Seit 2007 begehen der staatsnahe Kirchenbund EKD und in der Folge auch die Bundesrepublik mit ungewöhnlichem Aufwand das sogenannte Reformationsjubiläum. Dabei handelt es sich, genauer gesagt, um die 500. Wiederkehr des Tages, an dem der Augustinereremit und Wittenberger Theologieprofessor Martin Luder seine »95 Thesen gegen den Ablaß« an den für die Ablässe zuständigen Erzbischof von Magdeburg und Mainz schickte. Hernach schrieb er sich »Luther« in Anlehnung an Eleutheria, »Freiheit«.
Dieser 31. Oktober 1517 gilt seit dem 17.Jahrhundert unter Lutheranern als Geburtsstunde ihrer Konfession. Die heutige EKD, die sonst erhebliche Profilneurosen in bezug auf ihre Konfessionsvergangenheit hat, steht mit ihren Feierlichkeiten in bemerkenswerter Kontinuität zu ihren Vorgängern aus früheren Jahrhunderten. Neu ist, daß im 21. Jahrhundert die Unterschiede zwischen den evangelischen Glaubensgruppen so klein geworden (und verbleibende Differenzen zudem im öffentlichen Bewußtsein dermaßen nivelliert) sind, daß das an sich rein lutherische Jubiläum als »Reformationsjubiläum« gelten darf.
Manche dem Experten längst bekannte Information dürfte im Gefolge dessen nun Eingang ins Allgemeinwissen finden: daß Luther weder die erste deutsche Bibelübersetzung erstellte noch diese Übersetzung die erste war, die weite Verbreitung fand; daß der Thesenanschlag vielleicht und der berühmte Satz »Hier stehe ich …« ziemlich sicher Legenden sind usw. Andere Fragen dagegen dominieren die Fachgespräche: Brachte die Reformation die Moderne zum Durchbruch, oder bedingte andersherum der einsetzende Modernisierungsprozeß die Reformation?
War die Reformation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Renaissance- Phänomen, oder verwies sie bereits auf die Neuzeit? War Luther ein später mittelalterlicher Mystiker oder seiner Zeit weit voraus?
Solche und weitere Forschungsperspektiven zu entwickeln und akademische Thesen zu popularisieren, dürften die verbreitetsten Motive für Autoren gewesen sein, eine Flut von Neuerscheinungen rund um das Thema Reformation zu liefern. Eine kleine Auswahl sei hier vorgestellt.
1.) Es ist kein leichtes Unterfangen, die Reformation in den Gesamtzusammenhang
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der religiösen, weltanschaulichen und politisch- gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zwischen Mittelalter und Neuzeit zu stellen. Nicht erschöpfend, aber doch detailreich und interdisziplinär ambitioniert gelingt das einem von Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats zum Jubiläum verfaßten Band (Udo di Fabio/Johannes Schilling (Hrsg.): Die Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat, C. H. Beck 2017. 206 S., 16.95 €).
Acht Autoren haben vom umfangreichen Aufsatz bis zur kurzen Miszelle Texte beigetragen. Die kürzesten Beiträge über die Bedeutung von Wittenberg und über Luthers Bibelübersetzung bleiben oberflächlich, man überblättert sie mit Achselzucken. Schwer zugänglich durch seine komplexe Sprache mit Hang zum verquasten Soziologendeutsch, aber dennoch lesenswert ist ein Aufsatz über »Protestantismus und Moderne«, in dem der Autor Epochenphänomene wie die Hinneigung zur Individualität als Bedingungen der Reformation präsentiert, welche aber zugleich diesen Phänomenen weiteren Existenzraum gab.
Die weltweite (und vergleichsweise schnelle) Ausbreitung des Protestantismus als Beitrag zur Frühglobalisierung behandelt ein anderer Aufsatz: Durch Mission einerseits, durch Kolonisierung, Flucht und Auswanderung andererseits verbreitete sich evangelisches Gedankengut auf alle Kontinente. Mit »Die Dialektik der Neuzeit im Geist der Reformation« schließlich arbeitet der Herausgeber di Fabio schön heraus, wie sehr die Reformation Teil des neuzeitlichen Programms ist, sich durch (selbstgewählte) neue Bindungen aus den überkommenen zu lösen. Das dadurch entstehende Potential für neue Probleme verschweigt der Autor nicht.
