Es ist ein Kennzeichen linksliberaler Ethikdiskurse (für die »irritierend« das vielleicht treffendste Adjektiv ist), daß es ihnen gelungen ist, die zeitlose Hierarchie der Güterabwägung erst außer Kraft zu setzen und dann vollkommen zu verdrehen. Das Allgemeinwohl, letztlich jedes über die einzelnen hinausweisende Gut, gilt immer weniger als legitime Grundlage einer Beschränkung des Wohls des einzelnen. Das Linke im Linksliberalismus hat jedoch auch eine bloße Umkehrung verhindert, die dem großen Ganzen den Einzelnen und seine unantastbaren Rechte entgegenhält. Stattdessen heben sich privilegierte Gruppen offizieller und halboffizieller Opfer und Benachteiligter aus der egalitären Landschaft heraus, die untereinander wie- derum um die Plätze einer ebenso komplizierten wie unbeständigen Hackordnung kämpfen.
Nur so erklärt es sich, daß sich mit dem Aufkommen der Pränataldiagnostik in den 1980er Jahren eine Debatte entspann, in der Leute, die die Abtreibung für ein nicht hinterfragbares weibliches Grundrecht hielten, darüber diskutierten, ob es ethisch zulässig sei, erbkranken Nachwuchs auf diese Weise auszusortieren, und ob eine solche Praxis nicht Züge rassenhygienischer Maßnahmen des Nationalsozialismus trage. Diesem Vorwurf ließ sich am leichtesten begegnen, indem man das individuelle Glück betonte und die größere biopolitische Perspektive weit von sich wies.
Die klassische, von Francis Galton (1822 – 1911) begründete Eugenik forderte nicht weniger als eine aktive, staatliche Bevölkerungspolitik, und zwar nicht nur hinsichtlich der Quantität, sondern vor allem mit Blick auf die Qualität des Nachwuchses. Stand in der Wissenschaftseuphorie eines Galton noch die berauschende Möglichkeit im Vordergrund, der Mensch könne seinen eigenen Evolutionsprozeß kontrollieren, wurde die eugenische Bewegung bald Teil der Zivilisationskritik. Der natürlichen Auslese stand auf einmal die Gegenauslese der Zivilisation entgegen, in der durch Sozialfürsorge und medizinischen Fortschritt auch und gerade den erblich als minderwertig geltenden Bevölkerungsbestandteilen Fortpflanzungserfolge zuteil wurden. Die Vorstellung verbreitete sich, daß der Mensch, der durch seinen Erfindungsreichtum den natürlichen Lebenskampf gemildert hatte, nun auch gegenüber den Nebenwirkungen nicht untätig bleiben dürfe. Um des langfristigen Wohls der Spezies willen müsse der Staat eingreifen, hochwertige Geburten fördern und minderwertige nach Möglichkeit beschränken.
Von diesen Gedanken sind die Anwender und Verfechter heutiger Reproduktionsmedizin denkbar weit entfernt. Dabei ist das Unbehagen an der Zivilisation nicht zurückgegangen. Zivilisationskritik aller Art gibt es im Dutzend billiger. Das Angebot reicht von Broschüren über die Gefährlichkeit von Treibhausgasen zu Büchern über von Smartphonegebrauch verursachte Gehirnschäden. Die Idee jedoch, unsere Zivilisation könnte zum biologischen Verfall der Zivilisierten führen, ist eines der größten Tabuthemen unserer Zeit, zu beunruhigend wären die dann unabweisbaren Konsequenzen.
Im Ergebnis hat sich der Staat auf die Position des Marktregulators zurückgezogen. Damit entscheiden weitgehend Angebot und Nachfrage über die Anwendung der sich stetig erweiternden medizinischen Möglichkeiten. Dieser Markt mag stärker reguliert sein als andere, und manche Praktiken sind in manchen Staaten verboten, in anderen hingegen erlaubt – die Kriterien dafür sind oft recht willkürlich und die Rechtslage erkennbar das Ergebnis tagespolitischen Würfelspiels. So war bis 2010 die Präimplantationsdiagnostik in Deutschland illegal, eine Spätabtreibung nach Feststellung einer Behinderung unter Berufung auf die seelische Gesundheit der Mutter hingegen erlaubt.
