Wozu noch Demokratie? Die Industriegesellschaften stehen vor gewaltigen sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen. Ist die gegenwärtige Parteiendemokratie überhaupt willens oder fähig, die- sen permanent wachsenden Aufgabenkomplex zu bändigen? Ist sie nicht vielmehr Teil des Problems? Ist der Demos als Souverän der Demokratie in der Lage, diese Komplexität und ihre Gefahren zu verstehen? Kann man es sich leisten, die Zukunft von Volkswirtschaften, Währungssystemen und politisch-bürokratischen Großkonstrukten in die Beliebigkeit von Wahlen und Volksentscheiden zu stellen?
Solche Überlegungen rufen sehr grundsätzliche Zweifel an der Demokratie hervor. Einer dieser Zweifler ist Jason Brennan, ein amerikanischer Philosoph und Politikwissenschaftler. Jason Brennan ist ein Mann der Eliten. Unter Eliten wollen wir im folgenden Menschen und Institutionen verstehen, denen an der möglichst schnellen und konsequenten Durchsetzung einer umfassenden Globalisierungsstrategie gelegen ist. Umfassende Globalisierung meint den weltweiten, durch keine Grenzen und sonstige nationalen Hindernisse behinderten Austausch von Waren, Dienstleistungen, Technologien, Finanzmitteln, Bodenschätzen und Arbeitskräften – gleiche Bedingungen und Chancen sollen in jedem Winkel des Planeten herrschen. Was sich dem entgegenstellt, wird beseitigt: nationalstaatliches Denken, kulturelle Besonderheiten, Sprachenvielfalt und überhaupt alles, was seine Eigentümlichkeit gegen den Andrang nivellierender Mächte bewahren möchte. Internationale Freihandelsabkommen dienen ebenso der Durchsetzung von Globalisierungsinteressen wie die Beseitigung widerspenstiger Regime, die EU- Haftungsunion für marode Staatshaushalte und Banken oder die Förderung der Massenmigration.
Die Zuwanderung überwiegend schlechtausgebildeter oder nicht ausbildungsfähiger Menschen in die westlichen Industriegesellschaften wirkt sich im Sinne der Eliten gleich mehrfach positiv aus: Das allgemeine Lohnniveau wird sinken, der Konsum minderwertiger, billig produzierter Waren wird anwachsen. Vor allem aber wird das Identitätsgefühl der alten Völker Europas beschädigt. Die Eliten profitieren so durch einen Zuwachs an Macht und Reichtum. Jason Brennan möchte den Eliten helfen, ihren Machtanspruch zügig auszubauen.
Deshalb stellt er – vorsichtig zwar, aber in der Absicht leicht durchschaubar – die Demokratie zur Disposition. Brennan zweifelt an der Demokratie, weil sie es zuläßt, daß derzeit in den von Globalisierung bedrohten Gesellschaften Kräfte im Wachstum begriffen sind, die wichtige Elitenprojekte wie Zuwanderung oder Freihandel zu gefährden drohen. Die Rede ist von den sogenannten Populisten – ein herabsetzend gemeinter, aber im Kern durchaus positiv deutbarer Begriff. Um den heraufziehenden Populismus abzuwehren, entwickelt Brennan das Konzept der Epistokratie: Die Wissenden sollen herrschen. Wissen im Sinne der Eliten ist gleichbedeutend mit der Einsicht in die Alternativlosigkeit ihres Herrschaftsanspruchs. Den Wissenden gegenüber stehen die Unvernünftigen, die populistische Parteien wählen. Sie sollen, geht es nach Brennan, künftig nicht mehr mitbestimmen dürfen.
Das Konzept der Epistokratie erinnert zunächst an das ältere Konzept der Technokratie: Die Führung des Gemeinwesens obliegt Experten – es herrscht die Logik der Sachzwänge. Doch bei näherem Hinsehen werden die Unterschiede zwischen Epistokratie und Technokratie deutlich. Diese Unterschiede sind von geradezu dramatischem Ausmaß. Es wird sich sogar die Überlegung aufdrängen, ob nicht vielleicht allein der technokratische Ansatz in der Lage sein wird, den Globalisierungsbestrebungen Einhalt zu gebieten. Die kalte, harte Technokratie könnte sich als bittere, aber notwendige Medizin erweisen – eine Medizin, die auch vielen Konservativen und Rechten nicht schmecken wird. Doch die eingangs geschilderte hochkomplexe Problemlage wird man kaum mit Basisdemokratie und anderen Träumereien der politischen Romantik in den Griff bekommen. Schauen wir also genauer hin: Was ist Technokratie, was verspricht sie?
