Die Not ist groß. Unter fast jedem Eintrag auf unserem Weblog »Sezession im Netz« finden sich Kommentare, aus denen vor allem eines deutlich wird: daß der Schreiber an der politischen und gesellschaftlichen Situation unseres Landes leidet. Gleichzeitig wird nach mehr verlangt als nach Worten. Es wird nach Handfestem, nach Aktion, nach konkreter Hoffnung, nach einem großen Sprung gefragt, der – wenn nicht jetzt, wann dann? – erfolgen müsse. Die Zeit scheint reif dafür, weil sich die Lage zuspitzt und der politische Gegner das Heraufziehen eines neuen Zeitgeistes wittert. Es ist also angebracht, nachzuschauen, wer da noch so im selben Graben sitzt.
Wenn wir es nicht längst wüßten, hätten uns die letzten Wochen wieder über eine spezifisch rechte Krankheit, die Distanzeritis, belehren können. Der eine ist dem anderen zu rechts, der nächste ist vor den falschen Leuten aufgetreten, und so mancher wird als ewiger Querulant verunglimpft, weil er die AfD auf dem Weg zur CDU für Arme vermutet. Dabei wäre es um vieles leichter, wenn man sich etwas an der linken Binnensolidarität orientieren würde. Man muß sich ja nicht mögen und darf die Unterschiede gern betonen. Dennoch muß es heißen: »Getrennt marschieren – vereint schlagen!« Und wenn es drauf ankommt, auch gern: »Einer für alle, und alle für einen!« Ob nun Moltke oder D’Artagnan – für den Erfolg braucht es etwas mehr als pessimistische Vorhersagen exzentrischer Regenpfeifer.
Ob der Junge-Freiheit-Leser, der Sezessionist, der Burschenschafter, der identitäre Aktivist, der »Schläfer« in der Jungen Union, der harte Fußballfan mit soliden Überzeugungen, der stille Neuheide, der FAZ- Leserbriefeschreiber, der evangelikale Christ, der traditionsverliebte Katholik, der AfD-Kosmopolit, der desillusionierte Problemschullehrer, der Dresdner Abendspaziergänger, der GEZ-Rebell, die Biobäuerin, der Tag- X‑Heimwerker oder der IfS-Metapolitiker – von außen, vom Standpunkt des linksliberalen Mainstreams aus betrachtet, sind wir alle gleich häßlich.
In Wirklichkeit sind wir aber eine ziemlich bunte Truppe, die durchaus in der Lage ist, das Sektiererhafte abzustreifen und den Widerstand auf eine breite Basis zu stellen. Um dem Gefühl der Einsamkeit das Bewußtsein der bunten Truppe entgegenzustellen, haben wir zunächst einmal den Wutbürger charakterisiert – weitere Typen sollen folgen. Es geht uns darum, die Erkenntnis zu vermitteln: »Du bist nicht allein!« und darum, das Verbindende im Widerstandsmilieu zu betonen und die Bereitschaft zu fördern, im Ernstfall zusammenzustehen. Es wird sich hier vielleicht nicht jeder wiederfinden, Manichäer und Kriminelle scheiden nämlich aus, aber der Mehrzahl hoffen wir mit unseren Typen gerecht zu werden, als da wären: der Konservative, der Aktionist, der Parteisoldat, der Aussteiger, der Querulant, der Resignative, der Ex-Linke und schließlich der Wutbürger, um den es hier zunächst gehen soll.
Über Begriffe, deren fließende Grenzen und das besondere deutsche Wüten, Über Zorn, dem man mit dem griechischen Begriff Thymos neuerdings ein eleganteres Auftreten ermöglicht, wurde in den letzten Jahren viel nachgedacht und publiziert, vor allem in Karlsruhe. Hier sind natürlich Peter Sloterdijk mit seinem Buch Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch (Frankfurt a. M. 2006) sowie Marc Jongen zu nennen, früherer Assistent Sloterdijks an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Mitglied der Bundesprogrammkommission der Alternative für Deutschland, mithin Vordenker dieser Partei und Werbetrommler für den Thymos, den die Süddeutsche Zeitung im Februar 2016 als »Wutdenker der AfD« titulierte, obwohl es korrekterweise »Zorndenker« heißen müßte.
