Es gibt nichts Häßliches an der Geschichte, die ich Ihnen heute erzähle. Sie handelt von Traumtänzern, Märtyrern, und den Grenzen des metaphysischen Amerikas. Fangen wir vielleicht mit letzterem an.
Mitten im Golf von Bengalen vor der Küste Myanmars liegt ein zur Inselgruppe der Andamanen gehörendes Eiland mit dem vielsagenden Namen „North Sentinel Island“ (zu Deutsch: Nördliche Wächterinsel). Ihre Bewohner, die Sentilesen, gelten als eines der letzten nahezu vollständig isoliert lebenden Völker der Erde. Dabei kann davon ausgegangen werden, daß sie sich dieser Isolation und dem großen Gewässer der Fremdheit, das sie von der restlichen Welt trennt, durchaus bewußt sind. Ja, ihr Verhalten legt sogar nahe, daß sie diese Trennung recht gern aufrechterhalten wollen.
Marco Polo schrieb über sie, „Sie sind eine brutale und gewalttätige Generation, die jeden zu essen scheinen, den sie fangen können“ – das könnte man im übertragenen Sinne über die Propheten des universalen westlichen Lifestyles sicherlich auch sagen. Als 2004 ein Rettungshelikopter über der Insel kreiste, um nach Überlebenden der Tsunamikatastrophe zu suchen, beschossen sie den Blechvogel mit Pfeilen.
Pfeil und Bogen – ihre bevorzugten Waffen haben sich wohl seit Jahrzehntausenden nicht geändert, obgleich es heißt, daß sie ihre Pfeilspitzen heute aus angespülten Schiffswrackteilen herstellen würden. Allein, daß diese einfache Bewaffnung gereicht hat, um ihnen bis heute die Objektive, Vermessungsinstrumente, Fragebögen und Netzwerke unserer Welt weitestgehend vom Hals zu halten, grenzt an eines der vielen kleinen Wunder, die nur den im Schatten der Geschichte hausenden Völkern widerfahren.
Wie gesagt: Jahrtausende ging’s gut. Ab und an kamen Fischer der Insel zu nahe, manche entkamen dem Pfeilhagel, andere nicht. Irgendwann erklärte die Indische Regierung die Insel zum Schutzgebiet und zog eine Sperrzone um ihre Gewässer, die inzwischen von der Polizei bewacht wird.
Alles das aber reichte nicht mehr, als sich am anderen Ende der Welt ein Mann namens John Chau entschloß, nach der Wächterinsel aufzubrechen. Sein Ziel: Er wollte die Sentilesen, in deren Heimat er „des Teufels letztes Bollwerk“ vermutete, zum Christentum bekehren. Chau war ein Student und Weltenbummler, aber es scheint, daß er das Vorhaben sehr ernst nahm.
In Seinen Aufzeichnungen schreibt er, daß er sich mehrere Jahre auf die Mission vorbereitet hatte, Mitte November gelangte er schließlich mit der Hilfe bestochener Fischer durch die Sperrzone und an den Strand der Insel. Was dort geschah ist nicht ganz klar, mehrmals kehrte er an Bord des Fischerbootes zurück, da sich die Bekehrung schwieriger als erhofft gestaltete und der Fußball, den er als Geschenk mitgebracht hatte, offenbar nicht allzu gut ankam. Als er etwa seine wasserfeste Bibel gegen einen der Sentilesen erhob, schoß dieser einen Pfeil in ihre Mitte, auf Chaus Kontaktversuche reagierten seine Schäfchen wahlweise aggressiv, oder mit Gelächter.
Am Morgen des 17. November schließlich sahen die Fischer dann, wie die Sentilesen den leblosen Körper des selbsternannten Missionars, der auf der Insel übernachtete hatte, durch den Sand zogen. Danach hörte man nichts mehr von ihm.
Den Fischern hatte Chau in weiser Voraussicht briefartige Notizen hinterlassen, in denen er darum bat, den Sentilesen im Falle seines Ablebens nicht böse zu sein: Vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Sie mögen sich bei alldem fragen: Wer ist jetzt der Held in der Geschichte? Ist es der Missionar, der bereit war, sich in die Reihe der Märtyrer des wahren Glaubens irgendwo zwischen dem heiligen Stephanus und August Engelhardt zu gesellen? Oder sind es die Sentilesen, die wilden Wächter, die ihren hoffnungslosen Posten gegen die Moderne halten?
Um ehrlich zu sein möchte ich mich gar nicht so genau festlegen, deswegen ja: Es gibt nichts Häßliches an alledem; Kraft geben kann uns der Tod von Chau, und das Leben der Sentilesen – andersherum würde es nicht funktionieren.
Solution
Zu diesem Themenkomplex kann ich nur empfehlen, den satirischen Roman von Owen Stanley "The Missionaries" zu lesen. Hier ist alles Wesentliche enthalten und dazu ist es auch ein Lesevergnügen.
Wer lesen möchte, wie man "Eingeborene" - am Beispiel der "Ureinwohner" Neuseelands - in absurder Weise idealisiert, möge Kerry Boltens "The Parihaka-Cult" lesen.
Nicht zu vergessen: T. Lothrop Stoddard: "The French Revolution in San Domingo" und Hesketh Prichards "Where Black Rules White" zu Haitis Geschichte.
Danach ist man von Rousseau und seinen Nachfolgern garantiert geheilt.