Technokratie ist eine Regierungs- oder Verwaltungsform, die auf wissenschaftlichem und technischem Wissen beruht und sich durch strikte Rationalität und instrumentelle Vernunft auszeichnet. In diesem Sinne kann man auch den idealen Staat Platons als Technokratie bezeichnen, obgleich der Begriff Technokratie ein spätneuzeitlicher ist. Man mag auch an Arnold Gehlen denken – der Mensch als Mängelwesen ist der Institutionen (diese im einem sehr weiten Sinn gefaßt) bedürftig, denn nur sie ermöglichen ihm ein sicheres Leben. Selbst so gegensätzliche Entwürfe wie Ernst Jüngers Arbeiter und die Systemtheorie Niklas Luhmanns weisen deutliche Bezüge zum technokratischen Denken auf.
Im Zuge der Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Technik geriet alles Technokratische zunehmend in die Kritik. Besonders seit den 1960er Jahren wurden soziale, anthropologische, kulturelle und psychologische Aspekte in Stellung gebracht. Die Kritik richtet sich gegen ein Menschenbild, das sich an Sachzwängen orientiert und menschliche Bedürfnisse rational nach deren Nutzen und Verträglichkeit für das Gemeinwesen bewertet.
Ein solches Staatswesen galt konservativen wie auch linken Kritikern als kalt, menschenverachtend, undemokratisch. Sind die Vorwürfe berechtigt? Es geht der Technokratie darum, den Bestand hochkomplexer Gemeinwesen zu garantieren. Solange ein technokratisches System dies leistet, die Mitglieder des Gemeinwesens mit allem für eine gute Lebensführung Erforderlichen versorgt und die Ressourcen des Gemeinwesens verantwortungsbewußt verwaltet, bedarf es keiner demokratischer Legitimierung – ein gutregiertes Volk braucht keine Wahlrituale, zumal es jedem Mitglied des Gemeinwesens offensteht, als Experte die Geschicke des Gemeinwesens mitzubestimmen.
Der technokratische Staat wird nicht von gewählten Politikern geführt, sondern von durch Wissen und Können legitimierten Experten, die sich um die öffentliche Verwaltung kümmern. Deshalb spricht man auch von einer Expertokratie. Während sich die Expertokratie an den Erfordernissen der bestmöglichen Verwaltung des Gemeinwesens orientiert, ist die Epistokratie an den Interessen der Globalisierungselite ausgerichtet.
Wie aber steht es, blicken wir auf Technokratie und Epistokratie, um das Verhältnis zum Staat? Die Technokratie ist Inbegriff eines Staates, in dem öffentliche Angelegenheiten von gutausgebildeten Experten nach bestem Wissen zum Wohle aller geordnet und bestimmt werden. Die Einrichtung des Staatsgebäudes mag etwas karg sein, doch sie ist von hoher Zweckmäßigkeit und Beständigkeit. Man könnte auch an einen Ameisen- oder Bienenstaat denken – jeder Bewohner hat seine spezielle Aufgabe, alles ist sinnvoll erdacht und wird funktional ausgeführt. Der Staat ist eine sinnvolle, organisch gewachsene Großstruktur, ein Superorganismus. Die Epistokratie hingegen bedarf des Staates nur noch als Fassade, als Hülle, als Umsetzungshilfe des Machtanspruchs der Eliten gegenüber dem Demos. Die Organe des Staates zur Sicherung der Ordnung werden umfunktioniert zu Organen zur Machtausweitung der Eliten.
Die Epistokratie versucht zwar, sich als moderne Version der Technokratie zu verkaufen. Doch sie dient nicht den Interessen der bestmöglichen Verwaltung, sondern den Interessen einer globalisierten Wirtschaft.
Ein wichtiger Gradmesser erfolgreichen wirtschaftlichen Handelns ist die Effizienz. Eine Technokratie muß nicht wirtschaftlich sein, sie soll vor allem ein funktionierendes Gemeinwesen ermöglichen. Dazu aber zählt auch die Einbindung der unproduktiven, also uneffizienten Mitglieder dieses Gemeinwesens. Die soziale Frage, die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit, wird sich in einem technokratischen System also niemals stellen – es hat diese Frage längst bedacht und zufriedenstellend beantwortet. Die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit stellt sich nur dort, wo nach Maßstäben der Effizienz gewirtschaftet und alles Unproduktive ausgeschlossen wird – also dort, wo ausschließlich ökonomische Maßstäbe gelten.
