Benedikt Kaiser: Vor 14 Jahren verkündete Kanzler Gerhard Schröder (SPD) im Deutschen Bundestag die Ziele der sogenannten Agenda 2010. Staatsleistungen sollten gekürzt, Eigenverantwortung gefördert, Eigenleistung gestärkt werden. Klang gut. Bis 2010 sollte Deutschland in Sachen Wohlstand und Arbeit an der Spitze stehen. Klang ausgezeichnet. Maßgebliche Sprachrohre der Etablierten – und natürlich die Etablierten selbst – stimmten und stimmen diesem scheinbaren Erfolgsweg zu. Angela Merkel (CDU) bedankte sich nach ihrem Regierungsantritt gar bei ihrem Vorgänger im Bundeskanzleramt für den Schritt zu Agenda 2010 und Hartz-Reformen. Schröder habe »mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen«.
Nun, 2017, im Superwahljahr, sieht das Ergebnis hinter dieser Tür, die mit wohlfeilen Parolen und viel Propaganda angemalt ist, so aus: Jeder vierte Deutsche arbeitet im Niedriglohnsektor, der damit der größte seiner Art in Europa ist. 335000 Menschen sind obdachlos, fast 30000 davon sind Jugendliche, die sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht in die Obhut staatlicher oder karitativer Einrichtungen begeben. Sechs bis acht Millionen Menschen finden sich im Hartz-IV-Status (Leistungsbezieher samt Angehörige) wieder, darunter 1,9 Millionen Kinder.
Daneben ist in den letzten Jahren ein Anstieg des Reichtums der Gesamtgesellschaft durch die Vermögenszugewinne der Reichsten zu verzeichnen, während insgesamt ein Sinken der Reallöhne zwischen 1992 und 2012 um 1,6 Prozent zu diagnostizieren ist; eine Entwicklung, die erst ab 2013 gestoppt und allmählich umgekehrt wurde. Die bundesdeutsche Armutsquote schnellte derweil auf 15,7 Prozent hoch. Zwischen – die Schätzungen variieren stark – 200000 und 800000 Menschen leben in »absoluter Armut«, ein Umstand, der in seiner Bedrohung für den sozialen Frieden im Land nur durch die Feststellung übertroffen wird, daß die ärmere Hälfte des Volks schlicht- weg kein Nettovermögen besitzt.
Dafür verfügt die Bundesrepublik im Gegenzug aber über mindestens 1,3 Millionen Millionäre. Außerdem hatten in den vergangenen Jahren die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung Zugriff auf mehr als die Hälfte des Nettogesamtvermögens, während die ärmere Hälfte nur auf ein einziges Prozent kam. Des weiteren haben wir ein Wirtschaftssystem, das – um nur ein einziges austauschbares Beispiel der aus den Fugen geratenen Relationen anzuzeigen – einem Manager der Daimler AG rund zehn Millionen Euro Jahresgehalt ermöglicht, was ihm nach der Pensionierung Gesamtansprüche in Höhe von 38 Millionen Euro verschafft, während Millionen fleißiger Menschen des Mittelstands und der unteren Schichten bereits jetzt Altersarmut erleben oder ihr rasant entgegengehen.
Daß es Armut in Deutschland gebe, wird von vielen Beobachtern schlichtweg geleugnet. Wer kein Geld hat, sei zu faul oder habe die Weichen auf dem Lebensweg falsch gestellt, heißt es – in sozialchauvinistischer Diktion und unter Verkennung des Wesens der gegenwärtigen kapitalistischen Grundbedingungen – in trauter Eintracht aus dem Munde von FDP-Marktfreunden oder seitens konservativer »Leistungsträger«.
Armut, so weiter im Tenor der ökonomischen Sozialdarwinisten, sei eine »linke Legende«, eine Schimäre, bei der es genüge, die Smartphones der Hartz-IV-Kinder den Statistiken gegenüberzustellen. Wer solcherlei Taschenspielertricks auf den Leim geht, verkennt neben dem banalen Umstand, daß Smartphones längst für einen Euro zu erwerben sind, die Vielschichtigkeit des Armutsphänomens.
Erstens scheidet sich Armut in »relative« und »absolute«. Absoluter Armut unterliegt, so der Forscher Christoph Butterwegge in seiner einführenden Schrift Armut (Köln 2016), »wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die für das Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sauberes Trinkwasser, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung und Wohnung sowie eine medizinische Basisversorgung entbehrt«.