Der gewichtigste Grund, zu diesem Buch zu greifen, ist aber der erste und längste Beitrag: Thomas Kaufmann bietet auf gut 50 Seiten einen Gesamtüberblick über den geschichtlichen Ereigniszusammenhang, den wir »Reformation« nennen. Sicherlich könnte diese Einführung noch konzentrierter sein, dafür liest sie sich gut und kurzweilig. Eine ideale historische Einführung für sehr eilige Leser!
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Einen noch geringeren Umfang, auch ei- nen erheblich geringeren Anspruch hat ein Einführungsband aus der Feder des (man erschrickt, aber hier zu Unrecht) Kulturbeauftragten der EKD (Johann Hinrich Claussen: Die 95 wichtigsten Fragen: Reformation, C. H. Beck 2016. 175 S., 10.95 €). In 95 teils banalen, teils überraschenden Fragen entfaltet Claussen ein religionsgeschichtliches Panorama, aus dem man angesichts des Umfangs viel lernen kann.
Das Bändchen ist für thematische Einsteiger geschrieben, eignet sich aber auch dem Kenner als Repetitorium. Die Frageform bietet Raum für historische Details (»Warum wäre Polen beinahe evangelisch geworden?«), kleine Provokationen (»Haben die Türken Luther geholfen?«) und komplexe Erörterungen (»Was ist das Prinzip des Protestantismus?«) ebenso wie für viel zu knappe Abfertigungen (»Wie deutsch war Luther?«). Nicht alle dieser Fragen führen wirklich weiter, manche sollen lediglich einen Aufhänger für die Erzählung einer reformations- historischen Episode bieten (»War Calvin tolerant?«).
Erfreulich ist, daß die Reformation in diesem Buch weit mehr ist als Luther; Claussen macht Zwingli und Calvin ebenso zum Thema seiner Fragen wie die radikalen »Schwärmer« und auch die »katholische Reformation«. Für thematisch wenig Vorgebildete ist dies wohl das beste Buch aus der hier vorgestellten Auswahl; es wird von verschiedenen Landeszentralen für politische Bildung in einer Sonderauflage gegen Verwaltungskostenpauschale abgegeben.
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Eine große, auf ein breites Publikum zielende Reformationsgeschichte stammt von dem schon erwähnten umtriebigen lutherischen Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann, der im Umfeld des Jubiläums ein halbes Dutzend Bücher zum Thema auf den Markt geworfen hat (Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, C. H. Beck 2016. 508 S., 26.95 €).
Sein Buch, in schöner Typographie mit zahllosen Abbildungen und einem fast 80seitigen wissenschaftlichen Apparat ausgestattet, ist ein Zwitter aus einer wissenschaftlichen Darstellung und einem Lese- und Geschenkbuch für viele. Dem Fachmann wird es eher keine neuen Erkenntnisse schenken, für das große Publikum ist es wohl zu anspruchsvoll. Von Vorurteilen ist Kaufmann zwar nicht frei, aber angesichts der Fülle der historischen, theologischen, politisch-sozialen und biographischen Aspekte, die er abhandelt, ist das Buch dennoch lesenswert.
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Das genaue Gegenstück zu den dicken Jubiläumsschmökern, auch die Gegenposition jeder auf Luther fixierten Darstellung liefert die »realpolitisch« betrachtende Abhandlung einer katholischen Kirchenhistorikerin (Marianne Sammer: Mönchsgezänk. Refor- mation vor Luther?, Karolinger 2016. 152 S., 19.90 €). Die Frühreformationen im allgemeinen und der lutherische Aufbruch im besonderen sind bei ihr fest eingebunden in machtpolitische Zusammenhänge.
