn von nun an wurde die Frage nach dem Wahren, Guten und Schönen nicht mehr vorrangig ontologisch, also objektiv, sondern soziologisch, also subjektiv gestellt. Als wahr, gut und schön galt jetzt, was mir in meiner jeweiligen Situation nützt. Denn alles Politische bezeichnet den Utilitarismus derjenigen, die als Einzelne über ein Ganzes bestimmen und davon profitieren wollen. So entzog man die Frage, was das Wahre, Gute und Schöne sei, dem Denken und führte sie dem Meinen zu.
Es entspricht seiner inneren Tragik, daß die beiden Urväter dieses Prozesses gleichsam dessen erste Opfer wurden: Sokrates starb als Provokateur; Platon scheiterte kläglich bei seinem Versuch, auf die Demokratie wie auf die Tyrannis einzuwirken, und endete in Resignation. Seitdem meinen wir mehr, als wir denken, und erschaffen uns dadurch erst jenen Ort in der Welt, der uns mit dem Gefühl von Zugehörigkeit beschenkt und uns unseren Platz zuweist. Wie zur Entlastung von den Fährnissen des Bedenklichen hat das Politische längst überall gedeckte Meinungstische bereitgestellt; an einem davon muß jeder sich niederlassen, will er vom großen Mahl der Wirklichkeit nicht ausgeschlossen bleiben. Wer oder was aber bestimmt, an welcher Tafel wir Platz nehmen? Vielleicht verhält es sich mit dem politischen Geschmack ähnlich wie mit dem kulinarischen: Niemand wüßte objektiv zu sagen, warum er manche Speise begehrt, andere aber angewidert von sich stößt.
Der heute vergessene Philosoph Michael Hißmann sprach im 18. Jahrhundert von einer »Assoziation unserer Ideen«, die auch den Geschmacks- urteilen zugrunde liegen könnte: demnach wären es die Abweichungen im Ähnlichen, die an die Verwandtschaft mit dem Gegnerischen gemahnen (Katholizismus /Protestantismus; Faschismus /Antifaschismus) und deshalb dem Dogmatismus Vorschub leisten. Den Ausschlag geben dabei zumeist persönliche Erfahrungen, die je nach dem, was sie in uns angerichtet haben, Zuneigung oder Abwehrreaktionen auslösen. Es werden die jeweiligen Begebenheiten wieder in Erinnerung gerufen, sobald uns ein ähnliches Ereignis erregt. Das dürfte auch der Grund für die Dauer von Antipathien sein und erklären, warum Manipulationen und anerzogene Gewohnheiten zumeist die gewünschten Reflexe auslösen – oder, wo diese Machenschaften erkannt werden, in den Protest einer radikalen Skepsis führen.
Doch würden wir das Wesen der Dinge und ihre Zusammenhänge hellsichtig durchschauen und nicht erst hinter unseren blinden Flecken zu einem uns gemäßen Lebensentwurf finden, wären der Konflikt und damit alle Bewegung aus der Welt. Denn alles Streitbare beruht notwendig auf Fehlerhaftem, auf dem Nichtsehen oder Ausblenden dessen, was die Stabilität des eigenen Meinens gefährdet. Wo sich nun das Politische und Religiöse als Rückzugsraum und Rettungsinsel hilfreicher Ordnungsinstanzen anbieten, können und wollen die meisten dieser Versuchung einer durch Zusammenschlüsse gesicherten Weltanschauung nicht widerstehen. Dadurch ist die geminderte Sehfähigkeit, der eingeschränkte Blick zu einer Tugend geworden, die uns erst zu lebensfähigen, kompatiblen Menschen macht und auch den Klügsten dazu ermächtigt, allem Selbstzweifel aus dem Weg zu gehen. Diese wunderbare Gabe, dem blickgebenden Willen seiner Natur zu folgen, ist der Gattung eigen geworden, damit wir an der Hintergründigkeit oder »wahren Gestalt« der Dinge nicht verzweifeln, ja sie gar nicht zu Gesicht bekommen.
Der Schrecken, der uns fragen läßt, wieso etwa die politisch gewollte Zufuhr von Millionen Migranten in unsere Umwelt (und damit auch in die Sozialsysteme und Arbeitsmärkte) bei so vielen Menschen kaum Widerstand, dafür aber die sonderbarsten moralischen Assoziationen auslöst, beruht gleichsam auf einem solchen blinden Fleck. Denn wir können und wollen nicht begreifen, daß unsere Sorgen, Nöte und Befindlichkeiten keineswegs überall nachempfunden werden, sondern für viele als solche gar nicht existieren!
Und dies ruft einen weiteren Schrecken hervor, nämlich darüber, daß die eigenen Präferenzen offenbar keine allgemeine Gültigkeit für sich beanspruchen dürfen, ja vielleicht nicht einmal mehrheitsfähig sind, weil das kollektive Empfinden unentschlossen zu sein scheint, was für die Zu- kunft das Wünschenswerte sei. Freilich bilden diejenigen Menschen, die das traditionell gewachsene Europa absichtlich zerstören wollen, eine ebenso kleine Minderheit wie jene, denen der Erhalt des nationalen Erbes wirklich am Herzen liegt. Denn den meisten sind solche »übergeordneten« Fragen inzwischen schlichtweg egal; völlig überfordert von der Gewalt der Zeitläufte folgen sie denjenigen, die ihnen die gewünschte Konsumfähigkeit garantieren.
