Die Suche nach einem besseren Leben ist ein legitimes Motiv. Wir alle sind auf dieser Suche. Kritikern der bundesdeutschen Politik in der Migrationskrise wird denn auch genau dieses Argument entgegengehalten, wenn es darum geht, für Wirtschaftsflüchtlinge um Verständnis zu werben. Aus der Nachvollziehbarkeit des Ansinnens, die eigene wirtschaftliche Lage und die der Familie zu verbessern, ergeben sich jedoch keine Hilfspflichten.
Hilfsbedürftige und Wirtschaftsflüchtlinge
In der Tat: Die Lebenssituationen in den Herkunftsländern sind, um das Mindeste zu sagen, schwierig und zum Teil katastrophal. Trotzdem hat ein großer Teil derer, die nach Europa strömen, keinen rechtlichen Schutzanspruch. Wir bezeichnen sie als »Wirtschaftsflüchtlinge«. Wer nach einer beschwerlichen Odyssee die Grenzen Europas überschreitet oder tausende Euro für seine illegale Schleusung ausgeben konnte, gehört in der Regel nicht zu den wirklich Hilfsbedürftigen. Hilfsbedürftig ist nicht jeder, dem es schlechter geht als uns. Auch in den sogenannten reichen Gesellschaften gibt es beträchtliche Unterschiede im Lebensstandard, ohne daß daraus Ansprüche für die Schlechtergestellten erwüchsen. Hilfsbedürftig ist, wer in einem existenziell relevanten Sinne Not leidet, wer ohne fremde Hilfe nicht mehr weiterleben kann. Menschen, die nicht genug zu essen haben, die ihr Dach über dem Kopf oder gar ihr Land verloren haben, leiden existentielle Not. Ihnen zu helfen ist moralische Pflicht. Es besteht aber keine allgemein anerkannte Pflicht, Wirtschaftsflüchtlingen zu helfen.
Grenzen der Hilfsbereitschaft
Hilfsmöglichkeiten sind limitiert. Sie sind objektiv limitiert, denn niemand kann mehr verschenken, als er selbst hat; niemand kann mehr tun, als er selbst zu leisten vermag. Hilfsmöglichkeiten sind ebenso subjektiv limitiert. Der Einzelne dosiert seine Hilfe nach eigenem Gutdünken. Er gibt, was er geben will – was er geben zu können glaubt. Diese subjektive Grenzziehung läßt sich beeinflussen durch moralische Appelle sowie durch Hinweise auf durch Hilfe vermeidbare negative Folgen für den zur Hilfe Befähigten selbst. Eine äußerste Grenze jeder denkbaren Hilfsforderung ist die universale Gleichheit der Lebenslagen aller Menschen auf der Welt.
Allerdings dürften sich die subjektiven Grenzen nur weniger Menschen bis zu dieser moralisch universalistischen Grenze verschieben lassen. Dieser Einstellung liegen vermutlich sowohl genetisch fixierte Dispositionen als auch kulturelle Prägungen zugrunde.
Politik hat diese faktischen, historisch-konkreten Grenzen des altruistischen Verhaltens zur Kenntnis zu nehmen, denn sie begründen Grenzen des Zumutbaren. Wird eine Bevölkerung mit den ihnen von der Politik auferlegten Hilfsleistungen überfordert, droht entweder die Abwahl der Regierenden oder die Mißachtung der Institutionen und des Rechts, schlimmstenfalls der Zerfall des Gemeinwesens. Dies sind politisch zu akzeptierende Limitationen der menschlichen Hilfsbereitschaft.
Es gehört zur Staatskunst, diese Grenzen nicht zu überdehnen. In einer Situation wie der im Spätsommer und Herbst 2015, in der Hunderttausende nach Europa drängten und Millionen vor den Toren standen, wäre die einfache Erkenntnis vonnöten gewesen, daß es keine Lösung dieses Problems ohne Sicherung der Grenzen, also letztlich ohne Abschottung, geben kann. Abschottung bedeutet nicht, daß niemand auf- genommen wird, sondern daß die Entscheidung darüber, wer aufgenommen wird, der aufnehmende Staat trifft.
