Look / ist / sein

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Loo­kism /Lookismus wäre nach mei­nem Dafür­hal­ten die Annah­me, daß das äuße­re Erschei­nen ein Indi­ka­tor für die Beur­tei­lung eines Men­schen sei. Ein ers­ter Anhalts­punkt, ein revi­dier­ba­res Vor-Urteil.
Als Loo­kis­tin pfle­ge ich vom Äuße­ren einer Per­son ers­te Rück­schlüs­se auf ihr Tem­pe­ra­ment, ihren Cha­rak­ter, ihre Inter­es­sen vor­zu­neh­men. Ich gehe dabei nicht sys­te­ma­tisch vor. Es gibt kei­nen Vor­satz und kein Ras­ter. Ich beob­ach­te nur gern. Ich bin »äußer­lich­keits­sen­si­bel«.
Einer trägt Dutt. Eine hat dich­te Haa­re auf dem Arm. Einer hat einen Stier­na­cken. Eine trägt vor­kon­fek­tio­nier­te Ris­se in den Jeans. Einer stopft das Hemd in die Hose, der ande­re trägt es flat­ternd dar­über. Die eine neigt zur Stirn­fal­te, die ande­re zu Naso­la­bi­al­ker­ben. Man­ches ist ererbt, man­ches erwor­ben (durch Gewohn­hei­ten, durch sozia­le oder schick­sal­haf­te Umstän­de), ande­res ist frei gewählt. Einer­lei: Es sagt mir etwas. Der war­me Hän­de­druck, der kal­te, der feuch­te, der lasche, der zer­quet­schen­wol­len­de. Eine rich­tet die Füße beim Gehen nach innen: eine Geis­tes­wis­sen­schaft­le­rin? Einer trägt ein Kinn­grüb­chen: irgend­was mit Wirt­schaft? Einer trägt Bequem­schu­he aus Plas­tik: Schlurft der auch inwen­dig? Tref­fer­quo­te: beträcht­lich, kei­nes­falls hundertprozentig.
Erin­nert man sich eigent­lich noch an die RAF-Fahn­dungs­pla­ka­te? Stich­wort »ange­wach­se­ne Ohr­läpp­chen«? Undenk­bar heu­te, wo bereits die Far­be des Teints kri­mi­no­lo­gisch als nicht weg­wei­send gilt! Und die Schöp­fer jenes modi­schen Begriffs »Loo­kis­mus« ver­schär­fen die­se Sach­la­ge noch ins Bös­wil­li­ge (Grund genug für eine Selbst­be­zich­ti­gung als Loo­kis­tin!): Sie reden nicht von »Beur­tei­lung« und »Unter­schei­dung«, son­dern von »Abwer­tung«. Die Masche ist bekannt: Wer dif­fe­ren­ziert, wird der Abwer­tung bezich­tigt. Loo­kis­mus wäre also die Abwer­tung einer Per­son ent­lang eines Vor­ur­teils, das sich beim Blick auf ihr Äuße­res bil­de­te. Das Anhäng­sel ‑ismus dient auch in die­sem Fall dazu, die Posi­ti­on oder Sicht­wei­se zuzu­spit­zen und ins Arge zu zie­hen, obwohl sie einem »natür­li­chen Emp­fin­den« ent­spricht und oft noch vor ein paar Jahr­zehn­ten – und Jahr­hun­der­te zuvor ohne­hin – als »Nor­mal­fall« galt.
In der Anti­ke war unter Gelehr­ten die Phy­sio­gno­mik gang und gäbe. Als Begriffs­schöp­fer gilt Aris­to­te­les. Eine kur­ze, fla­che Nase soll­te für die Nei­gung zum Dieb­stahl ste­hen, des­glei­chen klei­ne Ohren. Klei­ne Augen wie­sen auf Ver­zagt­heit hin und so wei­ter. Man beflei­ßig­te sich der Ana­lo­gie­schlüs­se nach dem Mus­ter Löwen­mäh­ne: löwen­stark, schmal­brüs­tig: feige.
Die gro­ße Renais­sance der Gestal­ten­leh­re fand im spä­ten 18. Jahr­hun­dert unter dem Namen Johann Cas­par Lava­ter statt: Die vier­bän­di­ge Schrift Phy­sio­gno­mi­sche Frag­men­te, zur Beför­de­rung der Men­schen­kennt­niß und Men­schen­lie­be des Zür­cher Pas­tors war sei­ner­zeit ein Best­sel­ler. Lava­ter zog vor­wie­gend aus Schat­ten­ris­sen, also den Sil­hou­et­ten von Kör­pern und Gesich­tern, Rück­schlüs­se auf die Wesens­art der jewei­li­gen Personen.