Der Zorn ist eine ambivalente Macht, er sollte eingehegt oder wenigstens kanalisiert werden – immerhin eine Todsünde! –, hat aber auch einiges zu bieten und scheint eine Notwendigkeit, eine Art Schmierstoff für Dynamiken darzustellen, ohne den Gesellschaften apathisch und verfettet ihrem schleichenden Untergang entgegendösen. Die Anlage von Depots in »Zornbanken«, die Sloterdijk beschreibt, dient »moralischen Explosiva und rächerischen Projekte[n]« und deren Umsetzung. Kurz: Welthistorisches nimmt hierdurch aktive, endgültige Formen an. Lenins Komintern, die Kommunistische Internationale, erscheint so als eine »Weltbank des Zorns«.
Die Wut hat hingegen nicht diesen fundamentalen Status erlangt – zu Unrecht, wie wir meinen. Denn dieses Gefühl ist durchaus mit dem Zorn verknüpft, nur fehlen ihm die metaphysischen Meriten. Dabei kann auch die Wut unter den Begriff des Thymos subsumiert werden, genauso wie eben der Zorn, der Haß und der Stolz.
Unterdrückte Wut soll zu Erkrankungen führen. Eltern und Pädagogen stehen hilflos wütenden Kindern gegenüber. Die Wut, lateinisch Furor, kann sich in Raserei äußern. Und der Furor teutonicus, ein fast zweitausendjähriger Begriff, der ehemals das selbst- und mitleidlose Wüten germanischer Stämme im Kampf gegen römische Truppen beschrieb, dient als moralischer Zeigefinger und Diffamierungsinstrument zugleich: Da haben wir ihn wieder, den Furor teutonicus! Unausrottbar und gefährlich! Wehret den Anfängen! Und so weiter und so fort. – In einer der deutschesten aller Geschichten der Neuzeit, dem Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist, finden wir ein Wüten, das als paradigmatisch für unser Volk gilt. Erfahrenes Unrecht und anschließende Selbstjustiz, Rache und Stolz, gerechter Zorn und maßlose Wut: Der Kohlhaas ist zugleich Warnung und Vorbild für einen Wutbürger-Extremismus, dessen Grundlagen wir instinktiv verstehen, gutheißen, und an dessen Methoden wir zweifeln.
Da verwundert es nicht, daß der Wutbürger einen schlechten Leumund hat. »Wutbürger« ist eine Journalistenerfindung, angeblich von Dirk Kurbjuweit, der den Begriff 2010 in einem Spiegel-Artikel anbrachte (Nr. 41 /2010, S. 26f.). Immerhin: die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte ihn zum »Wort des Jahres 2010«, die Aufnahme in den Duden folgte, der Begriff machte Karriere und wird bis heute immer wieder gern hervorgeholt.
Die Ausgangspunkte für Kurbjuweits Artikel waren die Bürgerproteste gegen das Bahnhofsprojekt »Stuttgart 21« und die teils überwältigende Zustimmung zu Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab, artikuliert durch die Zuhörerschaft bei diversen Lesungen und Diskussionsrunden.
Von lieben und bösen Wutbürgern
Mit dem Wutbürger sah man die politische Arbeitsteilung der BRD plötzlich aufgekündigt: Anstatt brav auf den indirekten Weg der Problemlösung, der Austarierung, des Kompromisses zu setzen, auf Parteien und Institutionen, machten hier Bürger mittels Unmutsäußerungen, Demonstrationen und Protestformen des zivilen Ungehorsams von ihrer politischen Willensäußerung direkten Gebrauch.