Dieser Privateugenik liegt nichts ferner als eine planmäßige Hebung der genetischen Qualitäten des Volkes. Statt dessen steht werdenden Müttern das Angebot zur Verfügung, erbkranken Nachwuchs zu diagnostizieren und gegebenenfalls zu beseitigen. Diese Dienstleistung bietet also an, die oft erheblichen Belastungen, die die Pflege eines behinderten Kindes mit sich bringt, zu vermeiden. Und wie auf jedem Markt sind es letztendlich die Kunden, die, wenn auch unter Einfluß ärztlicher Beratung, die Entscheidung für oder gegen die entsprechenden Untersuchungen treffen und im Ernstfall auch entscheiden, ob sie ein behindertes Kind austragen oder nicht. Ausschlaggebend für diese Entscheidung ist meist die wahrgenommene Schwere der Behinderung, bei der Diagnose von Trisomie 21 etwa entscheiden sich rund drei Viertel der Schwangeren für eine Abtreibung.
Wichtig ist nun, folgendes festzuhalten: Wäre es möglich, die Technik auf ihrem gegenwärtigen Stand einzufrieren, es lohnte sich nicht, sich über die gegenwärtig angewandten eugenischen Verfahren groß den Kopf zu zerbrechen. Daß die Legalität der Abtreibung an sich kein Skandal, sondern der Abgrund der linksliberalen Gesellschaft ist, steht auf einem anderen Blatt. Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Zustand hingenommen wird, zwingt jedenfalls zu einigen sehr geringschätzigen Urteilen über die Art und Weise, auf die das menschliche Moralempfinden zustande kommt.
Immerhin mag man die Diagnose Down- Syndrom als einen gewichtigeren Grund für eine Abtreibung einschätzen als die üblichen Mein-Bauch-gehört-mir-Phrasen. Und wie es bei dieser Bewegung leider so oft der Fall ist, führt sich der Lebensschutz bei der Bekämpfung der In-vitro-Fertilisation und der Präimplantationsdiagnostik selbst ad absurdum oder wird wenigstens fragwürdig: Um die Entsorgung überschüssiger Embryonen zu vermeiden, die bei diesen Verfahren nun einmal anfallen, sollen Paare, die auf diese medizinischen Hilfsmittel angewiesen sind, am besten gar keine Kinder bekommen?
Allerdings bietet die Präimplantationsdiagnostik theoretisch Möglichkeiten, die weit über das Verhindern von Mißgeburten hinausgehen. Prinzipiell ist es möglich, auch nach anderen Kriterien zu selektieren und damit die ursprünglichen Ziele der Eugenik mit weit effizienteren Mitteln wieder aufzunehmen. Wohlgemerkt immer noch, ohne in das Erbgut selbst einzugreifen, das bedeutet mit verhältnismäßig geringem Risiko. Reicht das Wissen um das menschliche Genom einmal aus, um effektiv zu selektieren, so gibt es keinen Grund zu der Annahme, daß solche Mittel ihr vorgegebenes Ziel gesünderen, schöneren, vor allem aber intelligenteren Nachwuchs zu bekommen, nicht erreichen sollten.
Noch 1983 gab Wolfgang Walter in seiner bemerkenswerten Dissertation Der Geist der Eugenik seiner Hoffnung Ausdruck, die ihm unheimlichen neuen Mittel der Reproduktionstechnologie könnten von selbst versanden, die Technik die hochgespannten Erwartungen nicht erfüllen. Das ist nach heutigem Stand deutlich unwahrscheinlicher geworden, auch wenn viele Entwicklungen immer noch ihre Zeit brauchen werden. Nur weil eine technische Entwicklung nicht mit der Geschwindigkeit verläuft, an die wir uns in der Digitalisierung gewöhnt haben, bedeutet das nicht, daß sie weniger unaufhaltsam wäre.
Da mit den heutigen und künftigen Methoden keine von einer großen Mehrheit als untragbar angesehenen Maßnahmen wie die Zwangssterilisation erblich »Minderwertiger« anfielen, wäre auch der Widerstand gegen eine solche Politik, einmal eingeschlagen, wesentlich geringer. Es ist gut denkbar, daß es hier auf längere Sicht gar keines eugenischen Programms bedürfte und daß die Nachfrage von seiten künftiger Eltern dieser sanften Eugenik von al- leine zum Durchbruch verhelfen wird.
Da die Auswirkungen dieser Technik aber frühestens in der nächsten Generation zu spüren sein werden, ist anzunehmen, daß sich der Siegeszug der neuen Eugenik über einen längeren Zeitraum vollziehen wird als bei technischen Neuerungen üblich. Demzufolge wird zunächst nur eine Minderheit der Menschen die neue Art der Fortpflanzung verwenden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie in vielen Ländern noch lange verboten sein wird. Nur wird die Leistungsfähigkeit genetisch selektierten Nachwuchses in der nächsten Generation eine deutliche Sprache sprechen und die breite Akzeptanz dieser Mit- tel erzwingen. Mit allen guten wie schlechten Konsequenzen, von deren letzteren die Degradierung der körperlichen Liebe zu einer zweit- klassigen Form der Fortpflanzung nicht die geringste sein wird.