“Journalisten lesen nicht, sie suchen Stellen” war einer, für den wir uns entschieden, denn er bringt das Herumstöbern in einem Buch auf der Suche nach skandalösen Sätzen abschätzig auf den Punkt. Auf diese Weise ausschlachtend zu lesen ist kein Lesen, sondern ein Auswerten, also ein unmusischer Vorgang.
Auch Kositza und ich schlachten aus, Kaiser und Lehnert ebenso. Wir durchforsten Bücher, weil wir über sie Artikel schreiben wollen, die unsere Sache voranbringen. Wir blättern, weil wir entscheiden müssen, ob wir unseren Lesern (und das sind auch: unsere Kunden) etwas zur Lektüre empfehlen oder von ihr abraten sollten. Wir suchen nach Stellen, in denen ungerecht oder dumm oder justiziabel über uns geurteilt wird, und die Bücher dieser Kategorie sind die einzigen, die das eintauchende Lesen auch gar nicht verdient haben.
Wir sind zwischen die Mühlsteine aus erweitertem Verlegertum und einer manchmal ratlosen Partei geraten – woher sollen Verhaltenslehren für eine aus den Fugen rutschende Zeit kommen, woher Verteidigungsstrategien gegen Denunziationen und dreiste Behauptungen?
Glaube, Gebet und Kirchgang könnten eine Säule sein, aber nein, Sonntag für Sonntag, zumal in fremden Städten, bange Minuten: welche Lieder, welche Kombo, welcher Tölpel am Altar, welches dümmliche Predigtthema? Statt beschenkt zu werden: Panik davor, daß wieder ein Unberufener den Alltag über die Kirchenschwelle zerrt und vor unseren Augen so etwas wie eine ökumenische Ethik gegen rechts daraus ableitet.
Das eintauchende Lesen: Wann war es mir im ablaufenden Jahr vergönnt? Abgesehen von einigen Antaios-Titeln vier Mal: Im Frühjahr las mir Kositza während einer langen Autofahrt Martin Mosebachs Die 21 vor. Ich sehe in diesem Buch eine “Stiftung”.
Ich studierte Iwan Iljins Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse und erhielt dazu Unterweisungen von einem Abt, der dort, wo er Diener ist, nicht nimmt, sondern schenkt.
Und zu Amor Towles’ Ein Gentleman in Moskau griffen auf meine Empfehlung hin viele unserer Leser. Mir und anderen bescherte der Roman im durchglühten Sommer großartige Lesestunden.
Am vierten Buch sitze ich, sitzen wir noch: Mein Sohn und ich lesen es uns vor, wenn wir abends Zeit haben oder einer von uns beiden eine monotone Tätigkeit verrichten muß. Die Wiederkehr der Wölfe von Hans Bergel ist ein Wälzer, der zweite Teil einer Trilogie und jedenfalls ein “welterschließender Roman” (ein Ausdruck von Armin Mohler).
Während ich meinem vierzehnjährigen Sohn vorlese (oder er mir), findet diese Erschließung, diese Aufschlüsselung der Welt tatsächlich statt. Ein siebenbürgischer Schüler steht im Zentrum der Handlung, Rosenau und Kronstadt am Rande der Karpaten liegen wie unter einem Brennglas. Von einer Fahrradtour am Vorabend des Kriegs bis zur Verschleppung der Volksdeutschen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion spannt Bergel den autobiographischen Erzählbogen.
Wir müssen die Lektüre oft unterbrechen, um im Atlas Ploiesti oder Turnu Severin zu suchen oder anhand einer Kriegsgeschichte des II. Weltkriegs die Truppenbewegungen im Südosten nachzuvollziehen.
In den Lektürestunden und Nebengesprächen ist mir wieder klar geworden: Wir alle können aus dürren Zahlen und Jahresdaten nichts Wesentliches lernen, sondern nur aus Geschichten, Szenen, verknüpfenden Ereignissen und den Schilderungen von Lebenswegen Einzelner und Schicksalen ganzer Dörfer, Städte und Völker.
Die Wiederkehr der Wölfe beschreibt – neben vielen ineinander verwobenen Strängen – die Rekrutierung rumäniendeutscher junger Männer für die Gebirgsdivision “Prinz Eugen” und die vielen Gespräche der Abiturienten mit ihren Vätern und Lehrern über deren Dienst im I. Weltkrieg, über Versailles, den Aufstieg Hitlers, die Unterschiede zwischen Deutschland und dem Nationalsozialismus, zwischen dem recht weit entfernten Deutschen Reich und der siebenbürgischen Geschichte und Mentalität. Nichts ist einhellig, alles ist vielschichtig, schwierig, nicht von nachgereichter Moral versalzen, vieles ist nachvollziehbar, sogar der Wahn.
Daß einer seiner Urgroßväter in Montenegro als Gebirgspionier einem Bataillon der von General Arthur Phleps geführten Division zugeteilt wurde, gegen die Partisanen kämpfen mußte und 1948 aus der Kriegsgefangenschaft abgemagert nach Oberschwaben zurückkehrte, beginnt erst über den Umweg durch die Lektüre des Romans auf meinem Sohn zu lasten als etwas, das ihn hoffentlich im richtigen Moment vom Falschen abhält, sei es von einer fatalen Entscheidung, einem leichtfertigen Urteil oder auch nur von einem dummen Witz. Ich habe ihm bisher nur einen kleinen Teil von dem erzählt, was mein Großvater dort erlebte.
Dieser Groß- und Urgroßvater floh aus der Gefangenschaft nach Norden und durchschwamm in der Nähe des Eisernen Tores die Donau, vielleicht nicht weit von der Stelle entfernt, wo Otto Skorzeny mit seinen Männern die Sabotage der engen Donaupassage verhinderte, um der kriegführenden Wehrmacht den Nachschub an rumänischem Öl zu sichern. In Bergels Roman heißt Skorzeny anders, ist sogar auf zwei Figuren verteilt gezeichnet.
Familiengeschichten, Romankapitel, Gespräche zwischen Vater und Sohn, hier wie dort.
Wenn die Adler kommen und Die Wiederkehr der Wölfe sind in neuen Ausgaben vor zwei Jahren erschienen. Ich hatte den dreiundneunzigjährigen Autor damals besucht und war fast einig über die Buchrechte. Er entschied anders, im letzten Moment.
Nun soll Bergel, vernahm ich, am dritten Teil der Trilogie arbeiten. Er fragte mich damals, welchen Einstieg er in die Schilderungen der für die Siebenbürger katastrophalen Nachkriegsjahre wählen solle. Ich schlug ihm etwas vor und bin gespannt, ob er diesen Faden aufgegriffen haben wird.
Ich empfehle den völlig unterschätzten Bergel unbedingt als Winterlektüre, als Lektürebad, als Vorlesebuch, beide Teile, nacheinander …
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Die Wiederkehr der Wölfe kann man hier bestellen.
quarz
Als eine große Propaganda-Armee zur Durchsetzung rotgrüner Gesellschaftsvisionen erscheint mir das aktuelle Angebot an Kinder- und Jugendliteratur. Deshalb bitte ich um Empfehlungen. Ich möchte Geschichten, in denen das Leuchten jener Tugenden vermittelt wird, die ein achtbares Leben in Zeiten politischer Niedertracht ermöglichen. Auf Zeitgenössisches wage ich gar nicht zu hoffen. Aber vielleicht kennt jemand ältere Literatur, die - auch sprachlich - nicht so muffig daherkommt, dass sie ein junger und als solcher fast zwangsläufig auf eine gewisse Modernität erpichter Leser gelangweilt weglegt.