Übermorgen – Sieben Bilder

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

1.) Als ich am Beet knie­te, um Ret­tich zu ver­zie­hen, traf es mich wie ein Nacken­schlag: Nichts tust du noch, ohne es poli­tisch ein­zu­ord­nen. Alles hat sei­nen Platz in dei­nem Bild erhal­ten, wird poli­tisch ver­nutzt. War­um kam Dir eben das Wort »iden­ti­tär« in den Sinn, als du vor und hin­ter dem Pflänz­chen die zu nahen Nach­barn jätetest?

Ist die­ses biß­chen Gemü­se, sind die paar Hüh­ner, die Bee­ren­bü­sche, die Apfel­bäu­me, sind die Zie­gen und die Salat­köp­fe wider­stän­di­ge Akte oder nicht doch ein­fach das, was dir Freu­de berei­tet, wie jedem Freund der Flu­ren (und von die­ser Sor­te trifft man doch in jedem Dorf ein paar)? Der Gärt­ner, der Hegen­de: frag­los eine poli­ti­sche Figur, du hast sie selbst ver­wen­det und dabei an Ger­hard Nebel, Bal­dur Spring­mann und Tom Bom­ba­dil gedacht. Der Gärt­ner vor allem aber: eine uralte, för­dern­de, dem Leben zuge­wand­te, sin­gen­de Gestalt, die es gibt, seit du seß­haft bist. Man sagt, dei­ner Groß­mutter sei­en drei Ern­ten im Jahr gelun­gen. Du sagst, dei­ne Frau sei nie schö­ner als in der Mit­tags­hit­ze eines som­mer­li­chen Gar­tens, wenn man die Früch­te laut­los rei­fen hören kann. In wel­che fer­ne Zeit bloß ver­schiebst Du den Dank? Auf übermorgen?

2.) Es muß Anfang 1991 gewe­sen sein, als ein Unter­of­fi­zier der Fern­späh-Kom­pa­nie, in der ich dien­te, im Suff aus zwei Lat­ten ein Kreuz bas­tel­te, es mit Schuh­creme ein­schmier­te und sich selbst ein Laken über­warf. Dann stol­per­te er durch die Kaser­ne und pflanz­te das Kreuz vor einer Unter­kunft für Ruß­land­deut­sche auf, die jen­seits lag. Der Unter­of­fi­zier war zu faul selbst für die gerings­te Ver­schleie­rungs­maß­nah­me. Er fackel­te sein Kreuz inner­halb der Umzäu­nung ab, schrie irgend­et­was in die Nacht und stie­fel­te zurück in die Unter­kunft. Wir Rekru­ten beka­men von all­dem nichts mit.

Am nächs­ten Mor­gen trat die Kom­pa­nie voll­zäh­lig vor dem hohen Gebäu­de der alten Ula­nen­ka­ser­ne an. Der Spieß berich­te­te von dem Vor­fall, den die Wache pro­to­kol­liert hat­te, und äußer­te lapi­dar, daß der Täter sei­ner und unse­res Kom­pa­nie­chefs Mei­nung nach ohne jeden Zwei­fel aus unse­ren Rei­hen stam­me – kei­nem der andert­halb­tau­send Fern­mel­der und Nach­schie­ber, mit denen wir uns den Stand­ort tei­len muß­ten, sei der­lei zuzu­trau­en. Er gebe nun die­sem Idio­ten drei Sekun­den Zeit, vor­zu­tre­ten und sich zu stel­len, uns allen eine knap­pe Minu­te, um den Kerl aus­zu­lie­fern. Nie­mand rühr­te sich.