Diese absolute Armut ist in Deutschland tatsächlich wenig verbreitet. Was aber mittlerweile durchaus zur Regel zählt, ist die Gefahr oder das Vorhandensein »relativer« Armut. Von dieser ist betroffen, so Butterwegge weiter, »wer seine Grundbedürfnisse vielleicht ausnahmslos befriedigen, sich aber mangels finanzieller Mittel nicht oder nicht in ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann, sondern den allgemein üblichen Lebensstandard in seinem Land über einen längeren Zeitraum hinweg deutlich unterschreitet«.
Konkret gilt in Deutschland als relativ arm, wer weniger als 60 Prozent des Äquivalenzeinkommens bezieht. Die Scheidelinie, die zur geistigen Isolation führt, ist also zu- nächst auch eine materielle: Während eine Person, die absoluter Armut unterliegt, am physischen Existenzminimum lebt, sorgt relative Armut für ein Leben am soziokulturellen bzw. gemeinschaftlichen Existenzminimum. Man ist ausgeschlossen von der Teilhabe an gesellschaftlichen Aktivitäten, weil das nötige Kleingeld fehlt oder man sich aufgrund eigener finanzieller Unzulänglichkeiten ausgeschlossen fühlt; außerdem fehlen in jeglicher Hinsicht Mittel zur Investition (von notwendigen Sanierungsarbeiten bis hin zu Bildungsaufgaben). Der Vereinzelung und dem fatalen Rückzug in die eigenen vier Wände, gefolgt von Lethargie und einer Abwärtsspirale der Lebensrealität, wird damit weiter Vorschub geleistet.
Dabei hat in Deutschland eine sozialverträgliche Relation der Dialektik aus Armut und Reichtum durchaus Verfassungsrang: In Art. 72 Abs. 2 des Grundgesetzes wird das Ziel der »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse« eingefordert. Doch von diesen sind wir weiter entfernt denn je. Da dies zunehmend ins Bewußtsein der »populären Klassen« gerät und die Verteilungskämpfe im Zuge der Migrationskrise und ihrer Kosten für den Fiskus an Schwung zunehmen werden, ist es gerade im »Superwahljahr« nur folgerichtig, daß das gesamte Thema der sozialen Gerechtigkeit wie- der aufflammt.
Die Fokussierung der Sozialdemokraten auf ihren Kanzlerkandidaten Martin Schulz ist in diesem Kontext zu bewerten. Dessen Berater treiben den von Medien und Politik im politischen Berlin begeistert empfangenen Vertreter der EU-Nomenklatura in Richtung der Neuentdeckung der sozialen Frage. Soziale Gerechtigkeit soll das Thema sein, mit dem Schulzens »neue« Sozialdemokratie Union und AfD schlagen könne.
Leih- und Zeitarbeit sollen bekämpft, Managergehälter moderat gedeckelt, der Niedriglohnsektor verkleinert, die Hartz-Reformen seiner rotgrünen Vorgänger abgemildert werden. Anders gesagt: Man geht in den Wahlkampf mit dem beim Publikum offenbar beliebten Ziel einer Reform der Reform, um punktuelle Verbesserungen der bundesdeutschen Verhältnisse zu erreichen. Ist das ausreichend, oder ist das zu durchschaubar, und wäre hier eine offene Flanke für die Alternative für Deutschland und das metapolitische Feld der außerparlamentarischen Konservativen gegeben? Oder schaut die soziale Gesamtlage im Lande doch viel besser aus?
Felix Menzel: Um das tatsächlich bisher zu jeder Zeit und in allen Staaten der Welt existierende Phänomen der Armut zu verstehen, ist es erforderlich, es von zwei Seiten aus zu betrachten. Bevor ich zur historisch-theoretischen Seite komme, zunächst ein Blick in die alltägliche Lebensrealität: Der Hartz-IV-Empfänger, der seine Wohnung, bestimmte Anschaffungen wie die Waschmaschine und die Sportkurse für seine Kinder bezahlt bekommt und sich außer- dem noch ein paar Euro dazuverdienen darf, ist nicht arm. Wenn er sich trotzdem sozial ausgegrenzt fühlt, dürfte dies vor allem damit zusammenhängen, daß er außer der staatlichen Minimalversorgung keine gesellschaftliche Anbindung hat.
Dies kann sein Eigenverschulden sein. Das ist aber nicht entscheidend: Unser Staat hat es auf jeden Fall versäumt, ihn über gemeinnützige Arbeit wieder an das Berufsleben heranzuführen. Ich würde Hartz-IV-Empfänger z. B. in die Kitas und Schulen schicken, damit sie dort in der Küche helfen können. Daß dort aus Personalmangel nicht frisch gekocht wird, ist voll- kommen absurd.
