»Eines ist Spenglers spähendem Jägerblick, der erbarmungslos die Städte der Menschheit durchstreift, als wären sie die Wildnis, die sie sind – eines ist diesem Jägerblick verborgen: die Kräfte, die im Verfall frei werden. ›Wie scheint doch alles Werdende so krank‹ – der Satz des Dichters Georg Trakl transzendiert die Spenglersche Landschaft. In der Welt des gewalttätigen und unterdrückten Lebens ist Dekadenz, die diesem Leben, seiner Kultur, seiner Roheit und Erhabenheit die Gefolgschaft aufsagt, das Refugium des Besseren.
Die ohnmächtig, nach Spenglers Gebot, von Geschichte beiseite geworfen und vernichtet werden, verkörpern negativ in der Negativität dieser Kultur, was deren Diktat zu brechen und dem Grauen der Vorgeschichte sein Ende zu bereiten wie schwach auch immer verheißt. In ihrem Einspruch liegt die einzige Hoffnung, es möchten Schicksal und Macht nicht das letzte Wort behalten. Gegen den Untergang des Abendlandes steht nicht die überlebende Kultur, sondern die Utopie, die im Bilde der untergehenden wortlos fragend beschlossen liegt.«
Mit diesen Sätzen beendete Theodor Wiesengrund Adorno seinen Aufsatz zum 70. Geburtstag Oswald Spenglers. Spengler, das trieft aus jeder Zeile, flößte ihm Angst ein, und bei aller geistigen Brillanz entstand so ein Text, der in punkto Selbstentlarvung zu den beeindruckendsten der Geistesgeschichte zählt.
Uns bekümmern hier nicht der verfälschende Vulgärmarxismus, zu dem Adorno seine Zuflucht nimmt, wenn es gilt, die Macht der Hochfinanz zu verleugnen und den Warenproduzenten mit der Alleinverantwortung für die gesellschaftlichen Verhältnisse zu belasten, nicht sein selektiver Analphabetismus, was die Verschleierung von Herrschaftsverhältnissen durch die sogenannte »Pressefreiheit« anbelangt, und auch nicht das Abschneiden eines Zitats aus Angst, das Grauen des Bolschewismus nur erwähnt zu sehen.
Uns bekümmern die zitierten Schlußsätze, die nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft weisen. In ihnen ist jene Wende der westlichen Linken aufs deutlichste ausgedrückt, die ihr ihre heutige Gestalt gab. Damals, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, war der Traum vom Paradies der Werktätigen bereits im Gulag verendet. Es gab noch viele Kommunisten, doch die Sozialdemokratisierung der westlichen Linken und die damit einhergehende Akzeptanz der liberaldemokratischen, kapitalistischen Grundlagen der westlichen Demokratien zeichnete sich als unaufhaltsam ab.
Die Hoffnung auf einen weltrevolutionären Eroberungszug der Sowjetunion war mit den Millionenverlusten der Roten Armee in die Massengräber zwischen Wolga und Spree gesunken. Die bürgerliche Welt war wieder alternativlos, und wer noch den klassischen Kommunismus verfocht, mußte sich früher oder später die Aussichtslosigkeit seines Kampfs eingestehen. In der Möchtegernrevolution von 1968 würde man das Possenspiel erleben, daß verwirrte Studenten, Kinder des Bürgertums, die Arbeiter der Wirtschaftswunderzeit zum Klassenkampf aufzustacheln versuchten.
Hier, angesichts des Scheiterns, begann der lange Marsch des grundsätzlich denkenden Teils der Linken in die radikale Zersetzung. Das bedeutete die Preisgabe revolutionärer Ziele zugunsten endloser Emanzipationsforderungen. Die Dekadenz, die Zersetzung wurde zugleich Kampfmittel und Selbstzweck einer Bewegung, die der Wirklichkeit kein beschreibbares Ideal mehr entgegenzusetzen hatte, sondern nur noch das Aufschimmern der Utopie hinter dem Horizont besaß. Marxistische Häretiker wurden zu Idolen. Der weiße Arbeiter, dem die Linke seine Weigerung, sich zum Träger der Weltrevolution zu machen, nie mehr verzieh, wurde verraten. Seinen Platz nahmen andere ein: Frauen, sexuell Deviante, in immer zunehmendem Maße aber die Völkerschaften der Dritten Welt. All diejenigen, die angeblich oder tatsächlich »ohnmächtig, nach Spenglers Gebot, von Geschichte beiseite geworfen und vernichtet werden«.