Der Spieß befahl uns ins Still­ge­stan­den, unser Chef, der Major, trat aus dem Gebäu­de und ließ sich mel­den. Er befahl sei­ne Feld­we­bel zu sich und ent­sand­te sie zur Durch­su­chung der Stu­ben. Nach weni­gen Minu­ten brach­te man ein Laken, das sei­nen Besit­zer zwei­fels­frei als den Täter über­führ­te: Er hat­te es vor­schrifts­mä­ßig wie­der auf sein Bett gezo­gen, die bei­den hin­ein­ge­schnit­te­nen Augen­lö­cher sorg­fäl­tig glatt­ge­stri­chen auf Höhe des Kopf­kis­sens. Nun trat er vor, gestand, wein­te ein wenig und wur­de abge­führt. Unser Chef regel­te die Sache. Der Unter­of­fi­zier wur­de degra­diert, schob drei Mona­te lang an jedem Wochen­en­de Dienst, bewähr­te sich, besuch­te den Lauf­bahn­lehr­gang noch ein­mal und schied nach acht Jah­ren Dienst­zeit als ein Stabs­un­ter­of­fi­zier aus, der sich nie wie­der etwas Der­ar­ti­ges zuschul­den hat­te kom­men lassen.

Wir Rekru­ten wur­den damals nicht lan­ge behel­ligt mit irgend­ei­ner »Auf­ar­bei­tung« die­ses Fal­les. Der­lei kam wohl vor, und in der Theo­rie war klar, daß so etwas gene­rell unreif, idio­tisch, eines Sol­da­ten nicht wür­dig war. Aber wir lern­ten mit der Zeit auch die Gemüts­la­ge besof­fe­ner Ker­le ken­nen, die als Staats­bür­ger in Uni­form, bar jeder Tra­di­ti­on, in der Sinn­kri­se des Mili­tärs nach der Wen­de und im Post-His­toire nichts mit sich anzu­fan­gen wuß­ten und auf dum­me Gedan­ken kamen, wenn sie zu lan­ge in der Kaser­ne her­um­sa­ßen und mit­be­ka­men, daß man sie alle- samt für Mör­der hielt und hal­ten durfte.

Ich war mit jenem Unter­of­fi­zier drei­mal auf Trupp, ein­mal über andert­halb Wochen bei sau­mä­ßig naß­kal­tem Wet­ter in mie­sem Gelän­de. Sel­ten bin ich bes­ser geführt wor­den, und ich habe dabei auf die Zuver­sicht und kame­rad­schaft­li­che Für­sor­ge zu ver­trau­en gelernt, die den guten Vor­ge­setz­ten aus­zeich­net und von denen es in der Fern­spä­he­rei Dut­zen­de gab. Sie alle haben die­se Armee ver­las­sen müs­sen oder sind aus frei­en Stü­cken gegangen.

Der eine wur­de Pilot in Afri­ka, der ande­re grün­de­te eine Fall­schirm­sprin­ger-Schu­le, der drit­te, vier­te und fünf­te zogen mit Schä­fer­hun­den um Fir­men­ge­bäu­de, bevor sie bei ame­ri­ka­ni­schen Fir­men anheu­er­ten und sich als Söld­ner ver­ding­ten. Ande­re sind im Zivil­le­ben ein­ge­schla­fen und nie wie­der auf­ge­wacht (wer wirk­lich Sol­dat war, ver­steht, was ich damit meine).

Viel­leicht kam der Bruch 1997, ich weiß es nicht mehr genau: Jeden­falls soll­ten wir Offi­zie­re plötz­lich eine Anord­nung unter­schrei­ben, die uns nichts weni­ger als die Denun­zia­ti­on jedes Unter­ge­be­nen vor­schrieb, der sich in irgend­ei­ner Wei­se »rechts« betä­tig­te oder über­haupt nur eine sol­che Ten­denz zeig­te. Man woll­te »das« los­wer­den, woll­te es aus der Armee schmei­ßen, und natür­lich unter­schrieb ich die­sen Hygie­ne­be­fehl nicht, auch aus der Erfah­rung mit jenem Unter­of­fi­zier her­aus; denn wer, wenn nicht die Armee, soll­te sol­che Ker­le erzie­hen, zurecht­bie­gen, in die rich­ti­ge Rich­tung dre­hen? Und mit wem woll­te die­se Armee eigent­lich das Vater­land tap­fer ver­tei­di­gen, wenn nicht mit Män­nern, die nicht an die Gleich­heit glau­ben und Ent­schul­di­gun­gen für das Ver­sa­gen im ent­schei­den­den Moment für Geschwätz halten?