Die Gestalt­deu­te­rei wur­de zum Gesell­schafts­sport der geho­be­nen Klas­sen: ein nai­ver, wenn auch »fremd­be­stimm­ter« Vor­läu­fer des rezen­ten Selfies!
In der anthro­po­so­phi­schen Medi­zin wird noch heu­te nach den alt­be­währ­ten Kon­sti­tu­ti­ons­ty­pen unter­schie­den: lep­to­som, ath­le­tisch, pyknisch. Die Phre­no­lo­gie, die unter Franz Joseph Gall im aus­ge­hen­den 18. Jahr­hun­dert einen Zusam­men­hang zwi­schen Schä­del- und Gehirn­for­men und Cha­rak­ter-/Geis­tes­ty­pen her­stell­te, ist hin­ge­gen bei­na­he so sehr außer Mode wie die ver­ma­le­dei­te Kra­nio­me­trie, die Leh­re von der Schä­del­ver­mes­sung, die zur NS-Zeit Ärz­ten dazu dien­te, den Dau­men zu heben oder zu senken.
Als moder­ne, auf­ge­klär­te Loo­kis­tin sehe ich mich von die­sen über­kom­me­nen Mode­wis­sen­schaf­ten weit ent­fernt. Ich hal­te nichts von Maß­bän­dern oder sons­ti­gen star­ren Mus­tern und wün­sche mir in kei­nem Fall eine Exklu­die­rung nach Aussehen.
Durch die Hin­ter­tür haben aber sol­che ‑logien und ‑metrien ihren kaum hin­ter­frag­ten Ein­gang in die moder­ne Welt gefun­den, näm­lich via bio­me­tri­sches Paß­bild, Iris­scan­ner (zwecks Smart­phone­si­cher­heit) und Goog­le-Gesichts­er­ken­nung. All das ist eini­ger­ma­ßen knallhart.

Gall hat­te sei­ner­zeit die Schä­del noch abge­tas­tet. Bei den aktu­el­len Metho­den der Iden­ti­fi­zie­rung zählt nicht der manu­el­le Ein­druck, son­dern der Nano­me­ter. Das heißt: ein Mil­li­ons­tel Mil­li­me­ter, und eine Viel­zahl die­ser Mil­li­ons­tel unse­res ein­ma­li­gen Gesichts bestimmt unhin­ter­geh­bar die Iden­ti­tät. Naiv, wer den Beteue­run­gen Glau­ben schenk­te, mit die­ser Iden­ti­fi­zie­rung sei kei­ne Klas­si­fi­zie­rung ver­bun­den: Die Ver­knüp­fung von Gesicht und digi­ta­lem Bewe­gungs­pro­fil hat längst zu Ras­tern geführt, die den blon­den Typ mit dem lan­gen Gesicht und den Geheim­rats­ecken zu sei­nen äußer­li­chen Geschwis­tern in eine Berufs‑, Ver­hal­tens- und Kon­sum­kis­te stecken.
Weil nun Loo­kism seit Erfin­dung des Begriffs ein Schmäh­wort ist bezie­hungs­wei­se sich als ankla­gen­der Ter­mi­nus gegen eine zu schmä­hen­de, unmo­ra­li­sche Hand­lung rich­tet, lau­tet die offi­ziö­se, etwa von Wiki­pe­dia ver­brei­te­te Defi­ni­ti­on wie folgt: »Loo­kism ist die Annah­me, dass das Aus­se­hen ein Indi­ka­tor für den Wert einer Per­son ist. Sie bezieht sich auf die gesell­schaft­li­che Kon­struk­ti­on einer Attrak­ti­vi­täts­norm und die Unter­drü­ckung durch Ste­reo­ty­pen und Ver­all­ge­mei­ne­run­gen über Men­schen, die die­sen Nor­men ent­spre­chen und über die­je­ni­gen, die ihnen nicht entsprechen.«