Aus der prinzipiellen Beschränktheit möglicher Hilfe ergibt sich für den Hilfsbereiten der Grundsatz, möglichst effektiv und gerecht zu helfen – seine Hilfsmöglichkeiten so einzusetzen, daß den Bedürftigsten und möglichst vielen von ihnen geholfen wird.
Mißbrauch der Hilfsbereitschaft
Weil sowohl das Vermögen als auch die Bereitschaft, Hilfe zu leisten, begrenzt sind, kann Hilfsbereitschaft auch mißbraucht werden. Während die deutsche Kanzlerin für Selfies mit Migranten posierte und die führenden Repräsentanten der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland Migranten auf dem Münchener Hauptbahnhof per Handschlag begrüßten und auf diese Weise ihrerseits dazu beitrugen, eine unbeschränkte Aufnahmewilligkeit zu suggerieren, war man sich in der frühchristlichen Kirche der Mißbrauchsgefahr der christlichen Nächstenliebe sehr wohl bewußt.
Weder galt die Gutmütigkeit des Spenders auszunutzen als verständlich noch gar als hinzunehmen. Wer ohne in Not zu sein genommen hat, so hieß es in einer Kirchenordnung an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert, sollte Rechenschaft ablegen, warum er genommen hat und wozu. Der Mißbrauch sollte aufgeklärt und der durch die ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Hilfe entstandene Schaden beglichen werden.
Nun mögen die Formen einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme von Hilfe ganz unterschiedlich und demzufolge auch verschieden zu beurteilen sein. Die Schöpfer dieser Kirchenordnung waren sich jedoch der Notwendigkeit bewußt, die gesellschaftlich anerkannte moralische Norm der Hilfspflicht ihrem Geist entsprechend unter Berücksichtigung der konkreten Situation anzuwenden. Dabei ließen sie keinen Zweifel, daß sie es als inakzeptabel betrachten, die Hilfsbereitschaft eines Helfers oder seine Gastfreundschaft auszunutzen. Ein Wirtschaftsflüchtling, der sich als akut bedrohter Hilfsbedürftiger ausgibt und damit seinerseits dafür sorgt, daß Hilfe nicht effizient und gerecht verteilt werden kann und die Leistungsfähigkeit des Helfers überstrapaziert wird, hat keinen Anspruch auf unsere Hilfe; er gehört abgeschoben.
Die Verantwortung des Hilfsbereiten
Ermahnt wurde jedoch nicht nur der unberechtigt Nehmende, sondern auch der Hilfsbereite, nicht ungeprüft zu geben. Allerdings sind die Pflichten zwischen Nehmendem und Gebendem ungleich verteilt. Die Pflicht des Unbedürftigen, Hilfeersuche zu unterlassen, wiegt im allgemeinen schwerer als die Pflicht des Helfenden, seine grundsätzlich limitierte Hilfe möglichst effektiv und gerecht zur Geltung zu bringen und eine Selbstüberforderung (und das heißt im vorliegenden Fall: eine subjektive Überforderung des eigenen Volkes) zu vermeiden. Denn es ist besser, so lehrte schon Gregor von Nazianz, irrtümlich einem Unwürdigen zu geben, als in der Furcht, einem Unwürdigen geben zu können, einem Würdigen nicht zu geben.
Insofern trägt der Hilfe ersuchende Unbedürftige eine größere Verantwortung für die Fehlallokation von Hilfe als der Hilfeleistende, der in Ermangelung ausreichender Informationen auch Unbedürftigen hilft. Trotzdem ist den Wirtschaftsflüchtlingen selbst der geringste Vorwurf zu machen: Sie reagieren auf Zeichen und ergreifen Gelegenheiten. Ich plädiere also nicht dafür, dieses – uns allen vertraute – Verhalten moralisch zu inkriminieren.
Die Flüchtlingsbewegungen im Spätsommer und Herbst 2015 sind durch ein überzogenes und kompliziertes, den Problemlagen nicht angemessenes europäisches Asylrecht überhaupt möglich geworden, und sie wurden zusätzlich durch das Handeln von Politikern maßgeblich forciert. Die von führenden Politikern mitgetragene »Willkommenskultur« hat Hilfe für Migranten pauschal als eine humanitäre Verpflichtung erscheinen lassen. Darüber hinaus hat eine politisch-mediale Elite nahezu jede skeptische Artikulation, sei es hinsichtlich von Zumutbarkeitsgrenzen, sei es hinsichtlich der zu erwartenden gesellschaftlichen Folgen einer ungesteuerten Zuwanderung, moralisch zu desavouieren versucht.