Nicht Luther, so legt sie nahe, war der Reformator, sondern die Fürsten, die sich vom Übertritt ins Lager der Romgegner einen Machtgewinn versprachen – und ihn über das Ius reformandi auch bekamen. Der Landesfürst (auch der katholisch gebliebene!) wurde zum Wächter der Glaubenstreue seiner Untertanen, grenzte sich vom konkurrierenden Nachbarn ab und gewann generell eigenes Profil. Man hat Sammers Darstellung als Teil einer Argumentationstradition zu lesen, die nahelegt, daß eine Reformation auch ohne Luther stattgefunden hätte.
Sammer bettet ihre These, die freilich nur eine Perspektivenverschiebung ist, ein in eine ungemein gelehrte Darstellung ausufernder kirchlicher Bürokratie, zeittypischer Machtkonstellationen und der komplexen staatsrechtlichen Verhältnisse des Alten Reichs. Bei der Literaturauswahl verläßt sie sich nicht auf die großen Handbücher, sondern zieht direkt das (auch ältere) Spezialschrifttum zu Rate. Ihr teils ausgesprochen schwer verdauliches kirchen(verwaltungs)historisches Material breitet sie mit einer Leichtigkeit aus, die das Büchlein trotz nicht geringen Anspruchs in einem Zug durchlesen läßt. Sammers Buch über die Reformation, die Luther gewissermaßen auf dem Serviertablett als nur noch theologisch zu untermauerndes Faktum vor die Füße fiel, ist eine sehr beachtliche Leistung.
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Eine weitere katholische, aber dezidiert ökumenische Stellungnahme zum Luther- Jubiläum entstand auf dem Schreibtisch eines emeritierten Dogmatiklehrers (Peter Neuner: Martin Luthers Reformation. Eine katholische Würdigung, Herder 2017. 343 S., 24.99 €).
Er sucht – ausgehend von Luther, dem Unversöhnlichen – nach Zugängen zum auf die Einheit der Christenheit weisenden Gespräch. Wenn es mit Luther im Gepäck gelingen kann, gelingt es mit jedem. Neuner sieht nicht die Kirchenpolitik vergangener oder heutiger Zeiten, nicht das Abendmahlverständnis und auch nicht das Papsttum als entscheidenden Ansatzpunkt für ein ökumenischer Arbeit dienendes Reformationsverständnis, sondern Luthers Rechtfertigungslehre.
Zur Erläuterung des Bewußtseins, nur durch und aus Gott gerechtfertigt zu sein, findet der Autor glänzende Formulierungen (S. 120f.). Ausführlich stellt Neuner die katholische Auseinandersetzung mit Luthers Theologie vor, die sich seit der Aufklärung keineswegs mehr auf blanke Ablehnung reduzieren läßt und im Fortgang der Jahrhunderte immer einsichtiger argumentierte, sowie die Entwicklung der Unterschiede im Verständnis von Sakramenten und Lehramt. Keine leichte, aber für etwas Vorgebildete eine fruchtbringende Lektüre.
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Mit den vorgenannten, aus langem Erfahrungsschatz kluge Urteile abgewogen präsentierenden Bänden hat das nächste Werk wenig zu tun (Jörg Lauster: Der ewige Protest. Reformation als Prinzip, Claudius 2017. 142 S., 12 €). Der kleinformatige Band, etwa so groß wie ein kaplaken-Bändchen, versteht sich nicht als gelehrte Abhandlung, sondern als Streit- oder auch Bekenntnisschrift. Lauster als liberaler Theologe will an den Neu- und Kulturprotestantismus erinnern und seine jahrhundertealte Tradition wiederbeleben.
Theologen wie Spalding, Troeltsch, Tillich und vor allem Richard Rothe sind seine Gewährsmänner. Reformation »als Prinzip« ist denn auch kein historisches Ereignis, sondern ein Zustand, der, seit die Christenheit einmal in ihn eingetreten ist, keinen Endpunkt kennt. Lauster ist nicht auf den Mund gefallen und kritisiert in erfreulicher und teils amüsanter Deutlichkeit manche Fehlentwicklung insbesondere des narzißtischen deutschen (amtlichen) Protestantismus: »Nicht einmal in Kuba, China oder Nordkorea käme man im 21. Jahrhundert auf die Idee, die eigene Gründungslegende zehn Jahre zu feiern.«
Seine gewinnende Sprache kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sich gelegentlich zu sehr auf die Wirkung dieser Worte ver- und das Weiterdenken unterläßt. Dorthin, wo es für politisch-weltzugewandtes evangelisches Denken tatsächlich unangenehm werden könnte, folgt er seiner eigenen Problemerfassungskompetenz leider nicht. So hinterläßt der im übrigen zu gedrängt geschriebene Essay einen zwiespältigen Eindruck vergebener Möglichkeiten.