Zweites Beispiel: Die ALDI-Verkäuferin, die 120 Prozent vom Durchschnittslohn im Lebensmitteleinzelhandel erhält, weil das Unternehmen weiß, daß sie dann bereit ist, 200 Prozent Leistung zu bringen, wird in sehr vielen Fällen trotzdem arm sein – noch dazu, wenn sie eigene Kinder hat und eigentlich nur halbtags arbeiten möchte. Die Ausbeutung im Beruf, die erzwungene Flexibilität durch immer längere Ladenöffnungszeiten und die horrenden Mieten gerade in den Großstädten machen es der ALDI-Verkäuferin unmöglich, ein normales Leben zu führen.
Sie erhält nur wenig mehr als der Hartz-IV-Empfänger, doch hat sie aufgrund ständig wechselnder Arbeitszeiten gar nicht die Zeit, ihre Kinder zum Sport zu bringen. Sie sitzen deshalb vor allem vor der »Glotze«, womit die Fortpflanzung der Armut schon vorprogrammiert ist.
Drittes Beispiel: Der Fahrradmonteur meines Vertrauens muß sich auch mit einem Gehalt zufriedengeben, das im Niedriglohnbereich angesiedelt sein dürfte, aber er ist ein glücklicher Mensch, weil er sein Hobby zum Beruf machen konnte, täglich mit Menschen zu tun hat und am Wochenende an der Elbe entlangradeln kann. Große Sprünge erlauben kann er sich nicht. Wenn er seine Familie zum Essen einlädt, gibt es kein Drei-Gänge-Menü, doch ein jährlicher Urlaub ist ebenso drin wie die Ballettstunden für die Tochter.
Ein solches Leben mit Armut in Verbindung zu bringen, zeugt nun von einem historischen Kurzzeitgedächtnis, das dafür verantwortlich ist, daß wir den heutigen Wohlstand als eine Selbstverständlichkeit begreifen, obwohl er auf höchst fragilen Voraussetzungen beruht.
Wir sind damit auf der theoretischen Seite der Armutsbetrachtung angekommen: Ich möchte der These, eine materielle Unterversorgung sei die Ursache für geistige Isolation mit all ihren unangenehmen Folgen, energisch widersprechen. Dann wäre das Problem ja auch ganz einfach zu lösen. Jeder müßte einfach deutlich mehr vom Staat erhalten und würde mit diesem bedingungslosen Grundeinkommen schon richtig umgehen. Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital stehen aber in viel komplexeren Wechselbeziehungen, und die Umwandlung der einzelnen Kapitalarten ist von entscheidender Bedeutung. Wer heute über ausreichend kulturelles und soziales Kapital verfügt, der ist nicht armutsgefährdet – es sei denn, das Gesamtsystem bricht zusammen.
Der große Fehler der liberalen Theorie liegt nun in der Annahme, die Anhäufung aller Kapitalarten sei reine Privatsache und die »göttliche Planwirtschaft« (Rolf Peter Sieferle) der unsichtbaren Hand sorge schon dafür, daß es zu einem gesamtgesellschaftlichen Nutzen kommt. Beim ökonomischen Kapital leuchtet das noch am ehesten ein, obwohl die Großunternehmen ihre Stärke nur gewinnen konnten, weil sie eine enge Beziehung zum Staat unterhalten.
Aber lassen wir diesen Aspekt einmal beiseite, dann stellt sich trotzdem noch die Frage, wie die Akkumulation von kulturellem und sozialem Kapital abläuft und die Umwandlung in ökonomisches Kapital im Optimalfall gelingt. Hier kommt der Staat mit seinen Bildungseinrichtungen und Identifikationsangeboten ins Spiel. Über die Vermittlung von technischen Fähigkeiten hinaus muß er bestrebt sein, in jedem Individuum einen »inneren Staat« aufzubauen.
Das kollidiert heute aber mit den massendemokratischen Selbstverwirklichungswerten, die an die Stelle der für jede funktionierende Wirtschaft notwendigen Selbstdisziplinierungswerte getreten sind. Das deutlichste Symptom dieser Entwicklung, die sich bei Panajotis Kondylis in seinem Werk Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform (1991) ausführlich nachlesen läßt, ist die Entwertung sowohl der einfachen Berufe als auch der akademischen Abschlüsse durch Vermassung. Damit wird institutionalisiertes Kulturkapital vernichtet.