An was den­ken wir spon­tan, wo von »exklu­die­ren­den Attrak­ti­vi­täts­nor­men« die Rede ist? Kei­nes­falls an Hin­ke­fuß und Zwer­gen­mann Goeb­bels und sei­ne unschö­nen Kon­sor­ten. Die aner­kannt Bösen dür­fen wir näm­lich wei­ter­hin unge­straft loo­kis­tisch bewer­ten. Auch die soge­nann­ten Umstrit­te­nen von heu­te: Es geht des­halb gemein­hin in Ord­nung, von schmer­bäu­chi­gen AfD-Anhän­gern zu schrei­ben oder über das Dop­pel­kinn und die Zorn­fal­ten von PEGI­DA-Gän­gern zu läs­tern. Her­ab­las­sen­de Kör­per- und Gesichts­be­schrei­bun­gen von »rech­ten« Außen­sei­tern sind selbst in den seriö­sen Medi­en Legion.
Nein, wenn heu­te über die Gemein­heit von Schön­heits­nor­men gespro­chen wird, den­ken wir an die hüb­sche Kera Rachel, die mit ihren Kur­ven den­noch für zu dick für eine Model­kar­rie­re befun­den wur­de. An Hamid, der beklagt, daß er sicher auf­grund sei­ner dunk­le­ren Haut­far­be nicht den Job auf dem Amt ergat­tern konn­te. An Peter, der zwar erfolg­reich als Kame­ra­as­sis­tent reüs­siert, jedoch auf­grund sei­ner Stirn­fal­te und der wuls­ti­gen Stirn nir­gends rich­tig anzu­kom­men glaubt.
Unter allen ver­ru­fe­nen ‑ismen domi­nie­ren in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung bis­lang die­se: Ras­sis­mus, Sexis­mus, Anti­se­mi­tis­mus. (Klas­sis­mus hin­ge­gen, die Abwer­tung auf­grund der sozia­len Posi­ti­on, ist neu­er­dings selbst zum Abwer­tungs­in­stru­ment der herr­schen­den Eli­te gewor­den.) Die­se drei Exklu­si­ons­sche­ma­ta sind hin­rei­chend bekannt und geächtet.
Daß über die Abscheu­lich­keit sol­cher Maß­stä­be weit­ge­hend Einig­keit herrscht, daß sie also als No-go ein­ge­fleischt sind, führt zur Ver­äs­te­lung. Es gibt, so sug­ge­rie­ren unse­re Nor­ma­ti­vi­täts­sen­si­blen, gemei­ne Aus­schluß­me­cha­nis­men, die sub­ku­tan und unter­halb der Schwel­le eben die­ser popu­lä­ren ‑ismen ver­lau­fen. Eine »World Asso­cia­ti­on of Ugly Peo­p­le« soll bereits 1963 in einer ita­lie­ni­schen Land­ge­mein­de gegrün­det wor­den sein. Ihr Mot­to: »Ein Mensch ist das, was er ist, und nicht das, wonach er aus­sieht.« Als Emblem wähl­ten die Grün­der einen Wild­schwein­kopf. Als Pro­test gegen »Schön­heits­nor­men« gab es spä­ter (2004 /05) pro­mi­nent die Wer­be­kam­pa­gne der Sei­fen­fir­ma Dove, die nun auch fül­li­ge, fal­ti­ge und asym­me­trisch gewach­se­ne Frau­en nackend abbil­de­te, um die­se »nor­ma­le«, aber mode­tech­nisch nor­ma­tiv exklu­dier­te Ziel­grup­pe zu »mehr Selbst­wert­ge­fühl« zu ermutigen.