Im Vorfeld der Konferenz der Wirtschafts- und Handelsminister der WTO in Seattle vom 30. November bis zum 2. Dezember 1999 und im Zusammenhang mit den geplanten Protesten vor Ort schrieb die Gruppe Maloka Anarcho Collective: »Direkte Aktion bedeutet ein Vorgehen, bei dem man für sich selbst in der Weise handelt, daß man das Problem, mit dem man konfrontiert ist, direkt angeht, ohne die Vermittlung durch Politiker oder Bürokraten zu benötigen. […] Die direkte Aktion setzt den offiziellen Gesetzen die moralische Entwicklung entgegen […]. Sie ist der Ausdruck der Bereitschaft der oder des einzelnen, zu kämpfen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und direkt auf die Welt, die uns umgibt, einzuwirken, für das eigene Handeln Verantwortung zu übernehmen.« – Man ziehe etwas Jargon ab und ersetze »direkte Aktion« durch »Wutbürger« oder »wutbürgerliche Aktion«!
Bezeichnenderweise wollten oder konnten gut zehn Jahre später die Analytiker und Kritiker des wutbürgerlichen Aktionismus dessen Nähe zu den medienaffinen linken, anarchistischen, basisdemokratischen Widerstandsformen nicht erkennen. Daß sich Menschen aus Protest selbst organisieren, handeln, Zeichen setzen, laut werden – das wird gemeinhin beklatscht, medial vor allem. Jedoch: Daß diesmal Protest nicht von politischen Gruppen und Berufsaktivisten ausgeht, die den Staat und das liberalkapitalistische System aus dem Weg räumen möchten, scheint in hohem Maße verdächtig zu sein.
Dabei stellt der Wutbürger eine erweiterte und mithin dynamische Form des – wünschenswerten – Citoyens im Marxschen Sinne dar: ein soziales Wesen, ein politischer Bürger, der auf die Gemeinschaft des Staates orientiert ist. Die Erweiterung findet der Citoyen als heutiger Wutbürger darin, daß er nicht (mehr) auf Institutionen setzt und sein Handeln zu einer direkten Aktion wird.
Meine Straße, mein Viertel, mein Block
Empörung, Einmischung, Aktionismus – deren Bewertung seitens der Mainstreammedien und der erwartbaren Experten hängt natürlich von den Zielen der Empörer, Einmischer, Aktionisten ab. Das Konkrete des Wutbürgers schreckt ganz besonders ab, wenn sein Thema als anstößig gilt und das Ziel der Wut nicht zur Disposition stehen darf – es erscheint schwierig, sich für die One world vor Ort einzusetzen; man wittert puren Eigennutz und unterstellt notfalls ein gefährliches Unterlaufen demokratischer Entscheidungsprozesse.
Aber der Wutbürger und sein Engagement unterliegen nicht solchen Bewertungsmaßstäben, sondern transformieren idealerweise die Wut in einen gerechten Zorn. Die Einflüsterung, was als genehm und wünschenswert und angemessen gilt, verliert hier dramatisch an Macht. Die Ohnmacht wechselt für einen Moment die Seiten. Kurz: der Wutbürger und sein Tun sind authentisch und scheren sich wenig um Deutungshoheiten. Das Authentische birgt einen größeren Schutz vor Korrumpierung als etwa Theorie- und Parteiarbeit. Hier kann leichter, selbstverständlicher Sympathie gewonnen werden.
Das Beispiel »Stuttgart 21« führt man gern an, wenn es um ungezogenes Verhalten oder zivilen Ungehorsam von Bürgern geht. Doch selbst in der braven Bundesrepublik reicht die Traditionslinie des Wutbürgers bedeutend weiter zurück.