Der Ausgangspunkt einer konservativen und alternativen Politik muß deshalb die Bildung sein. Wer Armut vermeiden will, muß dafür sorgen, daß jeder einen Beruf finden und damit sein kleines Glück finanzieren kann. Dies hängt dann wiederum auch direkt mit dem Sozialkapital zusammen. Wo sich aufgrund der vorherigen Ausbildung des inneren Staates selbständig Gemeinschaften finden, wird es immer genug Beschäftigungen in kleinen und mittleren Unternehmen geben, die ihre Mitarbeiter besser behandeln müssen als Konzerne.
Kurz und gut: Ausgehend von einer »verstehenden Nationalökonomie« (Werner Sombart) brauchen wir ein ganzheitliches Wirtschafts- und Sozialkonzept, das sich nicht damit begnügt, alle vier Jahre ein paar Wahlgeschenke zu verteilen. Vor diesem Hintergrund halte ich auch nichts davon, aus taktischen Gründen ein Klagelied über Altersarmut anzustimmen. Allein wenn wir das Rentensystem so aufrechterhalten, wie es derzeit beschaffen ist, kostet uns das ab 2050 jährlich ca. 800 Milliarden Euro. Wo sollen die herkommen?
Benedikt Kaiser: Ich muß dir bei der Grundtendenz deiner Ausführungen gar nicht groß widersprechen. Allerdings möchte ich einige Ergänzungen vornehmen, und ich beginne, was deinen Text anbelangt, von hinten. Ich halte ebenso nichts davon, aus »taktischen Gründen ein Klagelied über Altersarmut anzustimmen«. Denn rein taktische Gründe sind längst kein legitimer Faktor mehr; dafür ist Altersarmut viel zu real, und somit ist Altersarmut, die bereits vom Prinzip her einer solidarischen Gesellschaft unwürdig ist, kein Ball, mit dem man im Wahlkampf spielt, sondern ein strukturelles Problem, das es jenseits von Wahlperioden zu lösen gilt.
Immer mehr Menschen arbeiten noch nach ihrer Pensionierung, um entweder der entwürdigenden Prozedur des »Aufstockens« zu entgehen oder um ihr Lebensniveau annähernd halten zu können. Wer einmal beispielsweise auf einem Uni-Campus Rentner gesehen hat, die wohlstandsbürgerliche Studenten verschämt nach ihrem Flaschenpfand fragten, wird – auch ohne bereits die erschreckenden Armutsberichte der Sozialverbände gelesen zu haben – ahnen, daß es so weit nicht her sein kann mit der Altersarmut als bloßem Phantasma.
Mit deinem Verweis auf die Nichtfinanzierbarkeit der künftigen (auf Basis des derzeitigen demographischen Systems geschätzten) Renten belegst du derweil zweierlei: Erstens gehst du davon aus, daß etwas nicht finanzierbar ist, obwohl es das zweifellos ist. Die Verteilung der Einnahmen und Ausgaben des Staates müßten dabei fundamental neu organisiert werden. Zweitens unterliegst du bereits hier der Logik des Neoliberalismus, die eine Logik des Kapitals, die eine Logik des Profits und des wirtschaftlichen Nutzens ist.
Zu Punkt 1: Das private Nettovermögen in Deutschland ist, so das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, zwischen 2006 und 2011 auf zehn Billionen Euro gestiegen. Gleichzeitig sind die Staatseinnahmen so groß wie nie. Geld ist im Überfluß vorhanden; was fehlt, ist der Wille, es an den richtigen Stellen auszugeben – wobei »richtig« natürlich normativer Natur ist und somit unterschiedlich gedeutet werden kann.
Wir kommen bei der Finanzierung einer solidarischen Neufundierung der deutschen Gesellschaft natürlich nicht an der Frage der Besitzverhältnisse vorbei, und somit sind wir direkt bei einer größeren Frage, bei Punkt 2, der Frage des Neoliberalismus und des derzeitigen Finanzmarktkapitalismus. Einleitend zwei unterschiedliche Beispiele: Die Unternehmerfamilie Quandt/Klatten hat im Frühsommer 2016 eine Rekorddividende von 994,7 Millio- nen Euro nur aus Aktienbesitz bezogen. Das ging zwar durch die Presse, aber ein Aufschrei blieb verblüffenderweise aus.
Dabei ist dieser obszöne Gewinn durch Kapitalrendite eigentlich ein handfester Skandal, und zwar nicht erst, wenn man bedenkt, wie viele Millionen Menschen in Deutschland – beileibe nicht nur Arbeitslose – relative Armut erfahren oder anderweitig »strampeln müssen«, wie Niedriglöhner, Zeit- und Leiharbeiter, alleinerziehende Mütter usw. usf.