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Ein offensiv Luther angreifendes und die Vorzüge seiner Reformation bestreitendes Manifest darf in der Bücherschau nicht fehlen (Michael Lösch: Wäre Luther nicht gewesen. Das Verhängnis der Reformation. Ein Thesenbuch, dtv 2017. 239 S., 14.90 €).
Mittels der uchronischen Methode versucht der siebenbürgische Pfarrerssohn Lösch zu begründen, warum Luther und seine Anhänger die Neuzeit nicht gefördert, sondern behindert hätten. Ohne Luthers starken Charakter hätte die reformatorische Aufbruchsbewegung sich inner- wie außerhalb der römischen Kirche auf mehrere Schultern verteilt und das Papsttum so zu einer langsamen Anpassung gebracht.
Der anglikanischen Kirche ähnlich wären vielleicht der römischen Kirche dogmatisch und liturgisch nahestehende Nationalkirchen entstanden, die sich ohne die dichotome Lagerbildung wieder hätten vereinigen können. Das schwer verständlich gegliederte Buch ohne jeglichen roten Faden ist voller Wiederholungen und Widersprüche, schon das zusammenfassende Vorwort ist eine Mischung aus mutigen Fragen und blank unsinnigen Schlußfolgerungen und Wertungen.
Luther gilt Lösch als mittelalterlicher Mensch, der die Zeichen »der Zeit« nicht habe sehen wollen oder können – als ob die Renaissance Anfang des 16. Jahrhunderts vom Dach einer jeden sächsischen Bauernkate geschrien worden und nicht etwa ein schwer einschätzbares, vielschichtiges Elitenphänomen geblieben wäre.
Das ganze Buch vermittelt ein tiefgehendes Unverständnis gegenüber der Lutherzeit und ihren Menschen. Trotz seiner offenkundigen Mängel und seiner Unübersichtlichkeit ist das Buch durchaus kurzweilig, schon weil eine solche Provokationslust und ‑bereitschaft auf dem Sachbuchmarkt selten ist. Konsensuale Jubiläumsfreude? Nicht mit Lösch!
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Der Memoria eines Jahrtausendereignisses wie der Reformation kann sich auch der akademische Kongreßbetrieb nicht entziehen. Ein Tagungsband (Josef Wieland, Gerhard Wegner u. Ramona M. Kordesch (Hrsg.): Luther 2017. Protestantische Ressourcen der nächsten Moderne, Velbrück Wissenschaft 2017. 207 S.,
39.90 €) vereint interdisziplinär Vorträge von Theoretikern und Praktikern über in den Protestantismen angelegte Zukünfte sowie Beeinflussungspotentiale auf Arbeit, (Sozial-)Staat und Wirtschaft. Disparat wie die meisten Tagungsbände ist auch dieser Band keine unterhaltsame Lektüre; zu verdorben ist der Stil der meisten aktiven Hochschulforscher durch betonte Komplexität und gedankliche Einkapselung in thematische Nischen.
Aus dem Band sticht der Beitrag eines Ministerialbeamten hervor, der seine erkenntnisleitende Fragestellung (»Gibt es einen protestantischen Wirtschaftsstil?«) zwar keiner definitiven Antwort zuführt, aber in jeder- mann verständlicher Sprache sozialpolitikhistorische Ausführungen mit lutherischer Theologie verknüpft. Interessant ist auch zu lesen, welche Gedanken sich ein chinesischer calvinistischer Theologe macht, wenn er den unkontrolliert und theologisch unbedarft wachsenden Pfingstlergemeinden gewissermaßen im Laufschritt theologische Streben einziehen will.