Es sind vielfach Gebäude, Bauvorhaben, Abrisse, Zerstörungen, Umbenennungen, Ausradierungen, die Auslöser der Wut und Beweis des Verrats der Politik am Bürger sind: Manifestationen des Mißstands, der fatalen Irrtümer des Fortschritts und seiner Anhänger, seiner Exekutoren. – Die geplante Großmoschee im heimischen Viertel. Das angekündigte Aus der hundertjährigen, plötzlich unliebsamen Straßenbenennung. Ein beschlossenes Containerdorf für »Geflüchete« in der Nachbarschaft. Das Fällen von Bäumen, das Umlegen von Flugrouten, der kalte, ignorante Eingriff in die Lebenswirklichkeit, das Hinwegsetzen über Interessen von Anwohnern, Anrainern, Autochthonen.
Das Argument, die betroffenen Menschen sollten sich nicht so haben, es gäbe sonst ständig irgendeinen Grund, auf die Straße zu gehen und Bürgerversammlungen zu sprengen, zieht nicht. Es ist eben diese eine konkrete Herausforderung, die beim Wutbürger die Verantwortung für Gemeinde, Viertel, Stadt weckt, kurz: für seine Polis, die man bisher guten Gewissens an Politik und Administration abgegeben hatte. Der Wutbürger ist jemand, der im Stich gelassen wurde, mitunter sogar oft, und dessen Verantwortungsbewußtsein sich nun aktiv, bisweilen aktivistisch äußert.
Erweiterungen der Nachbarschaft
Dem möglicherweise großen Plan oder der großen Planlosigkeit der Realpolitik setzt der Wutbürger sein »Think local, act local« entgegen. Mit Ausschöpfung der Rechtsmittel, mit Eingaben und Petitionen, aber auch mit sichtbarem Protest, dessen Formen spätestens seit den 1970er Jahren bekannt sind: mit Demonstrationen, Blockaden und Mahnwachen, mit Transparenten und Flugblättern, mit Trillerpfeifen und Kerzen, mit Hartnäckigkeit und Ernsthaftigkeit, ja Humorlosigkeit.
Eine relativ junge Entwicklung ist die Transformation des Wutbürgers in einen Systemkritiker, in einen Protagonisten des Widerstands. Denn von Hause aus stellte er das große Ganze nicht in Frage, konnte sich viel- mehr mit dem Status quo der BRD identifizieren, sah sich darin aufgehoben. Sein Protest war monothematisch und stets aufs Konkrete gerichtet.
Die Dresdner Abendspaziergänger etwa und ihre bundesweiten Ableger ließen in den Jahren 2015 und 2016 äußerst wirkmächtig erahnen, daß –ausgehend von einem aktuellen Problemkomplex – bei einer großen Anzahl von Bürgern ein Bewußtsein für die Fäulnis des Ganzen zu existieren scheint. Hier tauchen erstmals auch Namen auf, die wir mit diesem hartnäckigen Kontra zur fehlgeleiteten Gegenwart verbinden, Lutz Bachmann etwa oder Michael Stürzenberger; insofern ein Novum, als daß der klassische basisdemokratische und nachbarschaftliche Wutbürgerprotest selten herausragende Protagonisten zeitigte bzw. nötig hatte.
Rund ums Phänomen PEGIDA wurde das Potential des Wutbürgers sichtbar, der als ein Bewegungs-Citoyen vom temporären zum dauerhaften Teil des Widerstandsmilieus werden kann und ein ernsthaftes Interesse am Aufhalten fataler Entwicklungen mitbringt. Die Grundlage der Wut, des Bürgerstolzes und der sich äußernden Verantwortung sowie die Motivation des Aktivwerdens und Einmischens bleiben ähnlich. Da ist die von den Römern als Gottheit angebetete Virtus, die gemeinhin mit Tapferkeit und Tugendhaftigkeit übersetzt wird und die Joachim Fernau in seinem Buch Cäsar läßt grüßen in dem Satz zusammenfaßte: »Wer, wenn nicht ich, ist Rom?« ¡