Es hat zwar im 20. Jahrhundert zahlreiche Staaten im Nahen Osten gegeben, aber es ist historisch gesehen den meisten islamischen Ländern nicht gelungen, einen nationalen Gedanken entwickeln zu können – und damit auch keinen Nationalstaat.
Eigentlich sind viele arabische Staaten im Nahen Osten, wie Syrien, Libanon und Irak ein fremder Import, welche nach dem ersten Weltkrieg durch die permanenten Interventionen der großen Mächte zustande gekommen sind und deren Staatsgrenzen von Fremden bestimmt wurden.
Dem Zerfall des osmanischen Reiches folgte eigentlich keine politische Einheit im arabischen Raum, wobei der spätere arabische Nationalismus im Nahen Osten von Anfang an ein gescheitertes Projekt war, der durch den Sechstagekrieg mit Israel besiegt wurde.
Eine Niederlage, wovon sich die Araber noch nicht erholen konnten. Seit dem Bürgerkrieg in Syrien 2011 sind die sunnitisch-arabischen Länder in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Im Rahmen des Staatsverfalls erscheinen anscheinend der Dschihadismus und das Asyl als einzig verbliebener Protest gegen diese Notlage.
Im Gegensatz dazu haben die Perser nach der islamisch-schiitischen Revolution 1979 einen Staat begründet, dem zwar keine Säkularisierung, nämlich die Trennung zwischen Religion und Politik, zugrunde lag, der aber die islamisch- schiitische Theologie zugunsten der Mobilisierung der Bevölkerung zur Herstellung politischer Einheit reformierte.
Die Iraner haben sich zwar in der Revolution 1979 gegen die Säkularisierung entschieden, aber diese Revolution verursachte die Reform des schiitischen Islams.
Seit Jahren irren sich jedoch die Westler, wenn sie die iranische Staatsform nur aufgrund deren theokratischer Attribute in der Verfassung verstehen wollen. Die iranische Rechtsordnung hat in dem Maß theokratische Elemente, wie die Staatsgründung von der schiitischen Theologie inspiriert ist.
Dennoch ist festzustellen, dass der schiitische Staat von den islamisch- schiitischen Symbolen und Werten gebraucht machte um eine souveräne Rechtsordnung zu begründen. Dabei ist auf Ayatollah Chomeinis Direktive vom 7. Januar 1988 hinzuweisen, wonach die Unantastbarkeit der Souveränität, die aus der Revolution 1979 entstand, ein so hochwertiges Rechtsgut ist, dass zu ihrer Erhaltung auch sonstige wichtige islamisch-schiitische Vorschriften im Notfall zurücktreten müssen.
Es gibt im Grunde in der politischen Philosophie zwei unterschiedliche Vorstellung von der Säkularisation. Der Charakter des säkularisierten Staates lässt sich zum einen dahingehend beschreiben, dass in ihm die Religion nicht mehr verbindliche Grundlage der staatlichen Ordnung ist.
Staat und Religion sind vielmehr grundsätzlich voneinander getrennt und der Staat als solcher hat und vertritt keine Religion. Die Rede von Säkularisierung ist insofern laut Hans Blumenberg in ihrer Möglichkeit bedingt durch diesen Vorgang, der zu allererst Weltlichkeit begründete.
Zum andern ist jedoch die Säkularisation einem Prozess ausgesetzt, wonach die Religion – und zwar die theologischen Konzepte – säkularisierte Ziele und Funktionen übernehmen, ohne sich unbedingt von der Politik strukturell trennen zu lassen.
In dieser Kategorie vertritt Carl Schmitt die Hypothese, dass die Neuzeit die Säkularisierung der theologischen Ideen ist. Von daher hat die Säkularisation zwei Bedeutungen: Weltlichkeit und Verweltlichung.
Die Weltlichkeit bedeutet, dass Staat und Religion voneinander grundsätzlich getrennt sind. Die Verweltlichung bedeutet hingegen die Säkularisierung der Heilsgeschichte, indem die Religion, nämlich die Transzendenz, säkulare Funktionen übernimmt.
Die Islamisch- Schiitische Revolution im Iran erlebt demzufolge die zweite Version der Säkularisation, in der die Religion als Zivilreligion sich in der Politik auflöst und nationale Funktionen übernimmt. Was bedeutet aber genau der Prozess der Säkularisierung im schiitischen Islam im Rahmen der islamisch- schiitischen Revolution 1979?