Oft liest man, die Linke habe sich hier neue revolutionäre Subjekte gesucht. Das ist falsch. Diese Gruppen sind für die Linken gerade keine Subjekte, sondern Mündel, in deren Namen immer neue Forderungen erhoben werden, die die Grundfesten von Volk und Staat unterminieren. Das Problem der Linken mit dem Islam besteht gerade darin, daß Moslems, anders als Frauen und solche, die es gerne wären, zu eigenständigem, von der Linken gelöstem, politischen Handeln fähig sind. Das bedeutet: Sie können die Hand, die sie füttert, auch beißen.
Für die akademische Linke bestand der Hauptgewinn freilich darin, daß sich zu jeder dieser Gruppen ein unüberschaubarer Wust emanzipatorischer Theorien erstellen ließ. Anders als Locke und Rousseau haben die Theoretiker des Feminismus, der Gender studies, Queer studies, Critical whiteness studies oder Postcolonial studies nicht mehr das Ziel, einen rationalen Gesellschaftsvertrag zu entwerfen.
Es geht ihnen auch nicht – wie Marx – darum, wissenschaftlich zu beweisen, daß die herrschaftsfreie Gesellschaft das Endziel der Geschichte darstelle. Nur noch der Unterdrückungszustand der jeweiligen Mündelgruppe soll bewiesen werden. Vor allem jedoch will man aufzeigen, wie diesen Gruppen durch die gesellschaftlichen Strukturen irgendwelche Rechte vorenthalten würden. Das Patriarchat, der strukturelle Rassismus und vielerlei der Sorte mehr wurden zu Feindbildern, denen gegenüber die emanzipatorischen, strukturzersetzenden Forderungen erhoben wurden.
Der Preis dieses Denkens ist freilich seine Verarmung, vor allem der Verlust jenes Erschauens des Ganzen, welches allein dem politischen Philosophen eine Daseinsberechtigung neben dem weit präziser arbeitenden Sozialforscher mit seinen Theorien kleiner und mittlerer Reichweite verleiht. Nicht selten wird dann versucht, diesen Blick auf das Ganze zu usurpieren. Besonders die Vertreter der Genderlehre haben es in der zweifelhaften Kunst, jeden nur denkbaren Sachverhalt aus der engen Perspektive ihrer eigenen Doktrin zu beleuchten, zur Meisterschaft gebracht.
Alain Soral giftete dazu einmal, daß die Linke, als sie den Marxismus aus dem Fenster warf, das Denken vollständig einstellte und sich dem Obskurantismus der Menschenrechte ergab. Doch gerade der Obskurantismus macht seither die Kampfkraft linker Ideologie aus. Manfred Kleine-Hartlage analysiert:
»Indem er es aufgegeben hat, Ziele zu definieren, und sich darauf beschränkt, eine Richtung zu verfolgen, hat sich der Linke zum einen viel Angriffsfläche erspart, die ihm zu schaffen machte, solange seine sozialistische Utopie als Realität in der Welt war. Zum anderen hat er sich damit in eine Logik verstrickt, der er nicht mehr entkommen kann – und die Gesellschaft, die seinen Ideen folgt, auch nicht, es sei denn als Konsequenz ihres Zusammenbruchs: Das Ziel durch eine bloße Richtung zu ersetzen, impliziert, daß es nie einen Punkt geben wird, an dem Linke sagen werden: Jetzt haben wir erreicht, was wir wollten, und geben uns da- mit zufrieden, eben weil der Horizont, hinter dem Utopia liegen soll, nie erreicht werden kann.«
Die Tendenz endloser Auflösung ist von Kleine-Hartlage erschöpfend beschrieben. Der strategische Vorteil durch eine verminderte »Angriffsfläche« betrifft jedoch weit mehr als die Tatsache, daß sich die Linke nicht mehr für den Kommunismus zu rechtfertigen hat. Viel wichtiger ist, daß die Bekämpfung eines Gegners, der kein revolutionäres Ziel vor sich herträgt, für die Verteidiger einer gegebenen Ordnung außerordentlich schwierig ist.