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Abschließend sei noch ein Blick auf zwei Werke geworfen, die sich mit dem nationalen und internationalen Kultureinfluß der Reformation befassen. Es ist eine Binsenweisheit, daß die reformationsinduzierten (oder eben: durch sie begleiteten) Wandlungsprozesse gerade in der deutschen Geschichte von nicht zu überschätzender Bedeutung sind. Ein bereits 2015 erschienenes, aber erwähnenswertes Buch will deutlich machen, daß die »reformierte Kultur« Deutschland noch stärker präge, als es heute bewußt sei (Christine Eichel: Deutschland, Lutherland. Warum uns die Reformation bis heute prägt, Blessing 2015. 256 S., 19.99 €).
Die Autorin hat für ihr journalistisch, nicht wissenschaftlich geschriebenes Buch unsere Kultur und die bundesdeutsche Gesellschaft danach durchmustert, was an ihnen heute noch lutherische Prägemerkmale aufweist. Dies ist sehr weit zu verstehen: Von sozialem Engagement der Frau über Kunstliebe bis Sparsamkeit diskutiert sie auch Phänomene, die auf den ersten oder noch den zweiten Blick nichts mit Theologie zu tun haben. Daneben stehen klassischerweise als typisch evangelisch wahrgenommene Eigenschaften wie Fleiß und kollektives Schuldbewußtsein.
Besonders interessant sind Eichels Ausführungen über die politische Demutskultur und über die deutsche Kinderlosigkeit. Nur wer ostentativ bescheiden sei, nicht auftrumpfe und eher als Diener des Staates denn als eigennütziger Individualist wahrgenommen werde, erhalte im politischen Geschäft der Bundesrepublik langfristigen Kredit. Und den Kindermangel erklärt sie mit den zu hohen Ansprüchen, die von Bildungsidealen geprägte potentielle Eltern an ihre eigenen Erziehungsleistungen stellten. Beides begründet sie mit der evangelischen Sittlichkeit bzw. Bildungstradition, die nach und nach auch auf die katholischen Volksteile über- gegriffen hätten und in den religiös entfremdeten Heutigen unerkannt fortwirkten.
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Den Blick über Deutschland hinaus wagt eine Sammlung von Reisereportagen um evangelisches Erbe und Gegenwart in Europa (Thomas Greif: Die Reformation in Europa. Wo die protestantische Idee bis heute fortwirkt. 25 Ortstermine, Claudius 2016. 349S., 22 €).
Die zwischen 2011 und 2016 entstandenen Berichte stellen ungewöhnliche Orte gegenwärtigen Protestantentums oder auch beispielhaft besondere Erinnerungsorte und andere glaubenskulturelle Stätten vor. Von der anglikanischen Pracht der Kathedrale von Canterbury bis zur radikalen Minorisierung ehemals mächtiger kirchlicher Strukturen in Amsterdam, vom letzten Schwarzmeerdeutschen in Odessa bis zur modernen Großstadtmesse in Helsinki führt Greif kreuz und quer durch ein evangelisches Europa, das ausgesprochen »bunt« ist, ohne dafür personelle Anreicherung von außen zu benötigen.
Besonders beeindruckend sind die Erinnerungen an die deutsche und damit evangelische Vergangenheit bis in hinterste Winkel Osteuropas, so in Kesmark (Zips) oder Hermannstadt (mit Gastauftritt von Eginald Schlattner, vgl. Sezession 47). Typisch und unvermeidlich evangelisch ist wohl, daß Worte und Taten der doch so im Glauben freien und gewissenhaften Amtsträger immer auch Ausdruck der politischen Stimmung im Land sind: In Uppsala scheint die Betreuung von afghanischen Einwanderern das wichtigste »spirituelle« Anliegen zu sein (was den Autor sofort zum »Gegen-rechts«-Bekenntnis anspornt), im ungarischen Debrecen dagegen – einem der erstaunlichsten unter den vor- gestellten Orten – wandelt sich der Gottesdienst zur patriotischen Identitätsvergewisserung, was aus christlicher Sicht ebenso befremdlich ist. Das gut geschriebene und sorgfältig recherchierte Lesebuch ist eine wertvolle Ergänzung zu den eher wissenschaftlichen Werken.