Ein Prozess, der eigentlich dem sunnitisch-arabischen Islam völlig fremd ist:
Der sunnitische Islam beruht auf einer rein monotheistischen Lehre, wonach die direkten Beziehungen zwischen den Gläubigen und Gott über die Scharia reguliert werden. Im Gegensatz dazu beruht der schiitische Islam auf einer Nachfolger-Lehre, wonach zwölf heilige Nachkommen des Propheten Muhammad die wahre Botschaft des Islams vermitteln sollten.
Demzufolge ist der Interpret der Scharia wichtiger als die Scharia an sich. Der zwölfte Nachfolger sei jedoch zu Gott aufgefahren bzw. abwesend und die Schiiten warten insofern eschatologisch auf dessen Wiederkehr. An diesem Punkt wurde der Weg der Reform teilweise versperrt, weil der legitime Interpret abwesend ist.
Die Nachfolger-Lehre hat sich jedoch nach der Revolution 1979 im Iran zu einer Stellvertreter-Lehre umstrukturiert, indem ein fehlbarer Stellvertreter des 12. heiligen verborgenen Nachfolgers die Herrschaft über die Schiiten beanspruchte. Ein Stellvertreter, der übrigens in der Tat nicht mehr ein Araber, sondern ein Perser ist!
Die Revidierung des schiitischen Islams mobilisierte im Grunde die Schiiten im Nahen Osten zugunsten des iranischen Staats, weil die religiös-politische Autorität nunmehr in den Händen des Staatsoberhauptes in Teheran als dem einzigen legitimen Stellvertreter der Religion liegt.
Diese neue Lehre ebnete u. a. den Weg für die rasche Reform der Religion (natürlich Reform nicht im liberalen Sinne, sondern eher in einem konservativ-nationalen Sinne), weil das legitime Staatsoberhaupt die neue Interpretation der Religion angesichts der aktuellen Herausforderungen in Anspruch nehmen darf.
Dieser Prozess der Umwandelung der Religion ist sicher nicht den schiitischen Klerikern in Teheran bewusst. Sie denken sicher, dass der Iran ein mit theologischen Missionen aufgeladener Gottesstaat ist. Im Endeffekt sehen wir doch, dass Iran einen neuen Aufstieg gegen die geschwächte arabische Welt mittels dem durch altpersischen Polytheismus beeinflussten Schiismus erlebt.
Der harte Konflikt zwischen Saudi-Arabien und der Islamischen Republik Iran symbolisiert von Anfang der iranischen Revolution bis heute hinein die Differenzen zweier unterschiedlicher Kulturräume, die sich in zwei hauptislamische Strömungen verkörpert haben.
Der Iran feiert allerdings seinen vierzigsten Jahrestag der islamisch-schiitischen Revolution, während er seit Jahren unter den harten Sanktionen der Amerikaner und teilweise der EU leidet. Dem Iran ist es dank des Atomabkommens bereits 2015 gelungen, die Front im Westen gegen sich aufzuspalten und den Druck etwas abzumildern.
Während Europa, Russland und China das Atomabkommen unterstützen, sind USA seit der Regierung Trumps und Israel gegen dieses Abkommen. Dabei bleibt die Frage, inwieweit Iran noch die Sanktionen angesichts der hohen Inflation und Arbeitslosigkeit durchhalten und sich vor der möglichen kriegerischen Konfrontation schützen könnte?
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Literaturhinweise: Carl Schmitt: Politische Theologie, Berlin 1990; Carl Schmitt: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1996; Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1996; Silvia Tellenbach: Zur Änderung der Verfassung der islamischen Republik Iran vom 28. Juli 1989, in: Orient 31/1990, S. 45–66.
Zum Autor: Dr. Seyed Alireza Mousavi, geboren im Iran, studierte Politikwissenschaft in seiner Heimat (BA und MA). Mousavi forscht insbesondere zum Staatsbewußtsein im schiitischen Islam; er analysierte u. a. die Präsenz der Konzeptionen Carl Schmitts in Ayatollah Ruhollah Chomeinis politischen Gedanken. Seine schmittianische Doktorarbeit über Die Globalisierung und das Politische kann hier erworben werden.
Niekisch
"ein fehlbarer Stellvertreter des 12. heiligen verborgenen Nachfolgers"
Dem Autor besten Dank für seinen eindringlichen Hinweis auf mein Wissensdefizit.
Und was Carl Schmitt angeht, so meine ich in seiner Verfassungslehre von 1928 (!) eine Stelle gefunden zu haben, in der er explizit den Staat für erledigt ansieht.