Es hat mir vor zwei Jah­ren ein­mal einer von die­sen Typen geschil­dert, wie er einen Kon­voi von Mos­sul nach Bag­dad mit sei­nen Leu­ten gesi­cher­te. Süd­afri­ka­ner waren dabei, Eng­län­der, zwei Tsche­chen, ein wei­te­rer Deut­scher, und wie sie fuh­ren, geriet das Ende des Kon­vois unter Beschuß, das letz­te Siche­rungs­fahr­zeug schlin­ger­te und fuhr in einen Holz­sta­pel. Man hät­te wei­ter­fah­ren kön­nen, es gab gute Grün­de dafür, aber der Typ, ein ehe­ma­li­ger Fall­schirm­jä­ger aus Nagold, fächer­te sei­ne Kolon­ne auf, ließ in gro­ßen Kur­ven wen­den und die Wege­la­ge­rer mit allem angrei­fen, was er hatte.

Die­se Sekun­de des Ent­schlus­ses, – zu wen­den und ins Feu­er zu fah­ren – ist ein Kata­pult in eine unse­rer »Gesell­schaft« ganz fremd gewor­de­nen Regi­on von Leben, Tod und Taug­lich­keit, und jedes Land braucht Män­ner, die dort ein­mal waren oder dort hin­wol­len. Wir wer­den sie auf- suchen müs­sen, über­mor­gen. Wir wer­den sie wecken müs­sen. Unse­re Armee aber, die Bun­des­wehr, sorgt die­ser Tage erneut und in gewis­sem Sin­ne end­gül­tig dafür, daß wir die­se Män­ner nicht mehr dort fin­den wer- den, wo sie in Deutsch­land immer waren: unter Waf­fen und im Dienst.

3.) Ich kann das Aus­maß der Säu­be­rung nicht abschät­zen, denn ich habe kei­ne Kon­tak­te mehr dort­hin: Es wer­den aber auf jeden Fall ein paar Dut­zend Sol­da­ten in den kom­men­den Wochen fest­stel­len müs­sen, daß sie zu hei­ßen Kar­tof­feln gewor­den sind. Man wird sie fal­len­las­sen – nicht, weil sie nichts taug­ten oder weil man sie nicht mehr brauch­te. Es wird sich ganz ein­fach an ihnen kein Vor­ge­setz­ter mehr die Fin­ger ver­bren­nen wol­len, das ist schon alles. Sie sind AfD-nah oder haben die fal­sche Zei­tung im Abon­ne­ment oder sind auf einer Demons­tra­ti­on mit- gelau­fen. Irgend­et­was davon klebt an ihnen wie Pech und Schwe­fel, und: Nun kommt alles ans Licht.

Wor­über reden wir? Es ist ja das Nor­ma­le, das Selbst­ver­ständ­li­che, das da ver­tre­ten wird, und es ist nur inner­halb der Band­brei­te unse­rer sehr spe­zi­el­len deut­schen Befind­lich­keit an einem Rand zu lie­gen gekom­men, wo es doch in die Mit­te gehör­te. Aber dies zu beto­nen hilft im Zwei­fels­fall rein gar nichts, und so ist die­ses Nor­ma­le, das von einem bestimm­ten Pro­zent­satz der Leu­te ver­tre­ten und unter- stützt wird, doch noch immer ein Aus­schluß- und Aus­gren­zungs­grund. Es gibt kei­ne Lob­by für die­se poli­ti­sche Rich­tung, kei­ne Auf­fang­netz­te, kei­nen grund­sätz­li­chen Kon­sens gegen das Denun­zie­ren, und so ist je- des ein­zel­nen Bekennt­nis sein ganz per­sön­li­cher, bio­gra­phi­scher Drahtseilakt.