Beispiel zwei ist eine Größenordnung tiefer angesiedelt: Im sachsen-anhaltischen Bitterfeld hat die Stadt den Großen Goitzschesee angelegt und aufwendig auf kommunale Kosten hergerichtet. Da heutzutage eine Stadt nach wirtschaftlichen Kriterien arbeiten muß, das Geld aber eng war, hat man die besten Plätze am See verkaufen müssen. Nun haben Reiche den Stadtsee unter sich aufgeteilt und bereits begonnen, Zäune am Ufer zu errichten, um die Schönheit der Natur zu privatisieren und dem Ort einen exklusiven Charakter zu verleihen, der die normale Stadtbevölkerung von ihrem Naherholungsraum ausschließt. Dies ist ein kleines Beispiel für die von David Harvey so bezeichnete »Akkumulation durch Enteignung«. Konkret: Mit Steuermitteln finanzierte Güter der Allgemeinheit werden der öffentlichen Hand entzogen und reichen Marktteilnehmern überlassen. Das ist wahre Umverteilung in Deutschland.
So unterschiedlich die Beispiele sein mögen: Sie beweisen, welche Züge der herrschende Neoliberalismus längst angenommen hat. Einerseits ist die Kapitalrendite zum entscheidenden Faktor geworden; sie liegt längst über der Wachstumsrate und bringt lediglich der höchsten Vermögenshierarchie satte Gewinne, also jenem »oberen Prozent«, das ohnehin über Immobilien‑, Industrie- und Finanzkapital verfügt. Hier wird nichts anderes vergütet als die Tatsache, daß man bereits etwas besitzt, unabhängig von erbrachter, reeller Arbeit. Vermögensungleichheiten, die längst jedes hinnehmbare Maß überschritten haben, werden so potenziert und weiter verschärft.
Andererseits wird deutlich, daß der neoliberale Finanzmarktkapitalismus mehr als nur eine besonders staats- und demokratiefeindliche Form der Marktwirtschaft ist. Es geht um nichts weniger als die »Expansion der Märkte nach innen und außen« (Wolfgang Streeck), und das heißt real auch: Das Ausgreifen neuer Märkte vollzieht sich in Sphären, die vorher nicht den Maßstäben von Gewinn und Verlust unterworfen waren und das in einem ge- sunden Staatswesen auch gar nicht sein dürften.
Gesundheitsvorsorge, öffentliche Güter wie Seen und Wälder, Schlüsselindustrien wie Post oder Bahn – wer zuläßt, daß alles der Privatisierung zufallen kann, übersieht die totalitäre Dimension des Neoliberalismus, nach dem der Markt »schließlich als Referenz für alle Lebensbereiche« gilt, wie Oliver Nachtwey akzentuierte.
Es sind große Fässer, die wir da öffnen, und zwar in einer Zeitschrift, die ansonsten kaum ökonomische Themen behandelt. Aber viel- leicht müssen wir uns allmählich dieser großen Fässer annehmen. Denn wenn wir jetzt en détail über Fiskalrevolutionen oder Armutstheorien, über die systemstabilisierende Rolle des Konsumprekariats oder das Entstehen der Abstiegsgesellschaft diskutieren, bewegen wir uns immer im Rahmen der Logik des Kapitals, der Logik des herrschenden Gedankengebäudes des Neoliberalismus.
Alain de Benoist warnte indes schon vor Jahren, daß keine Alternativen zu kapitalistischen Verwerfungen diskutierbar sind, wenn man in sein Wertesystem eintritt und es als Basis für weiteres verwendet. Ich stimme dir daher zu: Wir brauchen ganz sicher ein »ganzheitliches Wirtschafts- und Sozialkonzept«. Nur glaube ich, daß am Beginn der Skizze eines solchen die bewußte Abkehr von jedweder neoliberalen Logik stehen muß, nicht nur die Debatte, inwiefern man die marktkonforme Demokratie nun dank der einen oder anderen Reform mehr oder weniger sozial ausstaffieren könnte.
Felix Menzel: Wenn man meint, das Kapital überwinden zu können, ist man schnell beim populärsten und doch abwegigsten Diskurs über die Bekämpfung der Armut der letzten 200 Jahre angelangt.