Es gab in Deutsch­land den (geschei­ter­ten) Ver­such der Frau­en­zeit­schrift Bri­git­te, auf den Mode­stre­cken ohne pro­fes­sio­nel­le Models aus­zu­kom­men und statt­des­sen »nor­ma­le« Frau­en abzu­bil­den. Noch spä­ter kamen Ein­las­sun­gen der Grü­nen-Poli­ti­ke­rin Mari­an­ne Bur­kert-Eulitz und der ehe­ma­li­gen taz-Che­fin Bar­ba­ra »Bascha« Mika hin­zu, die dazu dien­ten, den Loo­kis­mus-Vor­wurf popu­lär zu machen.
Bur­kert-Eulitz hat­te 2013 beklagt, daß bei Miß-Wah­len nicht­gro­ße, nicht­schlan­ke und nicht­deut­sche Men­schen benach­tei­ligt wür­den. Frau Mika hin­ge­gen litt (Mut­pro­be. Frau­en und das höl­li­sche Spiel mit dem Älter­wer­den, Mün­chen 2014) unter einer Unter­form des Loo­kis­mus, dem
Ageism, der Alters­dis­kri­mi­nie­rung qua Optik.
Es ist frag­los unge­recht, daß nor­ma­le Bau­ar­bei­ter (bewußt wäh­le ich die­se weiß kon­no­tier­te Grup­pe) nur sel­ten Frau­en jen­seits der Kli­mak­te­ri­ums­gren­ze nach­pfei­fen. Es ist sicher psy­chisch unge­sund, wenn sich Frau­en gegen ihre bio­lo­gi­schen Gege­ben­hei­ten stem­men. Der aktu­el­le Kino­film Embrace – Du bist schön zeigt char­mant, wie Frau­en sich gän­gi­gen Schön­heits­mus­tern ent­zie­hen können.
Allein, der Markt, selbst wenn wir ihn als Fleisch­markt brand­mar­ken, zeigt eige­ne, unhin­ter­geh­ba­re Gesetz­mä­ßig­kei­ten: Sein und Bewußt­sein bil­den hier kein Paar. »Authen­ti­sche Schön­heit« in dem Sin­ne, wie sie die Body-posi­ti­ve-Bewe­gung fei­ert, ist eine ähn­lich net­te Idee wie der Kommunismus.

Theo­re­tisch funk­tio­niert es gut: Gar nichts ist ver­kehrt an der Schwar­te des Büro­men­schen, am fleisch­ge­wor­de­nen Ret­tungs­ring der Mehr­fach­ma­ma. An die­ser Nar­be, die von einem kras­sen Erleb­nis zeugt, an jenen Fal­ten, die auf­ge­leb­tes Leben« hin­wei­sen. Nur: »Es gibt kein Men­schen­recht auf Schön­heit.« (Fré­dé­ric Schwilden)
Wenn Loo­kis­mus also einen Ast der alt­be­kann­ten Dis­kri­mi­nie­rungs­for­men Sexismus/Rassismus dar­stellt, dann hat sich die­ser bereits mehr­fach ver­zweigt. Neben dem Ageism fin­den wir noch den Ableis­mus oder auch den Height­is­mus. Müs­sen wir das ernst neh­men? Die zetern­de Rede gegen Dis­kri­mi­nie­rung gemäß Befä­hi­gung und Kör­per­grö­ße? Sind das nicht bedau­erns­wer­te Nischen­phä­no­me­ne, kaum der Beschäf­ti­gung wert? Sagen wir so: Wer hät­te noch vor 20 Jah­ren für mög­lich gehal­ten, daß die Schreib- und Sprech­wei­se von Student*innen sich uni­ver­si­tär durch­set­zen wür­de? Daß es im Ernst kar­rie­re­schä­di­gen­de Minus­punk­te für den/die gibt, der /die noch dem ollen gene­ri­schen Mas­ku­li­num anhängt?