Als Ver­le­ger einer der Infor­ma­ti­ons­kno­ten­punk­te zu sein, bedeu­tet auch: Leu­te aufs Seil tre­ten, balan­cie­ren und fal­len zu sehen. Ist dies das Schick­sal der ers­ten Rei­he? Hört das je auf, wenn nicht mor­gen, dann über­mor­gen? Und vor allem: Kön­nen wir das ver­ant­wor­ten, wir, die wir das Wider­stän­di­ge zu einem Teil unse­res Geschäfts und unse­res Lebens­ent­wurfs gemacht haben? Dür­fen wir die Trans­pa­renz, mit der wir den ver­blüff­ten Jour­na­lis­ten begeg­nen, zu einer Blau­pau­se machen, dür­fen wir die Leu­te dazu auf­for­dern, sich mit Namen, Gesicht, Bio­gra­phie in ein Getüm­mel zu stür­zen, in dem sie den Geg­ner, den »Big Other« nie­mals tref­fen wer­den? Nein, wir dür­fen es nicht.

4.) Es kommt näm­lich über die Leu­te wie ein Wol­ken­bruch, es ist,  als fän­den sich auf ihren Fest­plat­ten Por­nos mit Kin­dern, mit zu Tode gequäl­ten Tie­ren, mit Erschie­ßungs­film­chen nebst Tanz­mu­sik vor Babi Jar. Sie wer­den »ent­tarnt«, ihnen wird nach­ge­stellt, sie wer­den ein­ge­kreist, fest­ge­macht, in Netz­wer­ken, »Zel­len« ver­mu­tet.  Es  herrscht der Ver­dacht, und die Herr­schaft des Ver­dachts ist ein Zir­kel­schluß: Es gibt aus dem Selbst­ver­ständ­nis der »offe­nen Gesell­schaft« her­aus kei­nen Grund, irgend­et­was zu ver­schwei­gen, denn das Poli­ti­sche wird fair verhandelt.

Wer den­noch schweigt, hat etwas zu ver­ber­gen, und im Erspü­ren des Ver­bor­ge­nen und Ver­däch­ti­gen ist in unse­ren Tagen die Zivil­ge­sell­schaft, die­ses brei­te Bünd­nis, nicht zu über­tref­fen. Wer etwas ver­birgt, ist ver­däch­tig, und wer sich äußert, ver­birgt wohl die weni­ger gefäl­li­gen, die gefähr­li­chen Antei­le. Kurz: Wer die mora­li­sche Macht hat, die Fra­gen zu stel­len, darf auch bestim­men, wel­che Ant­wort genügt.

Meist ist daher die Infra­ge­stel­lung des Fra­ge­stel­lers die rich­ti­ge Ant­wort, die Nicht­be­tei­li­gung am »Gespräch«: Die Trans­pa­renz näm­lich läßt das Gefäl­li­ge blü­hen, und selbst unter uns ist der Hang zur Selbst­ver­harm­lo­sung nicht tot­zu­krie­gen, wenn stän­dig einer durch die Schei­be glotzt, wäh­rend wir uns zu for­mie­ren ver­su­chen. Wer­den wir eines Tages zur Trans­pa­renz ver­pflich­tet? Wird für aso­zi­al gel­ten, wer sich nicht betei­li­gen will, wer nicht offen­le­gen will, was er denkt und treibt, wer sei­nen »Sta­tus« nicht mehr­mals am Tag aktua­li­sie­ren will?

Der Roman Der Cir­cle von Dave Eggers beschreibt einen Super­kon­zern, der Face­book, Twit­ter, Whats­App, Pay­pal, Ama­zon und­so­wei­ter  in sich ver­eint und auf­grund sei­ner Effi­zi­enz Ver­wal­tungs­auf­ga­ben an sich zie­hen will. Die Kom­mu­ni­ka­ti­on aller mit allen gilt als unver­zicht­ba­re Vor­aus­set­zung für die Ver­bes­se­rung der Welt und die Opti­mie­rung der Mensch­heit. Wer sich nicht betei­ligt, ist suspekt, Trans­pa­renz ist das obers­te Gebot. Der Cir­cle hät­te sei­ne Voll­endung erreicht, wenn jedes Fleck­chen Erde aus­ge­leuch­tet, jeder Mensch glä­sern, jedes Gespräch mit- geschnit­ten wäre, gemäß drei­er Leit­sät­ze: »Geheim­nis­se sind Lügen«,

»Tei­len ist Hei­len«, »Alles Pri­va­te ist Diebstahl«.