Diese Elite ist ihrer Verantwortung nicht nur nicht gerecht geworden; sie hat die Massenflucht intensiviert, das Geschäft der Schleuser indirekt toleriert und eine effektive wie gerechte Verteilung der Hilfe für wirklich Bedürftige konterkariert.
Einerseits hat die Aussicht, das eigene Leben in einer kaum vorstellbaren Weise schlagartig verbessern zu können, die Risikobereitschaft potentieller Flüchtlinge gesteigert. Tausende von ihnen haben dies mit ihrem Leben bezahlt. Eine klügere Politik hätte diese Folgen nicht eintreten lassen. Andererseits hat die staatliche Unterstützung des Asylmißbrauchs dafür gesorgt, daß die grundsätzlich limitierten Hilfsmöglichkeiten auch für Hilfsunbedürftige aufgewendet und damit Hilfsbedürftigen vorenthalten werden.
Wenn nicht alle, die ihr Glück in Europa suchen wollten, nach Europa hätten kommen dürfen, wäre mit der jetzt durch die »Willkommenskultur« gebundenen Hilfe einer wesentlich größeren Zahl von Bedürftigen vor Ort zu helfen gewesen. Denn, vergessen wir nicht, Hilfeleistung in den Herkunftsländern ist wesentlich günstiger. Da Fähigkeit und Bereitschaft zu helfen grundsätzlich limitiert sind, erweist sich Solidarität mit Unbedürftigen letztlich immer als dysfunktional.
Ein eklatantes Versagen
Eine unkontrollierte andauernde Invasion begründet einen Staatsnotstand. Daß zumindest einige Staaten Europas in einen solchen hineinzuschlittern drohten, hätte erkannt und kommuniziert werden müssen. Denn zur politischen Klugheit gehört es, Gefahren frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Dies wäre im Falle der Flüchtlings- und Migrationskrise auch möglich gewesen. Stattdessen nahm man die Migrationsbewegung als eine Art Naturereignis hin, heizte sie zusätzlich an und gab der humanitären Erpressung über Monate hinweg nach.
Damit hat die europäische Politik noch nicht einmal ihre Möglichkeiten gegenüber den wirklich Bedürftigen ausgeschöpft. Zudem hat insbesondere die deutsche Regierung die Interessen des eigenen Volkes mißachtet und Destabilisierungstendenzen im eigenen Land in Kauf genommen.
Unkalkulierbar sind aber vor allem die Langzeitwirkungen. Die Öffnung der Grenze aus humanitären Erwägungen hat die Tendenz zu einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft beschleunigt. Der demokratische Verfassungsstaat mit seiner liberalen Grundwerteordnung bedarf jedoch für sein Funktionieren einer Bevölkerung, die hinsichtlich Sprache, Kultur, Werteverständnis und Lebensweise eine hinreichende Homogenität aufweist. Das erforderliche Maß dieser Homogenität ist einerseits schwer bestimmbar.
Andererseits ist aber auch klar, daß gerade der liberale Rechtsstaat diese Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz selbst nicht schaffen kann. Er kann zwar Rechtsgehorsam fordern, aber weder eine demokratische Gesinnung einklagen noch eine Leitkultur vorschreiben, geschweige denn ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl verordnen. Wo aber Parallelgesellschaften entstehen, löst sich das Volk auf, und der Boden, auf dem zusammenlebende Menschen ihre unterschiedlichen Interessen wechselseitig als berechtigte Interessen anerkennen, geht tendenziell verloren.
Eine Politik, die die Notwendigkeit der Bewahrung dieser Voraussetzungen nicht erkennt, sich dafür unzuständig erklärt oder diese Voraussetzungen gar willentlich zerstört, ist nicht verantwortbar. Gerade der liberale Staat ist darauf angewiesen, eine hinreichende kulturelle Homogenität seiner Bevölkerung zu schützen.