Technokratie geht mit dem Staatsgedanken konform, die Epistokratie läuft ihm zuwider. Die Technokratie liefert den Staat nicht dem Effizienzdenken aus; die Epistokratie sehr wohl. Ähnlich verhält es sich mit der Demokratie – die Technokratie ist nicht notwendig mit der Demokratie verbunden, schließt diese aber auch nicht notwendig aus. Anders die Epistokratie – sie ist der Gegenentwurf der Eliten zur Demokratie. Können wir mit der Technokratie gegen die Epistokratie, mit dem Staat gegen die Globalisierungseliten vorgehen, ihnen Einhalt gebieten?
Bei Hobbes wird der Staat im Bild des Leviathan gefaßt. Der Staat ist als Ungeheuer gedacht (Nietzsche sieht ihn später gar als »das kälteste aller kalten Ungeheuer«). Der Entwurf des technokratischen Staates läßt das Ungeheuerliche klar hervortreten: Entschieden wird nach Maßgabe des Notwendigen, des Machbaren, des Erforderlichen – nicht des individuell Herbeigesehnten.
Es geht nicht darum, im Ausleben der eigenen Subjektivität Glück und Erfüllung zu finden. Es geht um Sicherheit. Das vielstimmige Fordern und Wünschen der in diesen Tagen langsam, aber sicher ihrem Ende entgegengehenden Wellnessdemokratie wird beim Leviathan auf taube Ohren stoßen. Der strenge Staat unterdrückt seine Untertanen jedoch nicht, sondern er schützt sie – vor allem vor sich selbst und dem als Gefahr für jede Ordnung lauernden anarchischen Naturzustand. Dieser Schutz hat seinen Preis: die Freiheit.
Der Naturzustand ist in der Staatstheorie von Hobbes ebenfalls im Sinnbild eines alttestamentarischen Ungeheuers erfaßt – Behemoth ist sein Name. Behemoth hat im Laufe der Zeit viele Metamorphosen durchlaufen – im Hier und Heute ließe Behemoth sich als die jeder gewachsenen menschlichen Ordnung den Kampf ansagende Globalisierungselite identifizieren. Sollte allein der Leviathan diesen Behemoth bezwingen können? Doch wäre der Leviathan überhaupt noch stark genug? Gegenwärtig erleben wir im Ringen der Ungeheuer das Gegenteil: Behemoth reißt sich täglich dickere Brocken aus einem geschwächten Leviathan heraus. Man nennt es verharmlosend Privatisierung, doch eine derartige Privatisierung ist für Staat und Volkswirtschaft niemals harmlos, weil stets nur Gewinne privatisiert werden, etwaige Verluste aber sozialisiert.
Der Staat ist im Verschwinden begriffen. Aber müßte man nicht im Kampf gegen die Eliten einen starken Staat geradezu herbeisehnen? Einen technokratischen Staat? Ich muß bekennen: Auch der Leviathan ist mir am Ende nicht recht geheuer.
Neben der Technokratie einerseits und der Epistokratie andererseits zeigt Arnold Gehlen, selbst einer gewissen Sympathie für Technokratisches nicht unverdächtig, in Urmensch und Spätkultur am Rande eine weitere Möglichkeit auf. Er erwähnt das chinesische Mandarinat als Classe dirigeante – die Mandarine waren »ethisch-literarisch gebildete Gentlemen, Vertreter einer ästhetischen Laiensittlichkeit und, wie Konfuzius seinerseits, religiös indifferent«. Mandarine waren als Gelehrte, Richter, Beamte das Rückgrat des chinesischen Staates und das Produkt einer strengen Erziehung und Ausbildung. Deren alleiniges Ziel war es, die Verwaltung des Landes durch die gelehrtesten und fähigsten Köpfe zu sichern.
Sie waren keine Bereicherungselite, sondern Repräsentanten eines selbstbewußten Staates, seine Auslese und edelste Blüte. Hier sammelten sich jedoch nicht nur Gelehrsamkeit und Expertise, sondern auch Lebenserfahrung, heitere Gelassenheit, Kultiviertheit, Weisheit und Herzensbildung. Die Mandarine wirken ein wenig wie eine milde, minder kalte Version des technokratischen Experten. Es wäre ein reizvolles und keineswegs im Vorfeld schon entschiedenes Gedankenspiel, zu prüfen, ob eine Art lebenskluges Mandarinat oder die an Sachzwängen orientierten, streng rationalen Expertengremien in diesen Zeiten der Not wohl die bes- seren Herrscher abgäben. Auf das Gemeinwohl ausgerichtet wären – im Gegensatz zur Epistokratie – beide.