Worin die besten Chancen zur Eigenverwirklichung gesehen werden, daran richtet sich der politische Wille aus. Links fühlende Menschen und solche, die sich diesem Gefühl angepaßt haben, fördern die tiefgreifenden moralischen Wandlungen und den gesellschaftlichen Umbau mit der gleichen Selbstverständlichkeit, wie rechts fühlende diese einzudämmen oder zu verhindern suchen. Dabei unterstellen die Verteidiger, daß auch für alle anderen die alten, bislang allgemein gültigen kultur- und stammeserhaltenden Theoreme gelten müßten.
Was aber, wenn sich am gesamten Menschentum – und allen voran am westlichen – tatsächlich gerade so etwas wie ein evolutionärer Schritt vollziehen sollte, der von den bisher geltenden Wertmaßstäben weg- und in ein postheroisches, postdemokratisches, postfaktisches, kurz: postkul- turelles Zeitalter hineinführte? Dann hätten all die Prämissen, die zur Entstehung unserer Befindlichkeiten kurzerhand vorausgesetzt werden, gar keine Gültigkeit mehr.
Sobald jedoch ein solcher Verdacht an uns heranschleicht, warnt die älteste Vorsicht, ihm entgegenzugehen und ins Auge zu sehen. Als ob man diesem Verdacht und seinen Folgen durch Stillhalten entkommen könnte wie einem Raubtier, das nur nach sich bewegenden Objekten schnappt! Denn wer würde schon gern zugeben wollen, daß es so etwas wie kulturbiologische Degenerationsstufen tatsächlich gibt, also das natürliche Schwinden elementarer Überlebensinteressen zugunsten einer fatalistischen Bereitschaft, die Vernichtung des bisher Gültigen und Gewohnten als unvermeidlichen »Fortschritt« hinzunehmen? Es stirbt ja selten der Einzelne daran, sondern jeweils »nur« ein Ganzes.
Dazu muß nicht erst an die kollektive Ermüdung des paganen Griechentums am Ausgang der Antike erinnert werden; auch in der europäischen Neuzeit vollzogen sich immer wieder solche Bereitschaften: etwa als man im 19. Jahrhundert ganze Tierarten (Wale, Adler, Wölfe) beinahe ausrottete oder in den 1950er, 1960er Jahren fast alle westdeutschen Altstädte architektonisch zerstörte, weil für die Erhaltung weder des einen noch des anderen ein Wille vorhanden war – statt dessen aber ein sicherer Instinkt dafür, was das Opportune sei. Nur deshalb ist es möglich, daß die Zerstörer eines Landes oder einer Sache mit vielleicht noch festerer Überzeugung ans Werk gehen als deren Bewahrer und Verteidiger.
Heute gleicht das Bedürfnis nach Heimatschutz dem einstigen nach Naturschutz. Bei einer wachsenden Weltbevölkerung mit wachsenden An- sprüchen erweisen sich solche bitter nötigen Absichten jedoch als hilflose Gebärden. Denn es ist das gleiche tiefe Verlangen nach Komfort und dem »modernen« Leben, das die Sinne für die ethnographischen Zerstörungen schließlich ebenso unempfindlich machen wird, wie es sie für die Landschaftszerstörungen durch Massenverkehr, Zersiedelung, Hochspannungsleitungen, Windräder etc. längst unempfindlich gemacht hat. Die Kritik an solchen Zerstörungen dürfte dabei zumeist mehr politisch-taktisch motiviert als aus echter existentieller Not heraus geboren sein.
Aber auch hier ist der Weg das Ziel: Man hat kurz protestiert, ist der allgemeinen Entwicklung und großen Tendenz (verbal) entgegengetreten; und in der Hoffnung, damit seinen Beitrag geleistet zu haben, erfüllt sich bereits der Sinn des Tuns. Wahrscheinlich werden sich die allermeisten in späte- stens 30 oder 50 Jahren genauso an die Tatsache gewöhnt haben, daß es in Westeuropa keine unzerstörten Völker mehr gibt, wie sie sich heute an den Verlust unzerstörter Landschaften gewöhnt haben. Der Bequemlichkeit opfert der Mensch, nicht nur der deutsche, gerne seinen Lebensraum.