Da ist zunächst die rechtliche Ebene. Jeder Staat verfügt über Gesetze, die es ihm ermöglichen, diejenigen zu bekämpfen, die seinen Sturz planen. Von Staat zu Staat sehen diese sehr unterschiedlich aus, und das faktische Verhalten der Sicherheitsorgane ist noch einmal etwas anderes. Jedoch: Der Staatsfeind muß immer als solcher identifiziert werden, und das ist bei einer revolutionären Bewegung um ein Vielfaches einfacher als bei einer bloß zersetzenden.
Am meisten gilt ist dies für einen funktionierenden Rechtsstaat. Er ist dem Zersetzer hilflos preisgegeben. Das Bundesverfassungsgericht konnte die KPD verbieten, aber nicht die Frankfurter Schule. Wenn die juristische Ebene versagt, bleibt die gesellschaftliche. Diese kann zwar zur Repression schreiten, jedoch – dessen sollten sich auch diejenigen bewußt bleiben, die unter den sehr realen Folgen der politischen Korrektheit zu leiden haben – sind die ihr zu Gebote stehenden Mittel deutlich harmloser.
Und auch hier ist es einfacher, gegen einen zu mobilisieren, der den Umsturz fordert, als gegen einen, der nicht die revolutionäre Gewalt fordert, auch wenn das, was er sonst verlangt, an der Lebensfähigkeit der Gemeinschaft nagen möge.
Bereits die bloße Argumentation gegen die radikal zersetzende Linke ist aufwendig und schwierig. In seinem Buch Die liberale Gesellschaft und ihr Ende demonstriert Kleine-Hartlage etwas unfreiwillig das Problem jedes Konservatismus, der gegen die Linke auf Institutionen setzt. Am Ende eines Kapitels über ideologische Strukturzerstörung schreibt er: »Dabei ist es nicht per se verwerflich, mehr individuelle Freiheit oder mehr soziale Gerechtigkeit zu fordern, sofern man sich der Beschränkungen bewußt ist […]«, und es folgt ein Rattenschwanz, den hier zu zitieren der Platz nicht reicht.
»Freiheit und Gerechtigkeit!« etwas konkretisiert (Freiheit von was? Gerechtigkeit für wen?), und man hat eine Forderung, die einfach zu vermitteln ist und gegen die sich nur mit großem Aufwand argumentieren läßt. Wer sich vom Obskurantismus der Menschenrechte leiten läßt, verfügt im herrschaftsfreien Diskurs über gute Karten. Es ist unglaublich anstrengend, ihm oder auch nur dem Publikum zu vermitteln, warum etwa die Forderung nach Bleiberecht für Flüchtlinge oder die nach Gleichberechtigung für alternative Familienmodelle nicht minder zerstörerisch ist als der Ruf nach der Diktatur des Proletariats.
Die vielleicht größte Stärke jeder rein zersetzenden Ideologie sind jedoch ihre geringen moralischen Kosten. Ihre Zerstörungskraft steht in einem irrwitzigen Verhältnis zu der kaum bis gar nicht vorhandenen Gewissensbelastung. Kein zeitgenössischer Linker läuft mehr mit der Mauerpistole durch die Lande. Die Angriffe der Linken richten sich auf die Strukturen gewachsener Gemeinschaften; das ist weder Mord noch Totschlag, auch wenn es zu beidem führen kann.
Von den Kinderopfern zerstörter Familienstrukturen bis zu den Gefahren eines gekippten Stadtviertels für seine Bewohner – nie ist der Linke als Täter sichtbar. Die bloß mittelbare Schädigung wird weder von ihm selbst noch von der überwältigenden Mehrheit seiner Mitmenschen in gleicher Weise wahrgenommen, als wäre es eine persönliche Tat.