Dieser Diskurs kommt in der einfachsten Form im Märchen »Hänsel und Gretel« der Gebrüder Grimm zum Ausdruck, der Wirtschaftswissenschaftler Tomáš Sedlácˇek hat es in seinem Buch Die Ökonomie von Gut und Böse folgendermaßen interpretiert: Nach einer Inflation werden die Kinder des sowieso schon armen Holzhackers im Wald ausgesetzt, ihnen gelingt es aber wie durch ein Wunder, die Hexe zu überlisten, und dann kehren sie reich nach Hause zurück.
Die Revolution der Kinder gegen das Böse im Hexenhaus war also erfolgreich, doch es gibt keine ökonomische, sondern nur eine moralische Erklärung dafür, wo eigentlich der plötzliche Reichtum herkommt. Genauso ist auch der Marxismus aufgebaut. Er basiert auf dem Glauben an eine Revolution, die mit einer Metanoia zusammenfällt. Im entscheidenden Moment der Geschichte sollen die Menschen auf einmal besser werden. Die totalitäre Moderne hat das allerdings widerlegt. Trotzdem wird auch im gegenwärtigen Diskurs über den Neoliberalismus immer wieder an die Moral als entscheidenden Initiator der Wende appelliert.
Colin Crouch z. B. definiert den Neoliberalismus aus meiner Sicht vollkommen korrekt, indem er das enge Bündnis von Staaten und Konzernen in den Mittelpunkt stellt. Es ist einfach nur falsch, ihn einzig als eine Privatisierungsideologie zu begreifen, wie das vielfach von linken Autoren suggeriert wird. Doch obwohl nun Crouch die Strukturmerkmale des Neoliberalismus richtig herausgearbeitet hat, fällt ihm nichts Besseres ein, als auf ein moralisches Erwachen der pluralen Gesellschaft zu hoffen. Das ist an Naivität nicht zu toppen.
Selbst wenn wir aber annehmen, daß die Revolution zwar etwas Grausames ist, aber zur Katharsis in der heutigen Zeit notwendigerweise ihren Teil beitragen muß, kann ich trotzdem wenig damit anfangen, mir die Zustände nach diesem Umbruch auszumalen und dafür eine Wirtschaftsordnung zu konstruieren. Man könnte ja z. B. auf die Idee kommen, den Superreichtum mit einem Schwundgeldsystem zu bekämpfen. Dies ließe sich aber nur nach einem vorherigen Totalzusammenbruch und einer Revolution aufbauen.
Statt in solchen Szenarien zu denken, halte ich es da lieber mit Martin Luther, der sagte, dem Mensch sei kein freier Wille »in bezug auf die Dinge eingeräumt […], die höher sind als er, sondern nur in bezug auf das, was so viel niedriger ist als er«. Unsere Aufgabe sei es deshalb, »die Kühe zu melken und ein Haus zu bauen, aber nicht weiter«. Ob die Revolution kommt oder nicht, läßt sich weder herbeischreiben noch herbeidemonstrieren. Ihr Eintreten ist von Umständen abhängig, die von uns nicht beeinflußt werden können. Deshalb konzentriere ich mich lieber auf den evolutionären Weg, wobei ich der Meinung bin, daß man die neoliberale Logik sehr einfach verlassen kann, auch wenn man sich keinen Utopien hingibt.
Mit Pierre Bourdieu gesprochen, ist Kapital »akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ›inkorporierter‹ Form«. Es handelt sich damit um eine »Kraft, die den objektiven und subjektiven Strukturen innewohnt«. Einer Eigentumsordnung im alternativen Sinne müßte es deshalb darum gehen, daß jeder sein Kapital eigenständig und selbstbestimmt aufbauen kann. Gelingen wird dies jedoch nur, wenn der Staat über die Bildung und Förderung des Gemeinschaftsgedankens sowie gewisse punktuelle Starthilfen das Fundament dafür vorbereitet.
Die Alternative zur »von Großunternehmungen dominierten Weltmarktwirtschaft« (Ernst Nolte) besteht folglich in der Stärkung kleiner und mittlerer Unternehmen, einer Erziehung zu Selbständigkeit statt Abhängigkeit, einem Primat der Nähe sowie einem christlichen Sündenbewußtsein, insbesondere in bezug auf die kosmische Ordnung. Bis zu welcher Schwelle die für jedes Wirtschaften notwendigen Eingriffe in die Natur problemlos möglich sind, weiß kein Mensch. Wir können den Punkt zwischen zu intensiven industriellen Aktivitäten und natürlicher Selbstregulation mathematisch nicht bestimmen, weil wir dazu noch immer zu wenige Kenntnisse über die Ökosysteme haben.