Es gibt ana­log zu den noto­ri­schen steu­er­fi­nan­zier­ten Gen­der stu­dies mitt­ler­wei­le Disa­bi­li­ty stu­dies, die streng über ‑isti­sche For­mu­lie­run­gen wachen. Auf­merk­sa­me Zeit­ge­nos­sen wis­sen, daß die Rede von »Blin­den« oder von »Pro­the­sen­trä­gern« als dis­kri­mi­nie­rend gilt: Jeweils, so heißt es, ver­schwin­de in die­ser Sprach­form der (als Indi­vi­du­um wert­vol­le) Mensch hin­ter sei­ner Behin­de­rung. Des­halb müs­se von »Per­so­nen mit …« die Rede sein.
Mein Sohn hat einen Spruch auf­ge­schnappt, der lau­tet: »Don’t judge a book by its cover! / Beur­tei­le ein Buch nicht nach sei­nem Umschlag!« Der Jun­ge ist zwölf, ihn hat die­ser Spruch beein­druckt. Als lei­den­schaft­li­cher Buch­mensch war es rela­tiv leicht für mich, das zu ent­kräf­ten. Ein biß­chen ist es mit Büchern wie mit Men­schen: Der ers­te Ein­druck ent­schei­det. Natür­lich: mit Abstrichen.

Ein unschön gesetz­tes Buch mit häß­li­chem Ein­band kann auch mal wert­vol­len Stoff ber­gen. Ist so! Ist aber sel­ten. Mich erin­ner­te die­se Weis­heit an gewis­se Sprü­che, die in mei­ner Jugend kur­sier­ten und in Poe­sie­al­ben ihren Nie­der­schlag fan­den: Auf die inne­ren Wer­te kommt es an! Befragt: Juli­an, 17 Jah­re, 184 cm, 77 kg, extrem attrak­tiv, Bra­vo Girl 1988: »Bei einem Mäd­chen zählt für mich mehr der Cha­rak­ter als das Aus­se­hen.« Bal­sam für unse­re See­len, die ja völ­lig okay waren, wäh­rend­des­sen das offen­kun­dig bewert­ba­re Äuße­re immer hin­ter­her­hink­te: Pickel­chen, blö­de Augen­brau­en etc.
Am Ende beka­men und bekom­men aber die hüb­schen Typen die ähn­lich hüb­schen Mädels. Der Maß­stab der Attrak­ti­on wur­de dabei nicht inner­lich ange­legt, son­dern nach Äußer­lich­kei­ten bemes­sen. Oder? Oder ging das Hand in Hand? Hüb­sche Scha­le und ein groß­ar­ti­ger Kern? Über­haupt, was heißt schon »Kern«?
Die modi­sche Rede geht von der »sekun­dä­ren Devi­anz«. Die­ses schon jahr­zehn­te­al­te sozio­lo­gi­sche Kon­zept – eigent­lich auf delin­quen­te Per­so­nen ange­wen­det – geht ver­ein­facht von fol­gen­dem Gedan­ken­gang aus: Jemand wer­de (anhand des Offen­sicht­li­chen) beur­teilt und ein­ge­ord­net, »gela­belt«. Sol­che Eti­ket­tie­rung wir­ke sich auf das Selbst­bild der jewei­li­gen Per­son aus. Die Ein­ord­nung, und sei sie unge­recht, wird zur selbst­er­fül­len­den Pro­phe­zei­ung. Das heißt, aus gesell­schaft­li­chen Zuschrei­bun­gen (»klei­ne Män­ner nei­gen zu Pro­fil­neu­ro­sen«) und Stig­ma­ti­sie­run­gen (»Dicke sind faul«) ent­wi­cke­le sich eine Art Teu­fels­kreis, inner­halb des­sen nega­ti­ve Zuord­nun­gen ver­stärkt wer­den. Dem­ge­mäß gäbe es kein Ent­kom­men aus der eige­nen Haut.
Ver­hal­tens­for­scher und Bio­lo­gen haben uns lang und breit erklärt, wie der Hase läuft: Der Affe mit dem brei­te­ren Kreuz gewähr­leis­tet Schutz und Ver­sor­gung. Des­halb hat sein küm­mer­li­cher Art­ge­nos­se das Nach­se­hen in punc­to Erb­gut­ver­brei­tung. Auch beim Men­schen gibt es das, und zwar die Mensch­heits­heits­ge­schich­te ent­lang: Domi­nanz, Eben­maß, Ide­al­grö­ßen. Das wirkt sich kon­stant auf die öko­no­mi­schen Meß­grö­ßen aus. Es gibt eine gewis­se Norm, die min­des­tens Jahr­tau­sen­de überdauerte.

