Wenn Migration das politische Thema des Jahrzehnts und der kommenden Jahrzehnte ist, so sind Identität und Fremdheit deren Metathema. Ein Buch (nach der Lektüre ist der Rezensent versucht zu sagen: das Buch) zum Thema Fremdheit im interkulturellen Zusammenhang wird nun nach 20 Jahren in erweiterter Neuausgabe neu präsentiert. Diese Neuerscheinung hat es in sich.
Der Autor ist angetreten, den Konstruktionskonstrukteuren mit ihren eigenen Mitteln einen ihrer Lieblingsbegriffe aus der Hand zu nehmen, die »Fremdheit«. Diese, so eine der Thesen des Buches, gebe es als holistischen Begriff gar nicht. Die Fremdheit des Ostasiaten in Europa sei etwas völlig anderes als in der umgekehrten Situation. Wer anderes behauptet, schlägt bloß zur Vereinfachung die völlig anderen Lebens- und Erfahrungswelten anderer Kulturen über seinen eigenen eurozentrischen Leisten. Gerade im Kontakt mit anderen Völkern zeigt sich, so legt Böckelmanns Material nahe, daß letzthin der westlich-rationalistische wissenschaftliche Werkzeugkasten nur selbst produzierte und dem Befragten eigentlich unverständliche Fragen beantwortet. Eine ernstzunehmende Annäherung scheint nur dem möglich, der voraussetzt, nichts wirklich zu verstehen.
Die Schärfe dieser argumentativen Klinge ist leicht erkennbar: wo Fremdheit nicht durchschaut werden kann, da liegt auch kein Standpunkt, von dem aus (z. B. eigene) Identität dekonstruiert werden könnte. Es fehlt dem Forscher beim besten Willen und aller Methodik ein authentischer Vergleichsmaßstab. Zur Verdeutlichung wertet der Autor in seiner Studie nicht nur Regale voller Literatur (für die Vergangenheit), sondern auch mehrere lange Gespräche mit in Deutschland lebenden Japanern, Chinesen und Westafrikanern (für die damalige Gegenwart) aus.
Die ethnographischen Berichte der Forschungsreisen offenbaren ebenso wie die Selbstauskünfte von Einwanderern über hunderte von Seiten die tragischen, bizarren und komischen Mißverständnisse und Mißverhältnisse derjenigen, die zwischen den Stühlen zu sitzen versuchen und es doch nie ganz vermögen – ein Panoptikum irritierender Fremdheitserfahrungen. Dabei ist in den verschiedenen Konstellationen des Aufeinandertreffens (»Weiße sehen Gelbe«, »Gelbe sehen Schwarze« usw.) ausgesprochen viel zu lernen und zu staunen. Wie kraß die rassische Ablehnung von Schwarzen in China und Japan ausfallen kann – wer weiß das? Daß Afrikaner höchst ungern in von Schwarzen geflogene Flugzeuge steigen? Oder daß Ostasiaten an den Weißen, die sie generell als »schön« empfinden, hauptsächlich der für sie unangenehme Geruch stört?
Wer Böckelmanns heutigen Stil kennt, wird überrascht sein, daß er sich in den 20 Jahren so gut wie nicht geändert hat; es ist ein ruhiges, doch nie träges, durch Argumente, nicht durch Rhetorik faszinierendes und belehrendes Dozieren im besten Sinne: »Schau, so schwer ist das nicht zu verstehen, aber ein bißchen den Kopf anstrengen mußt Du schon«. Wie nebenbei verfaßt er die Skizze einer Erscheinungslehre des Blickes, eine Stilkunde des Sich-Bewegens in fremden Ländern und fragt nach Rollen und Präsenzen im öffentlichen Raum. Und nicht zuletzt erhellt das Buch, warum die angeblich so fremdenverliebten Fremdheitsnegierer sich gesellschaftspolitisch so riskant verhalten. Gäbe es keine nicht individuell (ab)wählbaren Identifikationsmerkmale, so ließe sich mit dem Fremden auch das Eigene abschaffen. Böckelmanns Abstieg in die Psyche der Willkommensklatscher erhellt, warum diese blind sind für die gruppenbezogenen Merkmale orientalischer oder afrikanischer (und eben nicht skandinavischer oder ostasiatischer) Verbrecher: »Das deutsche Empfangspersonal nimmt an denen, die eintreffen, keinerlei körperliche und mentale Merkmale wahr, abgesehen vom pauschal unterstellten Merkmal der Hilfsbedürftigkeit.«
Das anschauliche und gedankenreiche Buch war und ist ein großer Wurf. Es gäbe der heutigen transkulturellen und Migrationsforschung, die sich hinter Arkansprache und Ideologie verschanzt, empirisches Brot statt Steinen. Zugeben wird sie das allerdings nicht.
Frank Böckelmann: Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen, Berlin: Edition Sonderwege 2018. 607 S., 34,80 - hier bestellen