Um die Perfektionierung seiner Versorgungsmaschine nicht zu gefährden, konnte sich der Staat bis zum Ende des 20. Jahrhunderts solche Erwägungen jedoch überhaupt nicht leisten. Er konnte auf diese Schwelle, wo immer sie liegen mag, keine Rücksicht nehmen, weil er stets befürchten mußte, bei ausbrechender Massenarmut seine Macht zu verlieren. Die ökonomischen Erfolge, die der Staat im Zusammenspiel mit den Großunternehmen dabei zweifellos erringen konnte, haben nun allerdings zu grenzenlosen Ansprüchen auf dem ganzen Planeten geführt.
Wie man in diesem planetarischen Verteilungskampf agieren sollte, halte ich für die eigentliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Gegenüber Afrika haben wir zwei sinnvolle Optionen: Entweder eine totale Abschottungspolitik, bei der uns die Probleme des schwarzen Kontinents wie Überbevölkerung und Armut nicht interessieren. Dann droht uns aber irgendwann eine gewaltsame Invasion aus dem Süden.
Oder wir setzen unter den Bedingungen der Abwehr von Migrationsbewegungen sowie der Bekämpfung der Überbevölkerung vor Ort auf eine liberale Wirtschafts- und Bildungsförderung, die dazu beitragen soll, daß es sich in einigen Jahrzehnten in Afrika aushalten läßt. Dies läuft also auf die Frage hinaus, ob wir unsere wirtschaftliche Macht nicht dazu nutzen sollten, noch viel größere politische Probleme einzudämmen. Noch zugespitzter: Müssen wir die Globalisierung – verstanden im engeren Sinn als den Handel mit jedem auf der ganzen Welt – nicht noch weiter vorantreiben, um eine Globa- lisierung des Südens und damit der Armut zu vermeiden?
Benedikt Kaiser: Alternativen für Afrika wären ein eigenes Themenheft wert; alleine Tom Burgis’ aktuelle Analysen in Der Fluch des Reichtums (Frankfurt a. M. 2016) zeigen, wie wichtig es ist, sich mit dem Globalen Süden und »unseren« Einflüssen auf dortige politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse in extenso zu beschäftigen. Aber da dieses Faß zumindest doch ein wenig zu groß ist, würde ich einstweilen gerne in Deutschland und Europa bleiben.
Denn du sprichst von einem christlichen Sündenbewußtsein in bezug auf die kosmische Ordnung, und ich glaube, damit kommen wir im Jahre 2017, in Zeiten eines sich rasant wandelnden Informations- und Dienstleistungs- kapitalismus – der in Bälde sogar eine »Vierte industrielle Revolution« im Zeichen einer »Robokratie« (Thomas Wagner) durchschreitet, die Arbeitsplätze in unvorstellbaren Dimensionen vernichten wird – leider nicht weiter.
Ebensowenig, wie wenn im Rahmen des Bestehenden, im Rahmen des allumfassenden Neoliberalismus, pädagogische Arbeit für zielführend erachtet wird. Das ist alles voluntaristisches Stückwerk. Du sagst zu Recht, daß es eine typisch linksliberale Fehlannahme ist, an die Moral als Katalysator für eine integrale Wende zu appellieren: In der gegenwärtigen Massengesellschaft kann man keine sozioökonomische Wende herbeiführen, indem man an christliche Verantwortungsethik und Pflicht zur Selbstverantwortung kleiner und mittlerer Unternehmer appelliert (so sehr das in einem gesunden Staats- und Wirt- schaftswesen selbstverständlich wäre).
»Neoliberale Politik bedeutet«, hat Oliver Nachtwey ganz richtig in Die Abstiegsgesellschaft (Berlin 2016) definiert, »Korridore für die Komplizenschaft mit dem Markt zu schaffen.« Diese Korridore schließt man nicht mit Moral und Religion, sondern mit staatspolitischen Interventionen; mit dem Ende der Kollaboration mit Privatbanken, Hedgefonds und ganzen Zweigen, die von Kapitalrendite und Spekulation leben; mit dem Ende der Akzeptanz einer gegenwärtigen postdemokratischen Schwundform der Volksherrschaft, die nichts anderes verheißt, als das gesamte politische und gesellschaftliche Leben »marktkonform« auszurichten.