Politisches Handeln verursacht immer auch Schäden. Es wird aber um ein Vielfaches einfacher, wenn diese Schäden einfach so passieren, als wenn sie von einer zurechenbaren Stelle aus angeordnet werden. Der Revolutionär schreitet zum bewaffneten Kampf, der Zersetzer unterminiert die Grundlagen, auf denen die Gemeinschaft beruht. Letzterer ist der Gefährlichere, doch er wird als der Harmlosere wahrgenommen. Es ist viel schwieriger, ihn zu bekämpfen.
Da nun aber die konkreten Ziele das untrügliche Erkennungszeichen des revolutionären Anspruchs sind, gleichsam sein Kainsmal, an welchem ihn auch der dümmste unter den Gegnern sofort erkennt, geht jede politische Bewegung, wenn sie von der Revolution zur Zersetzung übergeht, folgenden Handel ein: Sie erkauft sich eine Tarnkappe um den Preis, die Gestaltung der Zukunft auch nur denken zu können. Adorno und allen, die sich von der Dekadenz eine Erlösung aus dem Grauen der Geschichte erhoffen, ist dies gleichgültig. Das linke Fußvolk, einschließlich des intellektuellen Prekariats, denkt gar nicht so weit, sondern glaubt, daß ihre verbesserte Welt einfach weiter funktionieren würde wie bisher.
Wie steht es mit anderen? Es ist in den letzten Jahren auf der Rech- ten ein Milieu entstanden, das mit der radikal zersetzenden Linken einige erstaunliche Ähnlichkeiten hat. Sein bereits kennzeichnendstes Merkmal ist, daß es noch nicht einmal wirklich benannt ist. Mit »Widerstands- milieu« hat es Götz Kubitschek einmal probiert, doch das ist nicht hängengeblieben. Die Feinde reden von »Rechten«, »Rechtspopulisten« oder »Rechtsextremen«. Jedoch existiert jetzt dieses Milieu, das in Deutschland die AfD, die Identitäre Bewegung und eine Reihe neurechter Strömungen und Projekte umfaßt. Wo will es hin? Das weiß es selbst nicht. Es könnte nur eine Richtung angeben, die Verteidigung des Eigenen. Schwer, dagegen zu sein, nicht wahr?
Dieses Milieu ist das Produkt einer vergifteten Öffentlichkeit und an diese angepaßt. Es ist nur möglich in einer Zeit, auf welcher der Zwang zum Weiterfunktionieren des Systems schon deshalb als eine unermeßliche Alternativlosigkeit lastet, weil die Kosten einer Kehrtwende so gigantisch wären, daß niemand sie zu verantworten vermag. Mögen die Kosten des »Weiter so!« noch höher sein, zumindest muß niemand seinen Namen daruntersetzen. In dieser Zeit sind sowohl die Linke als auch die Rechte zu Jokeresken geworden. Zu Hunden, die Autos nachjagen und gar nicht wüßten, was sie machen sollten, falls sie tatsächlich einmal eines zu fassen bekämen.
Auf der Rechten bedeutet das für den einen eine Abkehr vom Sektierertum nationaler Revoluzzer, für den anderen die Abkehr von der Institutionspflege eines sich in der Technokratie verlierenden Konservatismus. Gewonnen haben beide: endlich, endlich Handlungsfreiheit. Nicht mehr in den berechenbaren Nischen des Systems verrotten. Endlich etwas bewegen. Doch wofür? Nur um das Establishment zu ärgern? Aus Freude am Chaos? Um den Globalisten vor dem unvermeidlichen Großen Austausch noch einmal in die Suppe zu spucken?
Die Antwort liegt in den Kräften, die im Verfall freiwerden. Adorno glaubte, daß diese seiner Wahnvorstellung vom Ende der Vorgeschichte dienstbar sein müßten, das in Wahrheit ein Ende der Geschichten ist. Er glaubte, daß im Verfall diejenigen stark würden, die diesem Leben die Gefolgschaft aufkündigen. Ist das so? Was haben wir zu verlieren? Top, die Wette gilt. Zersetzt, was euch zersetzt! ¡