Wir müs­sen das nicht toll­fin­den. Es bedarf unse­rer Bewer­tung nicht. Modern gesagt: Isso.
Was unse­re tie­ri­schen Gefähr­ten und früh­zeit­li­chen Ahnen aller­dings nicht kann­ten und ken­nen: a) Mode, b) Frei­zeit, c) Kon­sum­nut­zen. Alle drei Fak­to­ren unter­mi­nie­ren das natür­li­che Bewer­tungs­ver­hal­ten hin­sicht­lich des Aus­se­hens. Im Rei­che unse­rer ani­ma­li­schen und alt­vor­de­ren Anver­wand­ten sind sol­che Fäl­le nicht bekannt, bei­spiels­wei­se die Attrak­ti­vi­tät des extrem dün­nen Weib­chens, der Lücke zwi­schen den Schnei­de­zäh­nen, des ner­vös-andro­gy­nen Männergesichts.
Fast sämt­li­che Wer­be­kam­pa­gnen zeit­ge­nös­si­scher Mode­mar­ken prä­gen die­sen nach anthro­po­lo­gisch beweis­ba­ren Aus­wahl­kri­te­ri­en abwei­chen­den Typus: den metro­se­xu­ell-zar­ten Mann und die sicht­bar »gebär­un­freu­di­ge« Frau. Als Phä­no­ty­pen sind die­se Figu­ren aus loo­kis­mus- skep­ti­scher Sicht aller­dings genau­so untrag­bar wie ihr exak­tes Gegen­teil: der Kerl mit den Okto­ber­fest­wa­den und das Weib mit dem berüch­tig­ten gebär­freu­di­gen Becken.
Was täte man also, um die­sen fie­sen Loo­kis­mus zu ban­nen? Orches­ter set­zen ver­mehrt auf Blind audi­tio­ning (hin­term Vor­hang spielt einer vor; kei­ner weiß, wie er aus­sieht), gro­ße Unter­neh­men haben sich in anony­mi­sier­ten, paß­bild­frei­en Bewer­bungs­ver­fah­ren ver­sucht. Unterm Strich wur­den auch ohne Anse­hen die­je­ni­gen genom­men, vul­go bevor­zugt, die man auch bei gesichts­na­her Prä­sen­ta­ti­on ange­nom­men hätte.

Der Publi­zist Lukas Mihr hat vor Jah­ren ernst­haft über­legt, wie man Per­so­nen gerecht wer­den könn­te, die auf­grund ewi­ger oder zeit­ge­nös­si­scher Attrak­ti­vi­täts­nor­men dis­kri­mi­niert wer­den oder sich solch unaus­ge­spro­che­nem Dik­tum unter­wor­fen füh­len: »Eine Loo­kis­mus-neu­tra­le Poli­tik könn­te also häss­li­che Men­schen bes­ser ent­loh­nen oder ihnen in einem Quo­ten­mo­dell eine bestimm­te Zahl an Füh­rungs­po­si­tio­nen zuge­ste­hen. Doch eine sol­che Maß­nah­me wäre pauschal.

Ver­dient der Nied­rig­löh­ner wegen sei­nes Aus­se­hens oder sei­ner man­geln­den Qua­li­fi­ka­ti­on wenig?« Und, möch­te man ergän­zen, was wäre, wenn der­art gela­belt wür­de? Wer könn­te eine Häß­lich­keits­norm fest­set­zen und auf­grund wel­cher Kri­te­ri­en? Wie man sieht (herr­je: Es gilt doch, die Augen zu schlie­ßen!), ist die Sache hoch­kom­plex. Kennt man die drei Affen, gern als modi­scher Hals­ket­ten­an­hän­ger oder Hoo­die-Emblem getra­gen? Der eine ver­schließt mit den Hän­den sei­ne Augen, der zwei­te den Mund, der drit­te die Ohren. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Weit­hin unbe­kannt ist der vier­te Affe, aus des­sen Anus es drängt. Ver­daut wird immer, und hin und wie­der muß es raus. Was? Etwas Ismusförmiges.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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