Von letzterem Prozeß, der das Herzstück des politischen wie auch wirtschaftlichen Neoliberalismus darstellt, profitiert nur eine kleine »Elite«, während die absolute Bevölkerungsmehrheit keineswegs partizipieren kann. Das ist vielleicht eine Quintessenz für das Superwahljahr 2017. Weil oligarchische Potenz Macht vor allem auch im politischen Sinne verheißt, muß die reale Kluft verdeutlicht werden: die Kluft zwischen einer ökonomischen Oberschicht und der ihr zu Diensten stehenden politischen Klasse einerseits und der großen Bevölkerungsmehrheit der mannigfaltigen mittleren und unteren Schichten andererseits, die vom unheilvollen Duett aus wirtschaftlicher und politischer »Elite« dominiert und von den zahn- und wirkungslosen Medien bequatscht wird.
Da Merkel und Schulz gleichermaßen zu diesem Dreieck des Establishments zählen, die Linke die (real vorhandene) soziale Frage von der (ebenfalls real vorhandenen) identitären Frage isoliert, FDP und Grüne nur ideologisches Beiwerk zu den Großparteien verkörpern, ist die Zeit reif für eine fundamentale Alternative für Deutschland; für eine solche, die zumindest beginnt, auf Basis einer nichtneoliberalen Geisteshaltung ein »ganzheitliches Wirtschafts- und Sozialkonzept« (wie Du es nennst) gegen das etablierte Kartell zu erarbeiten. Die Zeit drängt, und der Aspekt »Soziale Gerechtigkeit« wird das Wahljahr entscheidend begleiten, da bin ich mir sicher.
Felix Menzel: Aufgrund der Vielzahl an angesprochenen Themen kann ich in dieser letzten Wortmeldung nur skizzieren, in welche Richtungen meines Erachtens weitergedacht werden sollte. Zunächst zur Religion: Der Mensch kann, wie du selbst weißt und es ja auch vertrittst, nicht nicht religiös sein. Deshalb läßt sich auch in jeder Wirtschaftskonzeption ein Gott finden. Rolf Peter Sieferle hat das in seinem Buch über den Epochenwechsel sehr schön illustriert. Entweder wir vertrauen auf Gott, daß er vorab einen harmonischen Haushalt von Natur, Wirtschaft und Gesellschaft einrichtet, oder wir machen uns selbst zum Homo deus, oder wir versuchen uns durch eine selbstbeschränkende Politik in Demut zu üben.
Wenn ich vom christlichen Sündenbewußtsein spreche, so meine ich damit, daß Staat und Gesellschaft durch das Setzen eines Rahmens, z. B. in biopolitisch-medizinischer Hinsicht, diese Selbstbeschränkungen in die Tat umsetzen sollten. An das Individuum zu appellieren, ist dagegen in der Tat sinnlos.
Was das obere Prozent, diese kosmopolitisch-oligarchische Elite, und die Umverteilung nach oben durch unfaire Marktregeln angeht, so liegen wir nicht weit auseinander. Ich gebe auch Chantal Mouffe recht, die du in deinem kaplaken-Büchlein Querfront würdigst, daß man dagegen nur populistisch gewinnen kann. Mit Arnold Gehlen möchte ich gern an diesen ethisch indifferenten Superstrukturen speziell den »schwindenden personalen Charakter der ökonomischen und politischen Gewaltverhältnisse« kritisieren. Zur Veränderung unseres Landes muß dies aber natürlich in politische Kampfsprache übersetzt werden, und es müssen sich Persönlichkeiten hervortun, die als lebenspraktische Vorbilder dienen können. Hier ist nicht nur die AfD gefordert, sondern wir alle.
Das einzig Positive an der desaströsen demographischen Lage in Deutschland ist, daß dieser Staat und diese Gesellschaft jeden von uns brauchen, um das gegenwärtige Wohlstandsniveau auch nur annähernd halten zu können. In diesem Sinne blicke ich auch optimistisch in die Zukunft. Die Industrie 4.0 wird uns nicht überflüssig machen. Sie setzt nur den Prozeß der »schöpferischen Zerstörung« (Schumpeter) neu in Gang.
Was danach kommen könnte, nämlich eine »Superintelligenz« (Nick Bostrom), die dem Menschen lange dienlich war, aber eines Tages dann die Kontrolle übernimmt, ist viel bedenklicher. Aufhalten läßt sich dies aber weder mit einem allmächtigen Staat noch mit einer Katechontik der Unterentwicklung, sondern nur, wenn der Ausgleich der Elemente des Lebens (nach Heinrich Leo: Religion, Leben des Geistes, Ökonomie, Familie, Eigentum und Staatsgewalt) mit modernen Mitteln gelingt.