Wie es Kaltenbrunner zu Lebzeiten gelungen war, sein auf das geistige Erbe Europas gerichtetes Okular in Form voluminöser Essaybände einer breiten Leserschaft zu öffnen, so ist seiner langjährigen Mitarbeiterin Magdalena S. Gmehling sowie dem Ares-Verlag zu verdanken, jenen Ariadnefaden, den Kaltenbrunner angesponnen hatte, anläßlich seines 80. Geburtstages wieder aufgenommen zu haben. Ganz im Sinne des Jubilars (1939 – 2011) scheint die Herausgabe dieser in zwei Bänden konzipierten Blütenlese – eine Einführung in rund 3000 Jahre europäischen Geistes – dem Anliegen gefolgt zu sein, dem heutigen Leser eine Wiederanknüpfung an die »aurea catena occidentis« zu ermöglichen. Denn so kann der virulenten Tendenz entgegenwirkt werden, den einst aktenkundig gewordenen Quellenreichtum unserer Überlieferung qua Musealisierung auszurangieren oder gar zur Verschlußsache zu erklären.
Taucht man in die gut 50 Essays ein, so erscheint einem der Autor als leidenschaftlicher Archäologe des Geistes, als spurensuchender Abenteurer in Permanenz. Und doch war er gleichzeitig ein enzyklopädischer Eremit, der kaum seine Bibliothek und seinen Garten verließ. Daß er dennoch die ausgedehntesten Reisen unternehmen konnte, lag an seiner Auffassung der Welt als »Globus des Geistes« und seiner Methode, mit Hilfe derer er ihn umsegelte: dem Zwiegespräch mit den Toten: »Die meisten, im Grunde sogar alle meiner Essays verdanken sich diesem Dialog«, so Kaltenbrunner.
Er entlarvte vielmehr jene dem »Eros der Ferne« verfallenen »Deserteure der europäischen Überlieferung«, »unfähig, die harte Disziplin europäischer Geistigkeit zu ertragen,« als die eigentlichen geistigen Stubenhocker. Euphorischer Exotismus, chronische »Exorrhö« als Ausdruck lethargiegeschuldeter Ausweitungssucht der eigenen Komfortzone, entspricht gerade jener kulturellen Dekadenzerscheinung, die Kaltenbrunner diagnostizierte und zu bekämpfen suchte. Die nun wieder zugänglich gemachten Reisenotizen des geistig weltreisenden Wanderphilosophen sind Ausdruck dieses Versuchs.
Kaltenbrunner führt den Leser durch ein geistiges Labyrinth aus unterirdischen, längst verschüttet geglaubten Geheimgängen und überirdischen, noch lange nicht zu Ende gedachten Gedankengängen. Als polyhistorischer »Chronotopograph« ertastet und vermißt er die Tiefendimensionen der Höhenflüge jener Riesen europäischer Geistesgeschichte, die im Kulturraum des christlichen Abendlandes, indem sie ihn durchschritten und durchlitten, ihre Spuren hinterlassen hatten. Diese Spuren und Hinterlassenschaften als Anatomie ihrer Schultern verstanden, können als jenes substanzspeisendes Fundament, als jenes geistige Erbgut begriffen werden, dessen schöpferischer Anverwandlung der Mensch heute bedarf, um sein kulturelles Immunsystem wieder kräftigen zu können.
Gerd-Klaus Kaltenbrunner hat die hierzu nötige Schatzkarte gezeichnet. Da solcherlei Schätze jedoch ungehoben bleiben, wenn sie nicht stets aufs Neue vergegenwärtigt werden, bleibt zu wünschen, daß sich möglichst viele Leser zu entsprechenden Expeditionen aufgerufen fühlen. Wer die Europa-Bände studiert, erfährt, auf welchem Fundament er steht und wem er seinen Standpunkt verdankt. Möge er diesen gerade dadurch um so starkmütiger vertreten können!
Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Vom Geist Europas. Ursprünge und Porträts. 2 Bände, Graz: Ares 2019. Je Band 384 S., à 29,90 € – hier bestellen