Am Ende des Romans wird ein Mann zu Tode gehetzt. Weil alles trans­pa­rent gewor­den ist und bereits Mil­lio­nen von Usern um den Hals klei­ne Kame­ras tra­gen, um alles Pri­va­te in die Com­mu­ni­ty ein­zu­spei­sen, bleibt nie­man­dem mehr ein Rück­zugs­ort. Der Mann, nicht beson­ders sym­pa­thisch, eher pene­trant und schwie­rig, will nicht trans­pa­rent sein, nicht auf­find­bar, und er schlägt aus, was ihm eine frü­he­re Freun­din zuschan­zen könn­te, jetzt, wo sie im »Cir­cle« hoch­ran­gig arbei­tet. Er will sich nicht ver­nut­zen las­sen, er hält nichts von Selbst­op­ti­mie­rung, guter Lau­ne, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­hut­sam­keit und einem ver­lo­ge­nen Zwang zur frei­wil­li­gen Offen­le­gung und Kon­trol­le. Stets wird die tota­le Aus­leuch­tung mit dem Argu­ment ver­kauft, es kön­ne in abseh­ba­rer Zeit kein Ver­bre­chen mehr gesche­hen, wenn nur jeder mitmache.

Selbst Algo­rith­men zur Vor­au­s­er­ken­nung mög­li­cher ver­bre­che­ri­scher Hand­lun­gen sei­en nur noch eine Fra­ge der Zeit, gäbe es nur end­lich lücken­lo­se Bewe­gungs­pro­fi­le, deren Bewe­gungs­rich­tung Vor­her­sa­gen über Abwe­ge zulie­ßen. Neben die­sen Argu­men­ten ver­hal­len die Rufe nach Pri­vat­heit, Dun­kel­heit, Ein­sam­keit und nicht­op­ti­mier­tem Leben unge­hört und wie gera­de­zu abar­tig anti­quier­te Haltungen.

Es ist die Com­mu­ni­ty, es ist der Jagd­ei­fer der Com­mu­ni­ty: ein Mann wird gestellt, der sich zurück­zog, ver­schwin­den woll­te, den Wald­gang nicht nur sym­bo­lisch, son­dern tat­säch­lich voll­zog. Mil­lio­nen User mit Cir­cle-Account suchen ihn, es ist die Rache sei­ner ehe­ma­li­gen Freun­din an ihm, der es wag­te, sie zu kri­ti­sie­ren. Das Netz nimmt sei­ne Spur auf, man sah ihn tan­ken, man kreist ihn ein, man ver­mu­tet ihn in einem Haus am Ran­de eines Kaffs ganz im Norden.

Es jagen Autos nor­ma­ler Bür­ger den Hang hin­auf, es hetzt der Mann in sei­nen Wagen, er flieht in die Ber­ge, aber der Cir­cle läßt die Droh­nen los, und bald umschwir­ren Kame- ras den Jeep und fil­men das Gesicht eines wil­den Tie­res, das nicht mehr durch die Lap­pen gehen kann. Der Wagen durch­bricht das Gelän­der einer Brü­cke und stürzt in einen Abgrund aus Fel­sen und Schmelz­was­ser, in dem noch kei­ne Kame­ra ange­bracht ist. Sein Tod ist sei­ne eige­ne Schuld, heißt es: Ein Ver­ein­sam­ter, wohl Kran­ker, woll­te sich nicht von den Vie­len hel­fen las­sen, die ihn ins Licht zurück­ho­len und ihm ganz sicher hät­ten hel­fen können.

5.) Ich bin ein Geg­ner der Trans­pa­renz. Es muß immer wie­der das Auto geben, das ein­biegt und gleich­sam vor­sich­tig auf dem Platz vor dem Rit­ter­gut zum Ste­hen kommt. Vor­ges­tern stie­gen zwei Män­ner aus, ich kam ihnen gleich vom Stall her ent­ge­gen, dann führ­te der Sohn sie ins Buch­la­ger, wäh­rend ich noch die Tie­re ver­sorg­te. Kunst­schaf­fen­de, Leser, seit kur­zem Abon­nen­ten. Sie blie­ben übers Abend­essen hin­aus, berich­te­ten viel und offen, blind dar­auf ver­trau­end, daß dies ein Gespräch in der Sicher­heit des Schwei­gens sei. Unvor­stell­bar, daß uns dabei eine Kame­ra hät­te beglei­ten können.