Niemand sieht mehr die Verheerungen um sich herum, sobald sie normal geworden sind. Denn der Wille, sich dagegen zu wehren, kommt stets nur bei unmittelbarer Bedrohung auf; haben sich die Zerstörungen erst einmal vollzogen, erlischt damit zumeist auch die Empörung. Zuletzt nämlich weiß sich besonders der durch die Zivilisation abgestumpfte Verbraucher mit allem zu arrangieren. Fabelhaft fern sind ihm die Zeiten gerückt, als man für den Erhalt seiner Heimat, Ehre, Freiheit das eigene Leben einzusetzen sich nicht scheute. Einen solchen Anachronismus beobachtet der Zivilisationsmensch nunmehr nur noch bei den Fremden, aber nicht mehr an sich selber. Denn die moderne, flexible Wahrnehmung paßt sich den Erfordernissen zur Genußmaximierung (primäre Lebensfreude) an, welche wiederum aus den jeweiligen Wirklichkeitsangeboten resultieren.
Darum hüte man sich, genauer hinzusehen oder gar das Wort zu ergreifen, wo sich solche Vorgänge hinter dem Allgemeinmenschlichen verbergen. Verhält es sich doch seit jeher so, wie Christa Wolfs Kassandra sagt, »daß wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht: Da sind wir, wie in allem übrigen, alle gleich. Der Unterschied liegt darin, ob mans weiß«.
Nun, wer wüßte es? Tatsächlich entscheidet dieses »Wissen« oder »Nichtwissen« um die (eigenen) blinden Flecken darüber, was für ein Verhältnis man zur Wirklichkeit eingeht; ob man sich zum »Spieler« oder zum »Seher« entwickelt.
Letzterem, so hieß es einst, habe Apollon in den Mund gespuckt; sein Blick durchdringt manche Nebel, doch sollte er aussprechen, was er sieht, wird niemand ihm glauben. Deshalb führt ein solches »Sehen« immer auch in die Melancholie versäumter Möglichkeiten des noch zu Sagenden und vielleicht nie Gesagten, und rät, über sein Wertvollstes zu schweigen, obwohl bald alles zu spät sein könnte: »One day baby, we’ll be old / Oh baby, we’ll be old / And think of all the stories that we could have told.«
Vielleicht ruft aber gerade diese so weitreichende und oft unterdrückte Schwermut den »Spieler« in uns auf den Plan; den Akteur, der gar nicht fragt, woher und warum ihm seine Rolle zugefallen ist, sondern der sie einfach ausführt! So müssen wir immer wieder die Erfahrung machen, daß auch Zerstörungen mit bestem Gewissen vollzogen werden können, sofern eine Weltanschauung oder eine vorteilsbegründete Meinung diese erfordert oder legitimiert. Man begeistert sich an der Zustimmung Gleichgesinnter und verkennt dadurch gerne die Lage. In einer solchen Situation reden sämtliche Lager notwendig aneinander vorbei, und es findet kein Verstehen, sondern vor allem Selbstbehauptungspolemik statt, weil sich die eine Seite gar nicht vorstellen kann, was die andere eigentlich will – und daß es beide gleichermaßen gut meinen könnten.
Die übergroße Lust und Freude an der Richtigkeit der eigenen Sichtweisen durch zu viel Applaus verführt rasch zum geistigen Inzest. Niemals wird es geschehen, daß jemand aus einer medial inszenierten Talkrunde klüger hervorgeht, als er hineingegangen ist. Denn wer Meinungen hat und seinen Platz in der Welt zu kennen glaubt, muß nicht mehr nach dem Wahren, Guten und Schönen fragen; es ergibt sich für ihn von selbst.
Doch gerade diese feste Beheimatung in der eigenen Position, die Unempfänglichkeit für logisches Schließen (es gibt in der Praxis keinen Sokratischen Dialog) löst jenen herrlichen Aktivisten-Eustreß aus, der das Leben zu einer Mission macht: immer geschäftig, immer gefragt sein, sich täglich zu Wort melden, keine Zeit mehr haben als Ausweis für die eigene Bedeutung, das Nicht-zur-Ruhe-Kommen als Mittel gegen jede Art von Zweifel.
Die zahllosen Internetkanäle begünstigen die Neigung, sich in dem gruppendynamisch erprobten Hortus conclusus seiner Weltanschauung einzurichten und alles andere auszublenden. Schon um der täglichen Reizüberflutung überhaupt standhalten zu können, nimmt jeder nur noch auf, was ins System paßt, und baut sich dadurch seine eigene Realität; positiv wie negativ. Selbstbehauptung durch Dauerkonsum vor- sortierter Informationen des eigenen Geschmacks. Es entsteht auf allen Seiten eine Art segmentierter Bestätigungsstau als Grundlage für den Krieg der Welten.
Heute noch zählt diese Eigenschaft zu den wesentlichen Merkmalen der Gattung Mensch, gilt weiterhin der Streit als Vater aller Dinge, weil er so viele stimulierende Botenstoffe freisetzt und dem Ich in der Gemein- schaft eines (politischen) Willensverbandes besondere Bedeutung verleiht. Doch was, wenn in zwei bis drei Generationen Menschen herangewachsen sein werden, denen von klein auf Maschinen zum »Sehen« verhelfen, so daß sie gar keine blinden Flecken mehr bilden müssen? Dann werden die Kämpfe der Geschichte dennoch nicht vergeblich ausgetragen worden sein: fanden sie doch vor allem um der Kämpfenden willen statt.