Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. Göttingen, 728 S., 44 €
„Ich kann mir eine Zeit denken, in der ich einmal den Gehorsam suche, wie ich den Ungehorsam ausgekostet habe: bis zur Neige“ (20. IX. 1915) „Ich bemerke, daß ich einer leichten Verrücktheit verfalle, die meiner grenzenlosen Liebe zum Anderssein entspringt“ (20.X.1915)
Das zweite „Dadaistische Manifest“ stand uns heuer auf der Frankfurter Buchmesse für einen kurzen Augenblick Pate. Hugo Ball notierte am 6.XIII 1916 zum ersten Manifest: „Hat man je erlebt, daß das erste Manifest einer neugegründeten Sache die Sache selbst vor ihren Anhängern widerrief? Und doch war es so. Wenn die Dinge erschöpft sind, kann man nicht länger dabei verweilen. Das ist mir von Natur so gegeben; alle Gegen-Überlegung würde wenig fruchten“.
Ball war die Verkörperung des Andersseins. Und zwar auch innerhalb seiner selbst: ständig ein Neuer. Begonnen hat er mit einer Nietzsche-Doktorarbeit, wechselte aber ohne akademischen Abschluß zum Theater. Es folgte eine Phase als expressionistischer Bohème-Literat, die mit dem Ersten Weltkrieg ein jähes Ende fand. Ball meldete sich vergeblich als Freiwilliger und fuhr als journalistischer Beobachter an die Front. Ball emigrierte im Frühjahr 1915 nach Zürich, den Krieg verabscheute er nun.
Schmerzhaft mit seiner Zeit überworfen, gründete er ein eigenes Kabarett und erfand den Dadaismus. Als der reüssierte, war Ball schon wieder anderswo: in der Redaktion einer demokratischen Zeitung. Die Revolution von 1918 erwies sich als weltliche Blödigkeit – Ball wandte sich der Religion zu und wurde zum katholischen Asketen. Er hatte den Gehorsam gesucht und am Ende gefunden.
– – –
GUT
Nikolai Ustinov: Die Füchsin und der Wolf, Stuttgart, 32 S., 16 €
Ein Bilderbuch mit einem alten russischen Märchen, das von einer Füchsin handelt, die so widerwärtig durchtrieben ist, daß es einen schüttelt. Das soll „gut“ sein? Das ist gut. Tierfabeln sind Aufbewahrungsschachteln der Moral, denen alles Aufdringlich-Alltägliche fehlt. Vergleicht man diese russische Füchsin, der es im Winterwald gelingt, einem Bauern um die Fische und einen Wolf um die Beute und seinen ganzen Schwanz zu bringen, bis sie ihn am Ende soweit hat, sie freiwillig zu tragen, mit pädagogisch gutgemeinten Langweilern (zum Beispiel mit Anti-Mobbing-Geschichten wie „Uli Unsichtbar“ samt Regelplakat für die Grundschulklasse aus demselben Verlag), wird klar, was an dem von Nikolai Alexandrowitsch Ustinov mit genauem Federstrich illustrierten Märchen gut ist. Schon Kindergartenkinder spüren heraus, was das Falsche, Verdrehte an der Füchsin ist, doch fällt kein Wort zu ihrem Tadel im ganzen Märchen.
Die Auflösung entsteht im Kind selber. Aber nur, wenn man das Geheimnis wahrt: es danach nicht nach seiner Meinung zu fragen! Geht am besten in weihnachtlicher Stimmung zuhause am Ofen. Wer von der russischen Seele des winters nicht loskommt oder Erinnerungen geweckt bekommen hat: das alte DDR-Kinderbuch „Der Feuervogel. Russische Volksmärchen“ gibt es für 10 Euro überall noch antiquarisch.
– – –
WAHR
Simone Weil: Die Person und das Heilige, aus dem Französischen von Reiner Wimmer und Peter Weiß, Wien: 100 S., 18 €
Simone Weil (1908–1942), Philosophin, Anarchosyndikalistin, Lehrerin, Fließbandarbeiterin, aus jüdischer Familie stammende zuletzt christliche Mystikerin war wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt. Sie wurde nur 34 Jahre alt. Aus ihrem Nachlaß hat der Karolinger Verlag drei Texte neu herausgegeben, deren zentraler dem Band den Titel gibt: „Das Heilige und die Person“ (das fragmenthafte Gespräch mit Trotzki ist subtil respektlos und die Beschwörung des verlorenen Occitanien erinnert sehr an Jean Raspail). Simone Weil unterscheidet zwischen der „Person“ (von lat. personare: „hindurchtönen“ – durch seine Maske tönte nur die Stimme des griechischen Tragöden hindurch, er war nicht selbst, was er zu sein schien) und dem Heiligen.
Das hat Sprengkraft, denn was soll dann noch das Gerede von den „Menschenrechten der Person“, „freiem Austausch der Personen und der Waren“ und von „der Demokratie“? Alles leerer Schall. Solche Begriffe sind dem Guten völlig fremd, schreibt Weil. „Die Inspiration, aus der all diese Institutionen hervorgehen, deren Projektion sie gleichsam sind, verlangt eine andere Sprache.“ Diese Sprache ist fürchterlich ungewohnt für uns Bewohner der freiheitlich demokratischen Grundordnung, denn es handelt sich um Wörter wie Ehrfurcht, Demut, Gott und das Gute. Wer in Simone Weils Sprache hineinspringt, der wird argwöhnisch gegen die weltlichen Begriffe und wird hinaufgezogen zu den guten Begriffen. Es käme auf einen Sprungversuch an.
Monika
DIE ANDEREN ÜBER EUCH
"Durch einige Funde, einige intellektuelle Glanzlichter und durch eine inszenierte Lebensform schaffte es Schnellroda in die Feuilletons".
Harald Seubert
Donner - das sind mir drei Buchempfehlungen ! Ich dachte, ich hätte heute meine Weihnachtsbestellungen abgeschlossen. Da muß ich morgen nochmals anrufen.
Und ich folge mal wieder " der intellektuellen Patina",
in der Hoffnung, nicht enttäuscht zu werden :).
Die Maske will einfach nicht fallen ...