6.) Aber viel­leicht ist über­mor­gen die Unter­wer­fung des Ein­zel­nen durch ein lücken­lo­ses Kommunikations‑, Selbst­op­ti­mie­rungs- und Bedarfs­we­ckungs­an­ge­bot schon abge­schlos­sen. Zu ver­mu­ten, es gäbe unter der Ober­flä­che (dem Daten­strom, der Cloud, dem Con­tent) so etwas wie ein Eigent­li­ches, in dem man ver­blei­ben kön­ne, wäre dann ein roman­ti­sches Bild, ein Ord­nungs­wunsch von vorgestern.

In Eugen Ruges Roman Fol­lower hat die Haupt­fi­gur Nio Schulz jene Ver­hal­tens­wei­sen, Abhän­gig­kei­ten und Sprach­sen­si­bi­li­tä­ten bereits ver­in­ner­licht, deren Vor­drin­gen wir heu­te in atem­be­rau­ben­der Geschwin­dig­keit wahr­neh­men. Nio fin­det sich nur dann zurecht, wenn er mit­hil­fe sei­ner Inter­net­bril­le und sei­nen Ohren­stöp­seln online gegan­gen und wie eine Koor­di­na­te im Netz ver­or­tet wor­den ist. Stän­dig len­ken ihn Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fet­zen ab, ver­faßt von Leu­ten, deren Fol­lower er ist und deren Anwe­sen­heit er braucht wie eine Familie.

Wie weit ist es mit uns gekom­men, wie weit wird es noch füh­ren? Wäh­rend wir halb über­heb­lich, halb belus­tigt die­sem ver­stöp­sel­ten Nio Schulz beim Fol­lo­wen zuse­hen, berei­tet Eugen Ruge das Kapi­tel »Genesis/Kurzfassung« vor und erschlägt uns damit. Er fragt sich und uns, wie es über­haupt mög­lich war, daß bis zu Nio Schulz eine unun­ter­bro­che­ne Linie an Vor­fah­ren nicht abriß, son­dern sich durch­set­ze, durch­hielt und immer wie­der fort­pflanz­te – trotz Hun­ger, Krank­heit, Seu­che, Krieg, Bru­ta­li­tät, Armut.

Die­se Vor­fah­ren wühl­ten sich erst um 1850 aus der Hilf­lo­sig­keit her­aus, von sie­ben Kin­dern fünf oder sechs im frü­hes­ten Alter weg­ster­ben sehen zu müs­sen. Gera­de ein­mal vier, fünf Gene­ra­tio­nen vor Nio konn­ten man also auf Medi­zin, gute Nah­rung und Bil­dung set­zen, und den­noch zer­schlu­gen die bei­den Welt­krie­ge auch die­se Leben. Aber wie­der pflanz­te sich einer fort, und irgend­wann kam die Gene­ra­tio­nen­fol­ge bei Fol­lower Nio an, der nun wahr­lich alles besitzt, um ein sorg­lo­ses Leben zu füh­ren und ein, zwei Kin­der zu bebrü­ten. Doch nun der Schlag: Mit ihm reißt alles ab, er kriegt das nicht mehr hin, er gibt nicht mehr wei­ter, was sich über Jahr­tau­sen­de durch­biß und ihn form­te – so unfrucht­bar ist sei­ne Zeit, so abge­lenkt vom Entscheidenden.

7.) Mein Haus, mein Gar­ten, kein WLAN, mei­ne Frau, mei­ne Kin­der, kei­ne Fol­lower, mein Wein­stock, mei­ne Zie­gen, mein Kar­tof­fel­kel­ler,  mein Tisch, kein Face­book, mei­ne Bücher, mei­ne poli­ti­sche Romantik.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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